REICH:
MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS
WILHELM REICH
MASSENPSYCHOLOGIE
DES FASCHISMUS
ZUR SEXUALÖKONOMIE
DER POLITISCHEN REAKTION UND
ZUR PROLETARISCHEN SEXUALPOLITIK
VERLAG FÜR SEXUALPOLITIK 1933
KOPENHAGEN - PRAG - ZÜRICH
COPYRIGHT BY VERLAG FÜR SEXUALPOLITIK
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Franc Chrisllreu'i
8ogMJ«a KjbwtavnK.
VORREDE
Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere
Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an
Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgrün-
dendem, den alten Freiheitszielen der arbeiten-
den Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschis-
mus hat gesiegt und baut seine Positionen mit
allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch
kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich
aus. Aber der Kampf gegen das neuerstandene
Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik,
Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung,
für die natürlichen Rechte der arbeitenden und
schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeu-
tung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer
betroffenen Menschen, für die Beseitigung
dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung
wird weitergehen. Doch kommt es nicht nur
darauf an, dass er weitergeht, sondern in erster
Linie ob, wie und in welcher Zeit er zum Siege
des internationalen Sozialismus führen wird.
Die Formen, unter denen sich die Machter-
greifung des Nationalsozialismus vollzog, erteil-
ten dem internationalen Sozialismus eine unaus-
löschliche Lehre: dass die politische Reaktion
sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirk-
lichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern
nur durch Weckung echter revolutionärer Be-
geisterung, nicht mit bürokratisierten Partei-
Vorrede
apparaten \, sondern nur mit innerlich demokra-
tischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbei-
terorganisationen und überzeugten Kampftrup-
5Üc SS f n l3SSen WiTd - Sie kehrten uns,
dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich
suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Ent-
mutigung der Massen führt, wenn die eiserne
Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirk-
lichkeit enthüllt.
Jahrelange sexualärztliche und politische Ar-
beit innerhalb der Organisationen der Arbeiter-
schaft im besonderen ihrer Jugend, gab mir die
unerschütterliche Überzeugung, dass die Klasse,
die von den „gott gesandten" Führern des „dritten
Reiches als „Untermenschen" ins Joch ge-
spannt wird, in sich die Zukunft der Mensch-
heit birgt, weil sie mehr Kultur, Ehre, natür-
liche Sittlichkeit und Wissen um das lebendige
Leben enthält, als in allen Schmökern der bür-
gerlichen Moralphilosophie und in den Phrasen
der politischen Reaktion gefordert wird, frei-
lich eine andere Kultur, eine andere Ehre eine
andere Sittlichkeit, weil sie keine schmierige
Kehrseite in der Praxis hat.
Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden
gedruckt, enttäuscht, duldend sich verhalten ja
sogar wenn auch in guter Überzeugung, dem
Faschismus folgen, so besteht dennoch kein
Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive
Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhän
ger von der sozialistischen Mission des National-
sozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie
auch über Deutschland gebracht hat, ein mäch-
i!f er C ktlvposten für dIe sozialistische Zukunft
Man behindert die Entfaltung dieser geschieht-
*
r
Vorrede
liehen Kraft, wenn man die nationalsozialis-
tische Bewegung als ein Werk von Gaunern
und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in
ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler
ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die
Herrschaft des Grosskapitals verschärft; sub-
jektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker
des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv
begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der
Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich
trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse,
sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beab-
sichtigten, wenn man die nationalsozialistische
Führung mit alten, abgeschmackten Methoden
lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit uner-
hörter Energie und mit grossem Geschick Mas-
sen wirklich begeistert und dadurch die Macht
erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Tot-
feind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn
wir seine Stärken richtig einschätzen und
dies auch mutig aussprechen. Wir können bor-
nierte Methoden entbehren; plumpe Demagogie
ist immer ein Zeichen der theoretischen und
praktischen Schwäche und, weil sie nichts er-
zielt, objektiv konterrevolutionär. Was wir den
Millionen der Entmutigten und den anderen
sozialistisch fühlenden Millionen der noch be-
geisterten Nationalsozialisten zu sagen und zu
zeigen haben, ist, dass die Stärke der National-
sozialisten ihre Überzeugtheit von ihrer gött-
lichen Sendung war, dass es aber eine gött-
liche Sendung nicht gibt und nur kriegerischer
Imperialismus vorliegt; dass ihre militärischen
Organisationen glänzend sind, aber den Herein-
bruch des menschlichen Untergangs bedeuten
7
Vorrede
und andere Ziele zu verfolgen haben, diejeni-
gen, die der einfache SA-Mann selbst brennend
erstrebt: den Sturz des Kapitals; dass Hitler
vermeint, das Volk zu befreien, dass er aber ein
unerbittliches Schicksal gegen sich hat:
den Untergang des Kapitalismus, den wir wollen
und den er niemals bannen kann.
Womit wir die Massen zu erfüllen haben ist
die tiefe Überzeugung, dass es revolutionäre
Zentren gibt, die den Prozess der Jetztzeit auf-
merksam, ausgestattet mit dem Rüstzeug der
Wissenschaft, verfolgen, entschlossen, das viel-
besungene letzte Gefecht wirklich aufzunehmen,
wenn der Gang der Ereignisse sich wieder um-
kehrt, was sie schon jetzt mit allen Mitteln un-
terstützen. Der Kampfeswille der Jugend ist i n
Wirklichkeit auf unserer Seite; der Wille
der Jugend zur Lebensfreude wird die gewal-
tigste Kraft der Revolution sein.
Wer die Überzeugung von der wirklichen
sozialistischen Schlagkraft der werktätigen
Massen nicht hat und wer die positiv revolutio-
nären Kräfte, die im Nationalsozialismus ge-
bunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird
auch keine neue Praxis der Revolution ent-
wickeln können. Wer auch jetzt nicht durch
sauberste Anwendung der Sozialwissenschaft,
über die wir allein verfügen, zunächst theore-
tisch Herr über die gesellschaftliche Situation
wird und die Zeit, die ihm die Ebbe der Arbei-
terbewegung gibt, nicht voll ausnützt, wer sich
von leerem Optimismus zur fruchtlosen Arbeit
verurteilen lässt, hilft praktisch der politischen
Reaktion.
Die wissenschaftliche Erfassung auch der
8
Vorrede
brennendsten Geschehnisse ist darauf angewie-
sen, die unendlich vielen Fehlerquellen bei der
Anschauung der Dinge tunlichst auszuschalten;
sie arbeitet daher langsam und hinkt den Ereig-
nissen mächtig nach. Die Unterjochten verta-
gen jedoch von den wissenschaftlichen Arbei-
tern, dass sie ihre Forschung auf die aktuellen
Fragen konzentrieren. Die Wissenschaft ist der
Totfeind der politischen Reaktion. Der Wissen-
schaftler aber, der glaubt, durch Vorsicht und
„Unpolitischsein" seine Existenz zu retten und
durch die Verjagung und Einkerkerung auch der
Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt
wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernst ge-
nommen zu werden und später einmal am wirk-
lichen Neuaufbau der Gesellschaft mitzuwirken.
Seine Klagen und seine Kulturbesorgtheit sind
überzeugungslose Ergüsse, wenn er nicht aus
den Ereignissen erkennt, dass gerade seine
Wissenschaft, seine wissenschaftliche Kraft
denjenigen fehlt, auf die er in Zeiten des Zu-
sammenbruchs seine Hoffnung setzt. Sein Un-
politischsein ist ein Stück der Stärke der poli-
tischen Reaktion und seines eigenen Untergan-
ges gleichzeitig.
Wem die Ausführungen dieser Schrift ein-
leuchten sollten, der bedenke, dass die vorwarts-
t reibenden Kräfte der Geschichte zu einem gros-
sen Teile brachliegen, weil es an geschulten
Kräften fehlt und weil die Wissenschaftler in
ihrer akademischen Abgeschlossenheit verhar-
ren, sofern sie sich nicht gleichschalten lassen.
Wissenschaftliche Kritik dieser Arbeit ist er-
wünscht, aber nur solche, die nicht Theorien
über das menschliche Dasein am Schreibtisch
— ^-
•*
Vorrede
fabriziert, sondern ihre Anschauungen aus dem
wirklichen Leben der Menschen durch innigen
Kontakt mit ihnen schöpft, wie ich es zu tun
bestrebt war.
Diese Schrift entstand im Verlaufe des An-
wachsens der reaktionären Flut in Deutschland
in den Jahren 1930 bis 1933. Ihre Absicht ist,
der jungen, noch unentwickelten sexualpoli-
tischen Bewegung ein Stück theoretischer
Grundlage zu geben und einige der wichtigsten
praktischen Angriffspunkte aus dem sexual-
reformerischen Chaos herauszuschälen. Sie
knüpft an frühere Versuche, den Prozess der
Sexualökonomie unserer Gesellschaftsordnung
zu enthüllen, an; da aber dieser Prozess nur ein
Stück des gesamten gesellschaftlichen Gesche-
hens ist, greift die Untersuchung in die Fragen
der allgemeinen politischen Bewegung ein. Die
beabsichtigte Vollständigkeit, soweit sie in
wissenschaftlicher Arbeit überhaupt zu erzielen
ist, konnte infolge der politischen Ereignisse in
Deutschland nicht mehr angestrebt werden. Zu
warten, bis der wissenschaftlichen Pedanterie
Genüge getan war, schien mir in den Zeiten, die
wir gegenwärtig durchleben, unmöglich, zumal
wenig Aussicht bestand, in absehbarer Zeit das
mühsam gesammelte Material zu ersetzen, das
bei der Katastrophe verlorenging.
Ich habe mich bemüht, das schwierige Thema
so einfach wie möglich darzustellen, damit die
Schrift auch dem durchschnittlichen Arbeiter-
funktionär zugänglich wird. Ich weiss, dass es
mir nicht gut genug gelang.
Sollte die politische Reaktion sich für den
Inhalt dieser Schrift an der Psychoanalyse oder
10
Vorrede
ihren Vertretern revanchieren wollen, so würde
sie fehlgreifen. Freud und die Mehrheit sei-
ner Schüler lehnen die soziologischen Konse-
quenzen der Psychoanalyse ab und bemühen sich
sehr, den Rahmen der bürgerlichen Gesell-
schaft nicht zu überschreiten. Sie sind also
unschuldig daran und nicht verantwortlich,
wenn sich Politiker der wissenschaftlichen For-
schungsergebnisse der Psychoanalyse bedienen.
Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass nach
dem berühmten Wort die Waffe der Kritik die
Kritik der Waffen nicht ersetzen kann. Wenn
diese Schrift den schwierigen Weg zur Kritik
der Waffen abzukürzen in der Lage ist, wird
ihr Zweck erfüllt sein.
Im September 1933.
Wilhelm Reich
11
I. KAPITEL
Die Ideologie als materielle Gewalt
1. DIE SCHERE
Im Verlaufe der Monate seit der Machter-
greifung durch den Nationalsozialismus in
Deutschland konnte man sehr oft eine Feststel-
lung machen, von der wir ausgehen wollen. Es
zeigten sich Zweifel an der Richtigkeit der
marxistischen Grundauffassung des gesellschaft-
lichen Geschehens auch bei solchen, die durch
die Tat jahrelang ihre revolutionäre Festigkeit
bewiesen hatten. Diese Zweifel knüpfen an ei-
ner zunächst unverständlichen Tatsache an, die
nicht wegzuleugnen ist : Der Faschismus, seinen
objektiven Zielen und seinem Wesen nach der
extremste Vertreter der politischen und wirt-
schaftlichen Reaktion, wird seit mehreren Jah-
ren zu einer internationalen Erscheinung und
überflügelt in vielen Ländern sichtbar und un-
leugbar die proletarisch-revolutionäre Bewe-
gung. Dass sich diese Erscheinung in den hoch-
industriellen Ländern am stärksten ausprägt,
verschärft nur das Problem. Dem internationa-
len Erstarken des Nationalismus steht die Tat-
sache des Versagens der Arbeiterbewegung in
einer ökonomisch zur Sprengung der kapitali-
13
Die Ideologie als materielle Gewalt
»tischen Produktionsweise reif gewordenen
Phase der neuzeitlichen Geschichte gegenüber.
Dazu kommt die unauslöschliche Erinnerung an
das Versagen der Arbeiterinternationale beim
Ausbruch des Weltkrieges und das Ersticken
der revolutionären Erhebung 1918—1923 ausser-
halb Russlands. Die genannten Zweifel knüpfen
also an schwerwiegenden Tatsachen an; be-
stehen sie zurecht, ist die Marxsche Grundauf-
fassung unrichtig, dann bedarf es entschlosse-
ner Neuorientierung der Arbeiterbewegung,
wenn man ihr Ziel dennoch erreichen will ; be-
stehen aber die Zweifel nicht zurecht, ist die
Marxsche Grundauffassung richtig, dann bedarf
es gründlichster, vielseitiger Analyse sowohl
der Ursachen des bisherigen Versagens der Ar-
beiterbewegung, als auch — und dies vor allem
— einer restlosen Klärung der in der Geschich-
te neuartigen Massenbewegung des Faschismus,
aus der sich eine neue Praxis ergeben würde.
Auf keinen Fall ist auf eine Aenderung der
gegenwärtigen Lage zu hoffen, wenn der Nach-
weis nach der einen oder anderen Richtung
nicht gelingen sollte. Es ist klar, dass weder
ein Appellieren an das revolutionäre Klassen-
bewusstsein der Arbeiterschaft, noch die heute
mit Vorliebe betriebene Methode ä la Coue, die
Niederlagen verschleiert und gewichtige Tat-
sachen durch Illusionen verhüllt, zum Ziele füh-
ren kann. Auch ein Sichbescheiden mit der Tat-
sache, dass auch die Arbeiterbewegung „vor-
wärtsgeht", dass hier und dort gekämpft"und
gestreikt wird, wäre illusionär, denn nicht, dass
es vorwärtsgeht, ist entscheidend, sondern in
welchem Tempo im Verhältnis zum internatio-
14
•
Die Schere
nalen Erstarken und Vorwärtsschreiten der po-
litischen Reaktion.
Die junge sexualpolitische Bewegung ist an
gründlichster Klärung dieser Fragen nicht nur
deshalb interessiert, weil sie ein Teil des so-
zialen Befreiungskampfes überhaupt ist, son-
dern vor allem auch deshalb, weil die Er-
reichung ihrer Ziele unlösbar an die Erreichung
der wirtschaftspolitischen Ziele der Arbeiter-
bewegung geknüpft ist. Wir wollen daher von
der sexualpolitischen Seite der Arbeiterbe-
wegung her darzulegen versuchen, wo sich die
speziellen sexualpolitischen mit den allgemei-
nen Fragen der Politik verflechten.
In manchen deutschen Versammlungen pfleg-
ten kluge, ehrlich gesinnte, wenn auch nationali-
stisch und metaphysisch denkende Antikapitali-
sten wie etwa Otto Strasser den Marxisten ent-
gegenzuhalten : „Ihr Marxisten pflegt euch auf
die Lehre von Karl Marx zu berufen. Wie wir
aber wissen, hat Marx gelehrt, dass sich die
Theorie nur durch die Praxis bestätige. Ihr aber
kommt immer nur mit Erklärungen für die Nie-
derlagen der Arbeiterinternationale. Euer Marx-
ismus hat versagt: Für die Niederlage 1914 dien-
te als Erklärung der Umfall der Sozialdemokra-
tie, für 1918 ihre verräterische Politik und ihre
Illusionen. Und nun habt ihr wieder Erklärun-
gen zur Hand für die Tatsache, dass die Massen
in der Weltkrise statt nach links nach rechts ab-
schwenkten. Aber eure Erklärungen schaffen die
Tatsache der Niederlage nicht aus der Welt!
Wo bleibt seit 80 Jahren die Bestätigung der
Lehre von der sozialen Revolution durch die
Praxis? Euer Grundfehler ist, dass ihr die Seele
15
Die Ideologie als materielle Gewalt
und den Geist leugnet oder verlacht und ihn,
der alles bewegt, nicht begreift." So oder ähn-
lich argumentierten sie und die marxistischen
Referenten wussten keine geeignete Antwort auf
derartige Fragen. Es wurde immer klarer, dass
die politische Massenpropaganda, wenn sie sich
nur auf die Erörterung der objektiven sozial-
ökonomischen Krisenprozesse (kapitalistische
Produktionsweise, wirtschaftliche Anarchie,
etc.) bezog, ausser der Minderheit der bereits in
der linken Front Eingereihten niemand erfasste,
dass die Herausstellung der materiellen Not, des
Hungers der Massen, nicht genügte, denn das
tat jede politische Partei, sogar die Kirche; und
schliesslich siegte die Mystik der Nationalsozia-
listen in tiefster Krise und Verelendung über
den wissenschaftlichen Sozialismus. Man musste
sich also sagen, dass es offenbar eine klaffende
Lücke in der Propaganda und in der Gesamtauf-
fassung gab, aus der sich die politischen Fehler
der kommunistischen Partei erklären Hessen;
man konnte auch feststellen, dass es sich um
Mängel in der marxistischen Erfassung der poli-
tischen Wirklichkeit handelte, zu deren Behe-
bung in der Methode des dialektischen Materia-
lismus alle Voraussetzungen enthalten waren.
Diese Möglichkeiten waren aber unausgenützt
geblieben, die marxistische Politik hatte, um es
kurz vorwegzunehmen, die Psychologie der Mas-
sen und die soziale Wirkung des Mystizismus in
ihre Kalkulationen und ihre politische Praxis
nicht oder unrichtig einbezogen.
Wer die Theorie und Praxis des Marxismus
der letzten Jahre in der revolutionären Linken
verfolgte und praktisch miterlebte, musste fest-
16
Die Schere
stellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven
Prozesse der Wirtschaft und auf die engere
Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenann-
ten „subjektiven Faktor*' der Geschichte, die
Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und
ihren Widersprüchen weder aufmerksam ver-
folgte, noch erfasste ; sie unterliess es vor allem,
die Methode des dialektischen Materialismus
immer neu anzuwenden, immer lebendig zu er-
halten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung
mit dieser Methode neu zu erfassen. Die An-
wendung des dialektischen Materialismus auf
neue historische Erscheinungen (und der Fa-
schismus ist eine derartige Erscheinung, die we-
der Marx noch Engels bekannt war und von Le-
nin erst in ihren Anfängen gesichtet wurde)
kann zu keiner falschen Praxis führen; aus einem
sehr einfachen, bisher schwer vernachlässigten
Grunde: Die bürgerliche Erfassung der Wirk-
lichkeit geht an ihren Widersprüchen und realen
Verhältnissen vorbei ; die bürgerliche Praxis der
Politik bedient sich automatisch derjenigen
Kräfte der Geschichte, die sich gegen die Ent-
wicklung stemmen; sie kann dies erfolgreich
nur solange tun, als die revolutionäre Wissen-
schaft nicht diejenigen Kräfte restlos aufdeckt,
die jenen gegenübergestellt, sie überwinden
müssen. Wie wir später darlegen werden, waren
in der Massenbasis des Faschismus, im rebellie-
renden Kleinbürgertum, nicht nur die rückwärts-
treibenden, sondern auch ganz energisch vor-
wärtstreibende Kräfte der Geschichte in Er-
scheinung getreten; dieser Widerspruch wurde
übersehen, mehr, die ganze Frage der Rolle des
Kleinbürgertums stand bis knapp vor der Macht -
2 17
Die Ideologie als materielle Gewalt
ergreifung durch Hitler überhaupt nicht im
Vordergrunde der Diskussion, und wenn hier
und da, so einseitig, mechanistisch. Die revolu-
tionäre Praxis auf jedem Gebiete des menschli-
chen Daseins ergibt sich automatisch, wenn man
die Widersprüche in jedem neuen Prozess er-
fasst; sie besteht dann in nichts anderem als
darin, dass man sich auf die Seite derjenigen
Kräfte stellt, die in der Richtung der vorwärts-
strebenden Entwicklung wirken, und ihnen zur
Bewusstwerdung durch praktische Bewältigung
verhilft. Radikal sein, heisst „die Dinge an der
Wurzel fassen", sagte Karl Marx; fasst man die
Dinge an der Wurzel, begreift man ihren wider-
spruchsvollen Prozess, dann ist die revolutio-
näre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so
landet man, ob man will oder nicht, ob man sich
dialektischer Materialist nennt oder nicht, im
Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der
Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise
ein falsche Praxis. Eine Kritik dieser falschen
Praxis hat demnach nur dann einen Sinn und
praktischen Wert, wenn sie in der Lage ist nach-
zuweisen, wo die Widersprüche der Wirklich-
keit übersehen wurden. Die marxsche revolutio-
näre Tat bestand nicht darin, dass er irgendwel-
che Aufrufe schrieb oder revolutionäre Ziele
wies, sondern in der Hauptsache darin, dass er
das Proletariat als die vorwärtsdrängende Kraft
der Geschichte erkannte und die Widersprüche
der kapitalistischen Wirtschaft der Wirklich-
keit entsprechend darstellte, so dass heute jeder
wissen kann, welche wirtschaftlichen Kräfte
vorwärts drängen und welche sich dagegen an-
stemmen. Wenn die Arbeiterbewegung versagte,
18
Die Schere
so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärts-
entwicklung aufhalten, nicht restlos, wahr-
scheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht
erkannt sein.
Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlich-
stes Kennzeichen ist, die dialektisch-materiali-
stische Methode praktisch durch Nichtanwen-
dung zu negieren, musste daher zur Auffassung
gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen
Ausmasses wie die 1929—1933 notwendigerweise
zu einer ideologischen Linksentwicklung der
betroffenen Massen führen müsse. Während so-
gar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von
einem „revolutionären Aufschwung" in Deutsch-
land gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit,
dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwar-
tung nach eine Linksentwicklung der Ideologie
der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu ei-
ner extremen Rechtsentwicklung in der Ideolo-
gie der proletarisierten Schichten und derjeni-
gen, die in tieferes Elend als bisher versanken,
geführt hatte. Es ergab sich eine Schere zwi-
schen der Entwicklung in der ökonomischen Ba-
sis, die nach links drängte, und der Entwicklung
der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts
erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und
weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage
nicht gestellt werden, wie ein Nationahstisch-
werden der breiten Masse in der Paupensierung
möglich ist. Mit Worten wie „Chauvinismus ,
„Psychose", „Folgen von Versailles", lässt sich
etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Ver-
elendung rechtsradikal zu werden nicht prak-
tisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht
wirklich erfasst. Zudem waren es ja nicht nur
19
Die Ideologie als materielle Gewalt
Kleinbürger, sondern breite und nicht immer
die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach
rechts abschwenkten. Man übersah, dass die
Bourgeoisie, gewarnt durch den Erfolg der rus-
sischen Revolution, zu neuen, noch nicht ver-
standenen, von der Arbeiterbewegung unanaly-
sierten, sehr merkwürdigen Vorbeugungsversu-
chen greift (etwa der Roosevelt-Plan) ; man
übersah, dass der Faschismus in seinem Ansatz
und im Beginne seiner Entwicklung zur Mas-
senbewegung sich zunächst gegen die Grossbour-
geoisie richtet und als „nur eine Garde des Fi-
nanzkapitals" nicht erledigt werden kann, schon
deshalb nicht, weil er eine Massenbewegung ist.
Wo hegt das Problem?
Die Marxsche Grundkonzeption erfasste zu-
nächst die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft
und die prozesshafte, notwendige Konzentra-
tion des Kapitals in wenigen Händen, mit der
die fortschreitende Verelendung der Mehrheit
der arbeitenden Menschheit, des Proletariats in
erster Linie, Hand in Hand geht. Aus diesem
Prozess leitete Marx die objektive Notwendig-
keit der „Expropriation der Expropriateure" ab
Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesell-
schaft sprengen den Rahmen der Produktions-
weise, der Widerspruch zwischen gesellschaft-
licher Produktion und privater Aneignung der
Produkte durch das Kapital kann nur durch die
Angleichung der Produktionsweise an den Stand
der Produktivkräfte gelöst werden. Zur gesell-
schaftlichen Produktion muss die gesellschaftli-
che Aneignung der Erzeugnisse hinzukommen
Der erste Akt dieser Angleichung ist die soziale
Kevolution; das ist das ökonomische Grund-
20
Die Schere
prinzip des wissenschaftlichen Sozialismus. Die-
se Angleichung kann nur so erfolgen, dass die
verelendete Mehrheit die „Diktatur des Prole-
tariats" errichtet, als Diktatur der Mehrheit der
Schaffenden über die Minderheit der nunmehr
enteigneten Besitzer der Produktionsmittel. Die
ökonomischen Voraussetzungen der sozialen Re-
volution trafen entsprechen der Theorie von
Marx zu: Das Kapital ist in wenigen Händen
konzentriert, die Entwicklung der Nationalwirt-
schaft zur Weltwirtschaft steht in schärfstem
Widerspruch zum Zollsystem der nationalen
Staaten, die kapitalistische Wirtschaft erreicht
die Produktionskapazität kaum zur Hälfte und
hat ihre Anarchie restlos enthüllt, die Mehrheit
der Bevölkerung der hochindustriellen Länder
ist verelendet, etwa 50 Millionen Menschen sind
arbeitslos, Hunderte Millionen Schaffender fri-
sten ein Hungerdasein. Aber die Expropriation
der Expropriateure bleibt aus, und die Geschich-
te scheint, im Gegensatz zu den Erwartungen,
sich am Scheidewege zwischen Sozialismus und
Barbarei zunächst in der Richtung zur Barbarei
hinzubewegen, denn nichts anderes ist das inter-
nationale Erstarken des Faschismus und das Zu-
rückbleiben der Arbeiterbewegung. Und wer
noch eine Hoffnung auf einen revolutionären
Ausgang des kommenden Weltkrieges mit „Si-
cherheit" setzt, wer sich sozusagen darauf
yerlässt, dass die Massen die Waffen, die sie
in die Hand bekommen, gegen den inneren
Feind wenden werden, der möge zumindest die
Entwicklung der neueren Kriegstechnik verfol-
gen und nicht von vornherein einen kürzlich aus-
gesprochenen Gedankengang verwerfen, dass die
21
Die Ideologie als materielle Gewalt
Bewaffnung der breiten Masse im nächsten
Kriege sehr unwahrscheinlich ist. Die krie^er?
sehen Handlungen würden sich dieser Äuffas"
sung nach gegen die unbewaffneten Masten der" -
grossen Industriezentren richten und von wen; I
gen sehr verglichen und ausgesuchten KrTegs-
unÄ"? durch g efüh " werden. Im Denken
etzu^ - egEn UmzuI< ™ »<* daher die Voraus"
etzung einer neuen sozialistischen Praxis
s
2. ÖKONOMISCHE UND IDEOLOGISCHE
STRUKTUR DER GESELLSCHAFT
me A rkwürd^ Ser % A u UffaSSUng VOn der zunächs *
KZh& , >? zwischen ökonomischer
IrtfrÄ Ide ° lo g'e °er proletarischen und pro-
Macht "n ^ a ! S f n '., die dem Faschismus zur
Macht in Deutschland verhalfen, richtig ist so
— r 7 f t* Hi]fe uns " er diafek^ch-
iTandelt liA SChen - Meth ° de erfassen könn ™. Es
fM gewiss T, die Fra s e nach d " Rol-
.♦.11 Id . e . olo 8 I « und der gefühlsmässigen Ein-
or um d;:T M t aSS \ n 3,S ««chichtlicfen Fak-
tors, um die Ruckwirkung der Ideologie auf die
ökonomische Basis. Wenn die materielle V«?
elendung breiter Massen nicht zu einer Revolu-
lonierung im Sinne der proletarischen Revolu-
tion gefuhrt hat, wenn sich aus der Krise ob
jektiv gesehen der Revolution konträre Ideolo-
Idtnl^ T ^ en ' S ° hat die Entwicklung der
Ideologie der Masse in den letzten Jahren die
Entfaltung der Produktivkräfte, dierevolutio!
nare Losung des Widerspruchs zwischen den
Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft
Produktivkräften des monopolistischen Kapita-
lismus und seiner Produktionsweise gehemmt.
Die Klassengliederung in Deutschland (nach
Kunik: „Versuch einer Feststellung der sozia-
len Gliederung der deutschen Bevölkerung",
„Die Internationale" 1928,zusammengestellt von
Lenz: „Proletarische Politik", Internationaler
Arbeiterverlag 1931) enthüllt folgendes Bild:
Erwerbstätige m. Familien-
i. Taus, angeh. i. Mill.
Proletarier 21,789 40,7
Stadt. Mittelstand 6,157 10.7
Klein- und Mittelbauern 6,598 9,0
Bourgeoisie (einschl. d. Grund-
besitzer u. Grossbauern) ... 718 2,0
Bevölkerung (ohne Kinder L
und Hausfrauen) 34,762 Ges. 62,4
Schichten des Proletariats: i. Taus.
Arbeiter in Industrie, Verkehr, Handel etc.... 11,826
Landarbeiter 2,607
Heimarbeiter 138
Hausangestellte 1,326
Sozialrentner 1,717
Untere Angestellte (bis 250 Mark monatl.) ... 2,775
Untere Beamte (-+- Pensionierte) 1,400
21,789
Schichten des städtischen Mittelstandes:
Untere Schichten der Kleingewerbetreibenden
(Heimgewerbe, Pächter, Alleinbetriebe und
Betriebe bis zu zwei Beschäftigten) 1,916
Kleingewerbetreibende mit drei und mehr
Beschäftigten 1,403
Höhere Angestellte und Beamte 1,763
Freie Berufe und Studenten 431
Kleinrentner und Kleinbesitzer 644
6,157
23
Die Ideologie als materielle Gewalt
Mittelschichten auf dem Lande: : Ta „ B
Kleinbauern und Pächter (bis zu u,t,j\ i aus *
Mittelbauern (5-50 ha) ... Land) '" *£%%
Di z"h 1 ung h, 1 e 9 25. entSPreChen d " B -ölk e ru„ g s- W98
H.V i Ä e u» aber ' daS fflÜSSen wir festhalten, nur
iL f Un ? . naCh der sozialökonomischen
df/eini %' n ' Cht d l e ideol °g isc he Schichtung,
a tn , f', 15 *' Sorialökonomisch umfasste
also Deutschland 1925:
BS32S :::::: ^ ' *%^
stStt fei? 2f sieht die *^*—
Pr Arh£ SCh T ^ oll «ktive Produktion;
« f et . c * " nd Landarbeiter) 14 4« lumi
Kleinbürgerlich jJJJf JJ ill.
Heimarbeiter (individuelle ' MlU '
Produktion) 13g T
Hausangestellte (Erfahrun-"
gen bei Hauspropaganda) 1,326 T
Sozialrentner .... 17l7 ™
Untere Angestellte (Erfahl" '
rung aus Grossbetrieben,
z. B. „Nordstern", Berlin) 2.775 T
Untere Beamte (z. B. Steuer-
revisoren, Postbeamte) ... 1,400 T.
7,356 T. (von ökono-
Städti scher Mittelstand «STT ProIetariern >
-Landlicher Mittelstand 6,598 T.
20,111 T.
24
Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft
Wieviele Mittelständler auch Linksparteien
und umgekehrt Proletarier Rechtsparteien ge-
wählt haben mögen, so fällt doch auf, dass die
von uns errechneten Zahlen der ideologischen
Schichtung ungefähr mit den Wahlziffern 1932
übereinstimmen: Kommunisten und Sozialdemo-
kraten umfassten zusammen zuletzt 12 bis 13
Millionen Stimmen, die NSDAP und die
Deutschnationalen zusammen etwa 19 bis 20
Millionen. Das spricht dafür, dass praktisch-
politisch nicht die wirtschaftliche, sondern die
ideologische Schichtung entschieden hat. Dem
Mittelstand kommt somit eine höhere Bedeu-
tung zu, als ihm beigemessen war.
In die Zeit des rapiden Niedergangs der
deutschen Wirtschaft 1929—1932 fällt der grosse
Sprung der NSDAP von 800.000 Stimmen im
Jahre 1928 auf 6,4 Millionen im Herbst 1930,
13 Millionen im Sommer 1932 und 17 Millionen
im Januar 1933. Nach einer Berechnung von
Jäger („Hitler", „Roter Aufbau", Oktober 1930),
die ich auf ihre Genauigkeit nicht überprüfen
konnte, enthielten bereits die 6,4 Millionen na-
tionalsozialistischen Stimmen etwa drei Millio-
nen ökonomisch-proletarische, und zwar 60 — 70%
Angestellte und 30—40% Arbeiter.
Das Problematische des jüngsten soziologi-
schen Prozesses erfasste meines Wissens am
klarsten Karl Radek schon im Jahre 1930 nach
dem ersten Aufschwung der NSDAP; er
schrieb :
„Nichts ähnliches ist in der Geschichte des politi-
schen Kampfes bekannt, besonders in einem Lande mit
alter politischer Differenzierung, wo jede neue Partei
sehr schwer einen Platz an dem durch die alten Par-
25
Die Ideologie als materielle Gewalt
teien besetzten Tische erkämpfen muss. Es gibt nichts
charakteristischeres, als dass über diese Partei, die
den zweiten Platz im deutschen politischen Leben
einnimmt sowohl in der bürgerlichen wie in der so-
zialistischen Literatur nichts gesagt worden ist. Das
ist eine Partei ohne Geschichte, die sich plötzlich im
politischen Leben Deutschlands emporhebt, wie plötz-
lich mitten im Meer durch die Wirkung vulkanischer
Kräfte ein Eiland emportaucht."
(„Deutsche Wahlen", Roter Aufbau. Okt. 1930).
Wir zweifeln nicht daran, dass auch dieses
Eiland seine Geschichte hat und über eine in-
nere Logik verfügt.
Die Entscheidung in der Alternative: „Unter-
gang in der Barbarei", oder: „Aufstieg zum
Sozialismus", liegt, nach allem, was die Ueberle-
gung bisher ergibt, daran, ob sich die ideologi-
sche Struktur der beherrschten Schichten nach
ihrer ökonomischen Lage ausrichtet, oder ob
sie auseinanderfallen; sei es in der Form, dass
die Ausbeutung passiv geduldet wird, wie in
den grossen asiatischen Gesellschaften, sei es
in der Form, dass die Ideologie der Mehrheit
der Unterdrückten der ökonomischen Lage kon-
trär ist wie heute in Deutschland.
Das Grundproblem ist also, was das beschrie-
bene Auseinanderfallen bedingt bezw. den Zu-
sammenklang von wirtschaftlicher Lage und
Ideologie verhindert.
Es kommt also auf die Erfassung des Wesens
der ideologischen Struktur und ihrer Bezie-
hung zur ökonomischen Basis, der sie entsprang,
Um dies zu begreifen, müssen wir uns zu-
nächst von einigen vulgärmarxistischen Auffas-
sungen befreien, die den Weg zum Verständnis
26
Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft
des Faschismus versperren. Es sind im wesent-
lichen folgende:
Der Vulgärmarxismus trennt schematisch
das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche
Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet,
dass die Ideologie und das „Bewusstsein" der
Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein
und unmittelbar bestimmt werden. So gelangt
er zu einer mechanischen Gegenüberstellung
von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und
Ueberbau; er macht die Ideologie schematisch
und einseitig abhängig von der Wirtschaft und
übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung
der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem
Grunde ist ihm das Problem der sogenannten
„Rückwirkung der Ideologie" verschlossen
Obwohl er nun vom „Zurückbleiben des subjek-
tiven Faktors", wie ihn Lenin verstand, spricht,
kann er dieses Zurückbleiben nicht praktisch
bewältigen, weil er ihn früher aus der wirt-
schaftlichen Situation einseitig hervorgehen
Hess, ohne erstens die Widersprüche der Oeko-
nomie in der Ideologie aufzusuchen, und zwei-
tens ohne die Ideologie als geschichtliche Kraft
zu erfassen.
In der Tat sträubt er sich gegen die Er-
fassung der Struktur und Dynamik der Ideolo-
gie, indem er sie als „Psychologie", die un-
marxistisch sei, abtut, und überlässt die Hand-
habung des subjektiven Faktors, des sogenann-
ten „Seelenlebens" in der Geschichte, dem me-
taphysischen Idealismus der politischen Reak-
tion, den Gentile und Rosenberg, die den
„Geist" und die „Seele" allein Geschichte ma-
chen lassen, womit sie merkwürdigerweise sogar
27
Die Ideologie als materielle Gewalt
Erfolg haben. Die Vernachlässigung dieser Seite
des historischen Materialismus ist ein Vorgehen,
das Marx seinerzeit prinzipiell schon am Ma-
terialismus des 18. Jahrhunderts kritisierte. Dem
Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein
von vornherein metaphysisches System und er
denkt nicht daran, den metaphysischen Charak-
ter der bürgerlichen Psychologie von ihren
materialistischen Grundelementen, die die bür-
gerliche psychologische Forschung erbringt und
die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen.
Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben,
und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsa-
chen wie „Trieb", „Bedürfnis" oder „seelischer
Prozess" als „idealistisch" verwirft. Er gerät
dadurch in grösste Schwierigkeiten und erntet
nur Miserfolge, weil er gezwungen ist, in der
politischen Praxis unausgesetzt praktische Psy-
chologie zu betreiben, von den Bedürfnissen
der Massen, von revolutionärem Bewusstsein,
vom Streikwillen etc. zu sprechen. Je mehr er
nun die Psychologie leugnet, desto mehr be-
treibt er selbst metaphysischen Psychologis-
mus und schlimmeres, wie öden Coueismus, etwa
indem er eine historische Situation aus der „Hit-
lerpsychose" erklärt oder die Massen tröstet, sie
sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz
alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht
niederringen u. s. f. Er versinkt schliesslich
darin, illusionär Mut einzupumpen, ohne in
Wirklichkeit etwas sachliches zur Situation zu
sagen, ohne zu begreifen, was vorgegangen ist.
Dass es für die Bourgeoisie nie eine ausweglose
Situation gibt, dass eine scharfe ökonomische
Krise ebensogut zum Sozialismus wie in die
28
Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft
Barbarei führen kann, muss ihm als Problem
ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Statt aus
der Wirklichkeit Gedanken und Tat abzuleiten,
formt er die Wirklichkeit in der Phantasie so
um, wie es seinen Wünschen entspricht.
Die dialektisch-materialistische Psychologie
kann nichts anderes sein als die Forschung nach
diesem subjektiven Faktor der Geschichte, nach
der ideologischen Struktur der Menschen einer
Epoche und der ideologischen Struktur der Ge-
sellschaft, die sie bilden. Sie stellt sich nicht
wie die bürgerliche Psychologie und die psy-
chologistische Oekonomie der Marxschen So-
ziologie gegenüber, indem sie ihr eine „psycho-
logische Auffassung" des Gesellschaftlichen
entgegensetzt, sondern sie ordnet sich ihr, die
das Bewusstsein aus dem Sein ableitet, an einer
ganz bestimmten Stelle unter und ein.
Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle
(das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in
Bewusstsein) umsetzt, und nicht ursprünglich
umgekehrt, lässt zwei Fragen offen: erstens,
wie das geschieht, was dabei „im Menschen-
kopfe" vorgeht, zweitens wie das so entstandene
Bewusstsein (wir werden von nun an von psy-
chischer Struktur sprechen) auf den ökonomi-
schen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt
die analytische Psychologie aus, indem sie den
Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt,
der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und
somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst.
Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe.
Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klas-
sengesellschaft oder die kapitalistische Produk-
tionsweise erklären (sofern sie solches versucht,
29
Die IdeoI °&ie als materielle Gewalt
kommt regM„i g reaktionärer Unsinn heraus,
S^S ÄÄ e ausschal -
Sie knüpft dabei an Marx selbst an:
^ÄfidÄI denen wir ^einnen, sind
Voraussetzungen v„nj Do S men < « s sind wirkliche
düng abstrahlen kann Fe" TJ* - in der EinbiI -
£%SS SH^ «e^eoet
Produkt^ frtelSÄ^^^ .T"* 11 «'
auf sie einwirken." (Theorien &££*&&"*
f-rw,- .V'" uc , r oestimmend
(Theorien über den Mehrwert
1905, I, S. 388 f).
Wir sagen also keine Neuigkeiten und ra-
dieren nicht Marx, wie wir sicher zu hören he"
kommen werden: „Alle menschlichen %&£.
Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft
nisse" — dazu gehören die Verhältnisse des Ar-
beitsprozesses ebenso wie die persönlichsten und
privatesten und die höchsten Sublimierungen
des menschlichen Trieblebens und Denkens, also
auch etwa das Geschlechtsleben der Frauen und
Jugendlichen und Kinder ebenso wie der Stand
der marxistischen Forschung über diese Verhält-
nisse und ihre Anwendung auf neue gesellschaft-
liche Fragen. Hitler vermochte mit einer be-
stimmten Art dieser menschlichen Verhältnisse
Geschichte zu machen, die durch Verlachen
E£ ke^eS "f ™ f**" ist " wÄS
Marx keine Sexualsoziologie entwickelt hat und
nicht entwickeln konnte, weil es damals keine
Sexualwissenschaft gab, so kommt es darauf an
nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch
diese Verhältnisse in das Gebäude des histor"
sehen Materialismus einzubauen, die Hegemonie
der Mystiker und Metaphysiker über dieses
Gebiet zu zerstören.
Wenn eine Ideologie auf den wirtschaftlichen
Prozess ruckwirkt, muss sie zu einer materiellen
Kraft geworden sein. Wenn eine Ideologie zur
materiellen Kraft wird, sobald sie Massen er-
greift, so müssen wir weiter fragen: Auf wel-
chem Wege geschieht das? Wie wird die ma-
terielle Auswirkung eines ideologischen Tat-
bestandes möglich, also etwa einer Theorie, die
geschichtsumwälzend wirkt? Die Antwort auf
diese Frage muss gleichzeitig die Antwort auf
die Frage nach der Praxis der Massenpsycholo-
gie sein.
Die Ideologie jeder gesellschaftlichen Forma
tion hat nicht nur die Funktion, den ökonomi-
schen Prozess dieser Gesellschaft zu spiegeln,
31
SSS3BS
Ti
Die Ideologie als materielle Gewalt
sondern vielmehr auch die, ihn in den psychi-
schen Strukturen der Menschen dieser Gesell-
schaft zu verankern. Die Menschen unterliegen
ihren Seinsverhältnissen auf doppelte Art: di-
rekt der unmittelbaren Einwirkung ihrer öko-
nomischen und sozialen Lage, und indirekt ver-
mittels der ideologischen Struktur der Gesell-
schaft; sie müssen also immer einen Wider-
spruch in ihrer psychischen Struktur ent-
wickeln, der dem Widerspruch zwischen der
Einwirkung durch ihre materielle Lage und der
Einwirkung durch die ideologische Struktur
der Gesellschaft entspricht. Der Arbeiter etwa
ist sowohl seiner Klassensituation wie der all-
gemeinen Ideologie der bürgerlichen Gesell-
schaft ausgesetzt. Indem die Menschen der ver-
schiedenen Schichten aber nicht nur Objekte
dieser Einwirkungen sind, sondern sie auch als
tätige Subjekte reproduzieren, muss ihr Denken
und Handeln ebenso widerspruchsvoll sein, wie
die Gesellschaft, der es entspringt. Indem aber
eine Ideologie die psychische Struktur der Men-
schen verändert, hat sie sich nicht nur in diesen
Menschen reproduziert, sondern was bedeutsa-
mer ist, sie ist in Gestalt des derart konkret
veränderten und infolgedessen verändert und
widerspruchsvoll handelnden Menschen zur ak-
tiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden.
Auf diese Weise wird die Rückwirkung der
Ideologie einer Gesellschaft auf die ökonomi-
sche Basis, der sie entsprang, möglich, und nur
auf diese Weise. Die „Rückwirkung" verliert
ihren anscheinend metaphysischen oder psycho-
logistischen Charakter, wenn sie in ihrer ma-
teriellen Gegebenheit als psychische Struktur
32
te
Ökonom, u. ideolog. Struktur d. Gesellschaft
des handelnden Menschen erfasst werden kann.
Als solche ist sie dann Objekt der naturwissen-
schaftlichen, d. h. marxistischen Psychologie.
Die Feststellung, dass sich die Ideologie
langsamer umwälzt als die ökonomische Basis,
erfahrt hier bestimmte Präzision. Da die psy-
chischen Strukturen, die einer bestimmten hi-
storischen Situation entsprechen, in der frühen
Kindheit in den Grundzügen formiert werden
und einen weit konservativeren Charakter haben
als die technischen Produktivkräfte, so ergibt
sich dass mit der Zeit die psychischen Struktu-
ren hinter der Entwicklung der Seinsverhält-
nisse, denen sie entsprangen und die sich rasch
weiterentwickeln, zurückbleiben und mit den
spateren Lebensformen in Konflikt geraten
müssen. Das ist der Grundzug des Wesens der
sogenannten Tradition, die wir aber dadurch
noch nicht inhaltlich begreifen.
3. DIE FRAGESTELLUNG DER MASSEN-
PSYCHOLOGIE
Wir haben bisher gesehen, dass die wirt-
schaftliche und ideologische Situation der Mas-
sen sich nicht decken müssen und sogar be-
trächtlich auseinanderfallen können. Wir müs-
sen nun weiter feststellen, dass die ökonomi-
sche Lage sich nicht unmittelbar und direkt in
politisches Bewusstsein umsetzt. Wäre das der
Fall, die soziale Revolution wäre längst da. Ent-
sprechend diesem Auseinanderfallen von ökono-
mischer Lage und Ideologie oder politischem
Bewusstsein muss die Untersuchung der Wirk
33
■M
Die Ideologie als materielle Gewalt
lichkeit eine doppelte sein: Ungeachtet der Tat-
sache, dass sich die Ideologie grob gefasst aus
dem wirtschaftlichen Dasein ableitet, muss die
wirtschaftliche Situation mit anderer Frage-
stellung erfasst werden als die ideologische
Struktur: jene sozialökonomisch, diese psycho-
logisch. Wir wollen das Gesagte an einem ein-
fachen Beispiel darstellen: Wenn Arbeiter, die
infolge Lohndrucks hungern, streiken, so er-
gibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer wirt-
schaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hun-
gernden, der stiehlt. Zur Erklärung des Dieb-
stahls aus Hunger oder des Streiks aus der Aus-
beutung bedarf es keiner weiteren psychologi-
schen Erklärung. In diesem Falle entsprechen
Ideologie und Handeln dem wirtschaftlichen
Druck. Ökonomische Lage und Ideologie decken
sich. Die bürgerliche Psychologie pflegt in
diesem Falle psychologisch erklären zu wollen,
aus welchen angeblich irrationalen Motiven ge-
stohlen oder gestreikt wird, was immer zu re-
aktionären Erklärungen führt. Für die dialek-
tisch-materialistische Psychologie steht die
Frage gerade umgekehrt: nicht, dass der Hun-
gernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete
streikt, ist zu erklären, sondern warum die
Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die
Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt. Die
Sozialökonomie erklärt also einen gesellschaft-
lichen Tatbestand restlos dann, wenn das Han-
deln und Denken rational-zweckmässig ist, d. h.
der Bedürfnisbefriedigung dient und die ökono-
mische Situation unmittelbar wiedergibt und
fortsetzt. Sie versagt, wenn das Denken und
Handeln der Menschen der ökonomischen Si-
34
Die Fragestellung der Massenpsychologie
tuation widerspricht, also irrational ist. Der
Vulgärmarxismus und der Ökonomismus, die die
Psychologie nicht anerkennen, stehen einem sol-
chen Widerspruch hilflos gegenüber. Je mecha-
nistischer , ökonomistischer der vulgäre Marxist
ist, je mehr er die Psychologie des Menschen
leugnet, desto mehr verfällt er dem oberfläch-
lichsten Psychologismus in der Praxis der Mas-
senpropaganda, indem er, statt den psychischen
Widerspruch im Massenindividuum zu erraten
und zu beseitigen, öden Coueismus betreibt oder
die nationalistische Bewegung aus einer „Mas-
senpsychose" erklärt. Die Fragestellung der
marxistischen Massenpsychologie setzt also ge-
rade dort an, wo die unmittelbare sozialökono-
mische Erklärung versagt. Stellt sich die Mas-
senpsychologie dadurch in Gegensatz zur So-
zialökonomie? Nein. Um es vorwegzunehmen:
das irrationale, also der unmittelbaren sozialöko-
nomischen Situation widersprechende Denken
und Handeln der Massen ist selbst die Folge
einer früheren, älteren sozialökonomischen Si-
tuation. Man pflegt die Hemmung der Entwick-
lung des revolutionären Bewusstseins aus der
sogenannten Tradition zu erklären. Es ist aber
bisher nicht untersucht worden, was das ist:
„Tradition", an welchen materiellen, psychi-
schen Tatbeständen sie sich abspielt. Der Öko-
nomismus hat bisher übersehen, dass die we-
sentlichste Frage nicht die ist, dass und wie
Klassenbewusstsein beim Werktätigen vorhan-
den ist (das ist selbstverständlich!), sondern
was die Entwicklung des Klassenbewusstseins
hemmt.
Die Ablehnung der psychologischen Beobach-
35
i
Die Ideologie als materielle Gewalt
tung und Praxis in der proletarischen Politik
ergab bisher in den Diskussionen eine unproduk-
tive politische Fragestellung. Die Kommunisten
erklärten z. B. die Machtergreifung durch den
Faschismus aus der illusionären, irreführenden
Politik der Sozialdemokratie. Diese Erklärung
führt im Grunde in eine Sackgasse, denn es ist
ja eben die Funktion der Sozialdemokratie, als
objektive Stütze des Kapitalismus, Illusionen zu
verbreiten. Das wird sie immer tun, solange sie
besteht. Diese Erklärung ergibt keine neue
Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung,
die politische Reaktion hätte in Gestalt des
Faschismus die Massen „vernebelt", „verführt**
und „hypnotisiert". Das ist und bleibt die Funk-
tion des Faschismus, solange er existiert. Es
ist unproduktiv, weil es keinen Ausweg zeigt,
die Politik nur auf die objektive Funktion einer
kapitalistischen Partei, nämlich Stütze der ka-
pitalistischen Herrschaft zu sein, zu begründen.
Man muss natürlich die objektive Funktion der
Sozialdemokratie und des Faschismus enthüllen.
Die Erfahrung lehrt aber, dass die tausendfäl-
tige Enthüllung dieser Rolle die Massen nicht
überzeugte, dass also die sozialökonomische
Fragestellung allein nicht genügt. Liegt nicht
nahe zu fragen, was in den Massen vorgeht, dass
sie diese Rolle nicht erkennen konnten und woll-
ten? Mit der typischen Auskunft „Die Arbeiter
müssen nun erkennen ..." oder „Wir haben es
nicht verstanden ..." ist nicht gedient. Warum
erkennen die Arbeiter nicht und warum haben
wir nicht verstanden? Als unproduktive Frage-
stellung ist z. B. auch jene zu betrachten, die
der Diskussion zwischen der rechten Opposition
36
Die Fragestellung der Massenpsychologie
und der Komintern zugrundelag. Die Rechten
behaupteten, die Arbeiter seien nicht kampfge-
willt, die „Linie" dagegen behauptete, das sei
falsch, die Arbeiter seien revolutionär und die
Behauptung der Rechten bedeute Verrat am re-
volutionären Gedanken. Beide Fragestellungen
waren, weil sie ein Entweder — Oder darstell-
ten, mechanisch, undialektisch. Der Wirklich-
keit hätte entsprochen festzustellen, dass der
durchschnittliche Arbeiter einen Widerspruch,
gleichzeitig die Gegensätze von revolutionärer
Einstellung und bürgerlicher Hemmung (z. B.
Führerbindung des sozialdemokratischen Arbei-
ters) in sich trägt, dass er also weder eindeutig
revolutionär, noch eindeutig bürgerlich ist, son-
dern in einem Konflikt steht: seine psychische
Struktur leitet sich einerseits aus seiner Klas-
senlage ab, die revolutionäre Einstellungen an-
bahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre
der bürgerlichen Gesellschaft, was einander
widerspricht.
Es ist nicht nur entscheidend, einen solchen
Widerspruch zu sehen, sondern auch zu er-
fahren, worin sich konkret das Bürgerliche und
das Klassenmässige im Arbeiter darstellt. Die
gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für
den Mittelständler. Dass er in der Krise gegen
das „System** rebelliert, verstehen wir unmit-
telbar. Dass er aber, obwohl bereits ökonomisch
proletarisiert, trotzdem das Absinken ins Pro-
letariat fürchtet und extrem reaktionär wird,
ist nicht unmittelbar sozialökonomisch zu ver-
stehen. Auch er hat also einen Widerspruch in
sich zwischen rebellierendem Fühlen und reak-
tionären Zielen und Inhalten.
37
«I
Die Ideologie als materielle Gewalt
Wir erklären z. B. einen Krieg soziologisch
nicht vollständig, wenn wir die besonderen öko-
nomischen und politischen Gesetze aufdecken,
die ihn unmittelbar bedingen, also etwa die
deutschen Annexionstendenzen, die sich vor
1914 auf die Erzbecken von Briey und Longy,
auf das belgische Industriegebiet, auf die Er-
weiterung des Kolonialbesitzes in Vorderasien
etc. richteten. Die ökonomischen Widersprüche
des deutschen Imperialismus waren zwar der
entscheidende aktuelle Faktor, aber wir müssen
auch die massenpsychologische Basis des Welt-
krieges einordnen, wir müssen fragen, warum
der massenpsychologische Boden fähig war, die
imperialistische Ideologie aufzusaugen, die im-
perialistischen Parolen in Tat umzusetzen. Man
beantwortet die Frage nicht zufriedenstellend,
wenn man den Umfall der Führer der II. Inter-
nationale dafür allein verantwortlich macht.
Warum Hessen sich die Millionenmassen der
sozialistisch und antiimperialistisch gesinnten
Arbeiter verraten? Die Angst vor den Folgen
der Kriegsdienstverweigerung kommt nur bei
einer Minderzahl in Betracht. Wer die Mobili-
sierung 1914 mitgemacht hat, weiss, dass sich
in den proletarischen Massen verschiedenartige
Stimmungen zeigten. Von bewusster Ablehnung
bei einer Minderheit angefangen über eine
merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder
eine Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis
zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mit-
telschichten, sondern weit hinein in proletari-
sche Kreise. Die Stumpfheit der einen wie die
Begeisterung der anderen waren fraglos massen-
strukturelle Fundierungen des Krieges. Diese
38
Die Fragestellung der Massenpsychologie
massenpsychologische Fundierung des Welt-
krieges muss unter dem Gesichtspunkt entlarvt
werden, dass die imperialistische Ideologie der
Hochfinanz zu einer materiellen Kraft nur da-
durch werden konnte, dass sie die Strukturen
der werktätigen Massen konkret im Sinne des
Imperialismus veränderte, dass es allgemeine
Prinzipien der Klassengesellschaft waren, die
den Krieg ermöglichten, Prinzipien, die man mit
der Auskunft, dass es sich um eine „Kriegspsy-
chose" oder eine „Massenvernebelung" handelte,
nicht abtun kann. Es würde einen Widerspruch
zur marxistischen Theorie des Klassenbewusst-
seins bedeuten, wenn man die Massen auf der an-
deren Seite derart einschätzen würde, dass sie
einer blossen Vernebelung zugänglich seien. Es
handelt sich offenbar um die grosse Frage, dass
jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen
ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt,
die sie für ihre Hauptziele braucht. 1 ) Ohne
diese massenpsychologisch zu erforschenden
1) „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in
jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die
Klasse, welche die herrschende materielle Macht der
Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige
Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Pro-
duktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zu-
gleich über die Mittel zur geistigen Produktion, sodass
ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken de-
rer, denen die Mittel zur geistigen Produktion ab-
gehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken
sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herr-
schenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken
gefassten. herrschenden materiellen Verhaltnisse: also
die Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herr-
schenden machen, also die Gedanken ihrer Herr-
schaft." (Marx).
39
1
Die Ideologie als materielle Gewalt
Strukturen wäre der Krieg nicht möglich gewe-
sen. Es muss eine wichtige Korrelation besfenTn
zwischen der ökonomischen Struktur einer Ge"
Seilschaft und der massenpsychologischen Struk-
tur ihrer Mitglieder ; nicht nur in dem S nne I
dass die herrschenden Ideologien die Ideologfen
der herrschenden Klasse sind, sondern, wa S g ur
die Losung von praktischen Fragen der Politik
bedeutsamer ist : auch die Widersprüche der ökö
nomischen Struktur einer Gesellschaft müssen
UnterH . m t S / 5enpSyCh0l °S ischen Strukturen der
" *t en ^präsentiert sein. Anders wäre
einer rTu^'u ^ die ökon °™schen Gesetze
hJJ" ^ Se,Iscl J a . ft nur dur ch die „Aktion", das
he.sst die psychischen Strukturen der ihnen u„- f
terworfenen Massen zur konkreten Auswirkung
gelangen können. e
H,.? w? r 2i?*f ^f Bewe S un g wusste zwar von | i
FaktoT^ g "r- eit t S J° Senannten subjektiven
Faktors der Geschichte" (bei Marx ist im Ge-
gensatz zum mechanischen Materialismus der
e^fa n s S s C t und £^ *T GeSChkhte ™ Prin Ä
erfasst und Lemn baute gerade diese Seite des
Marxismus aus) ; woran es mangelte, war die
Handelns, anders ausgedrückt, des Auseinander-
fallens von Ökonomie und Ideologie. Wir müssen
erklaren können, wie es möglich wurde das«
Mystik über wissenschaftliche Soziologie <re
siegt hat. Diese Aufgabe kann nur dann geleistet
werden, wenn unsere Fragestellung derart ist
dass sich aus der Erklärung automatisch neue
Sil 8 3?* , W , enn d ! r Werktäti Se weder ein-
deut.g bürgerlich noch eindeutig revolutionär
ist. sondern in einem Widerspruch zwischen
in
Die Fragestellung der Massenpsychologie
reaktionären und revolutionären Strebungen
steht so muss sich, wenn wir diesen Wider-
spruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis er-
geben, die den konservativen psychischen Kräf-
ten die revolutionären entgegensetzt. Die Mystik
ist reaktionär, der bürgerliche Mensch ist mys-
tisch Wenn man die Mystik verlacht, als Ver-
nehmung oder als Psychose unerklärt abtut, so
geht keine Praxis gegen die Mystik daraus her-
vor Wenn man aber die Mystik materialistisch
erklären kann, so muss sich zwangsläufig ein
politisches Gegengift gegen sie ergeben Um
aber diese Aufgabe zu leisten, müssen die Be-
ziehungen zwischen sozialer Lage und Ideolo-
giebi düng, im besonderen die nicht unmittelbar
sozialökonomisch erklärbaren, irrationalen so
weit die Erkenntnismittel reichen, erfasst wer-
den.
4. DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION
DER SEXUALUNTERDRÜCKUNG
i Schon Lenin war ein merkwürdiges, irrationa-
les Verhalten der Massen vor Aufständen oder
im Prozess des Aufstandes aufgefallen. Er be-
richtet über die Soldatenaufstände 1905 in Russ-
land:
„Der Soldat war voller Sympathie für die Sache des
dauern; seine Augen glühten auf bei der blossen Er-
wähnung von Land. Mehrfach war die Macht bei den
Truppen in die Hände der Soldaten übergegangen
doch hat es fast nie eine geschlossene Ausnutzung
dieser Macht gegeben; die Soldaten schwankten- ei
nige Stunden, nachdem sie irgendeinen verhassten
41
Die Ideologie als materielle Gewalt
Vorgesetzten getötet hatten, setzten sie die anderen
in Freiheit, traten in Verhandlungen mit den Behör-
den und Hessen sich dann erschiessen, legten sich un-
ter die Ruten, Hessen sich wieder ins Joch spannen "
(„Ueber Religion", S. 65, Verl. f. Lit. u. Pol.)
Der Mystiker jeder Art wird derartiges Ver-
halten aus der ewig sittlichen Natur des Men-
schen erklären, die eine Rebellion gegen die
göttliche Einrichtung des Privateigentums und
der Autorität des Staates und seiner Vertreter
verhindere; der Vulgärmarxist geht an derarti-
gen Erscheinungen achtlos vorbei, und er hätte
auch weder ein Verständnis noch eine Erklärung
für sie, weil sie unmittelbar ökonomisch nicht
zu erklären sind. Die Freudsche Auffassung v «
kommt dem Tatbestand beträchtlich näher, wenn
sie in solchem Verhalten die Wirkung eines aus
der Kindheit der Menschen stammenden Schuld-
gefühls Vatergestalten gegenüber erkennt. Sie
bleibt uns nur die Auskunft über die soziolo-
gische Herkunft und Funktion dieses Verhal-
tens schuldig und führt daher auch zu keiner
praktischen Lösung. Sie übersieht auch den Zu-
sammenhang mit der Art des Geschlechtslebens
der breiten Massen.
Zur Klärung der Frage, wie wir an die Er-
forschung derartiger massenpsychologischer
Erscheinungen irrationaler Art herantreten kön-
nen, ist ein kurzer Ueberblick über die an an-
deren Stellen ausführlich behandelte — Frage-
stellung der Sexualökonomie notwendig.
Die Sexualökonomie ist eine Forschungs-
richtung, die sich seit einigen Jahren an der
Soziologie des menschlichen Geschlechtslebens
durch Anwendung des dialektischen Materialis-
42
L
D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
mus auf dieses Gebiet formiert und bereits über
eine Reihe neuartiger Feststellungen verfügt.
Sie geht von folgenden Voraussetzungen aus.
Marx fand das gesellschaftliche Leben be-
herrscht von den Bedingungen der wirtschaft-
lichen Produktion und den aus ihnen von einem
bestimmten Zeitpunkt der Geschichte ab hervor-
gehenden Klassenkämpfen. Die Beherrschung
der unterdrückten Klasse durch die Besitzer der
Produktionsmittel bedient sich nur selten der
Mittel der brutalen Gewalt ; ihre Hauptwaffe ist
die ideologische Macht über die Unterdrückten,
die den Staatsapparat mächtig stützt. Dass Marx
als erste Voraussetzung der Geschichte und Po-
litik den lebendigen, produzierenden Menschen
mit seiner psychischen und physischen Beschaf-
fenheit setzte, haben wir bereits gehört. Die
Struktur des handelnden Menschen, der sog.
„subjektive Faktor der Geschichte", blieb uner-
forscht, weil Marx Soziologe und nicht Psycho-
loge war, und weil es damals keine naturwissen-
schaftliche Psychologie gab. Das Problem, aus
welchem Grunde sich die Menschen die Aus-
beutung, moralische Erniedrigung, kurz die
Sklaverei seit Jahrtausenden gefallen lassen, blieb
unbeantwortet; ermittelt war nur der ökonomi-
sche Prozess der Gesellschaft und der Mechanis-
mus der privatwirtschaftlichen Ausbeutung.
Ein knapp halbes Jahrhundert später entdeck-
te Freud mit einer speziellen Methode, die er
Psychoanalyse nannte, den Prozess, der das See-
lenleben beherrscht. Seine wichtigsten Ent-
deckungen, die auf eine grosse Reihe bisheriger
Anschauungen verheerend und an sich umstürz-
43
Die Ideologie als materielle Gewalt
lerlisch wirkten, was ihm anfangs den Hass der
Welt eintrug, sind folgende.*)
Das Bewusstsein ist nur ein kleiner Teil des
Seelischen ; es wird selbst dirigiert von seelischen
Prozessen, die unbewusst ablaufen und deshalb
der Kontrolle des Bewusstseins nicht zugäng-
lich sind; jedes scheinbar noch so sinnlose psy-
chische Geschehen, wie der Traum, die Fehl-
leistung, die absurden Äusserungen der seelisch
Kranken und Geistesgestörten etc., hat eine
Funktion und einen „Sinn" und lässt sich restlos
verstehen, wenn man es in die Entwicklungs-
geschichte des betreffenden Menschen einzuord-
nen vermag. Dadurch reihte sich die Psycholo-
gie, die bis dahin entweder als eine Art Physik
des Gehirns („Hirnmythologie") oder als Lehre
von einem mysteriösen objektiven Geist vege-
tierte, in die Reihe der Naturwissenschaften ein.
Die zweite grosse Entdeckung war die, dass
schon das kleine Kind eine lebhafte Sexualität
entwickelt, die nichts mit der Fortpflanzung zu
tun hat, dass also Sexualität und Fortpflanzung
sexuell und genital nicht dasselbe seien; die
analytische Zerlegung der psychischen Prozesse
wies ferner nach, dass die Sexualität bezw. deren
Energie, die Libido, aus körperlichen Quellen
stammend, der zentrale Motor des Seelenlebens
ist, sobald sie in Konflikt mit realen Bedingun-
gen des Daseins gerät. Biologische Vorausset-
zungen und soziale Bedingungen des Lebens
treffen also im Seelischen aufeinander.
*) Eine ausführlichere Darstellung findet sich vom
marxistischen Standpunkt in Reich: „Dialektischer
Materialismus und Psychoanalyse", („Unter dem Ban-
ner des Marxismus", 1929).
44
L
D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
Die dritte grosse Entdeckung war, dass die
kindliche Sexualität, zu der auch das meiste und
wesentlichste an der Kind-Eltern-Beziehung
(„Oedipuskomplex") gehört, gewöhnlich aus
Angst vor Strafe für sexuelles Tun und Denken
(im Kern „Kastrationsangst") verdrängt wird,
das heisst von der Aktion ausgesperrt und in
der Erinnerung ausgelöscht wird. Die Ver-
drängung der kindlichen Sexualität entzieht sie
also der Herrschaft des Bewusstseins, nimmt ihr
aber nicht ihre Kraft, erhöht sie vielmehr und
befähigt sie derart, sich in verschiedenen krank-
haften Störungen des Seelenleben zu äussern.
Da es kaum eine Ausnahme von dieser Regel
beim Kulturmenschen gibt, konnte Freud sagen,
dass er die ganze Menschheit zum Patienten
habe.
Die vierte hier wichtige Entdeckung war, dass
die moralischen Instanzen im Menschen, weit
entfernt davon, überirdischer Herkunft zu sein,
sich zentral aus den Erziehungsmassnahmen der
Eltern und ihrer Vertreter in frühester Kindheit
ableiten. Im Kern dieser Erziehungsmassnahmen
wirken diejenigen, die sich gegen die Sexualität
des Kindes richten. Der Konflikt, der sich ur-
sprünglich zwischen den Wünschen des Kindes
und den Verboten der Eltern abspielt, setzt sich
später als Konflikt zwischen Trieb und Moral
innerhalb der Person fort. Die moralischen In-
stanzen, die selbst unbewusst sind, wirken sich
beim Erwachsenen gegen die Erkenntnisse der
Gesetze der Sexualität und des unbewussten
Seelenlebens aus; sie unterstützen die Sexual-
verdrängung („Sexualwiderstand") und erklären
45
7
Die Ideologie als materielle Gewalt ^
den Widerstand der Welt gegen die Entdeckung
der kindlichen Sexualität.
Jede dieser Entdeckungen (.wir nannten nur
die für unser Thema wichtigsten) bedeutete
schon durch ihre Existenz einen schweren *
Schlag gegen die bürgerliche Moralphilosophie
und insbesondere gegen die Religion, die ewige
sittliche Werte verteidigten, einen objektiven
Geist die Welt beherrschen Hessen und die kind-
liche Sexualität leugneten, sowie die Geschlecht-
lichkeit auf die Fortpflanzungsfunktion eineng-
ten. Diese Entdeckungen konnten bisher ihre
Wirkung nicht entfalten, weil die psychoanaly-
tische Soziologie, die sich darauf aufbaute, zum
grössten Teile ihnen wieder nahm, was sie an
fortschrittlichem und umstürzlerischem gegeben
hatten. Hier ist nicht der Ort, dies zu beweisen.
Die analytische Soziologie versuchte die Gesell-
schaft wie ein Individuum zu analysieren, setzte
einen absoluten Gegensatz von Kulturprozess
und Sexualbefriedigung, fasste die destruktiven
Triebe als ursprüngliche, biologische Gegeben-
heiten auf, die das menschliche Geschick unaus-
rottbar beherrschen, leugnete die mutterrecht-
liche Urzeit und landete in einer lähmenden
Skepsis, weil sie vor den Konsequenzen der eige-
nen Entdeckungen zurückschrak. Heute steht sie
Bestrebungen, diese Konsequenzen zu ziehen,
feindlich gegenüber, und ihre Vertreter erwei-
sen sich im Kampfe gegen diese Bestrebungen
keineswegs inkonsequent. Das ändert nichts da-
ran, dass wir die grossen Freudschen Ent-
deckungen gegen jeden Angriff, von welcher
Seite immer er kommen mag, aufs schärfste zu
verteidigen entschlossen sind.
46
D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
Die Fragestellung der Sexualökonomie, die
von diesen Entdeckungen ausging, ist nicht
einer der üblichen Versuche, Marx durch Freud
oder Freud durch Marx zu ersetzen, zu ergänzen,
sie zu vermengen etc. (von der dialektisch-mate-
rialistischen Kritik der psychoanalytischen The-
orie sehen wir dabei ab). Wir haben früher die
Stelle im historischen Materialismus angegeben,
an der die Psychoanalyse eine wissenschaftliche
Funktion zu erfüllen hat, die die Sozialökono-
mie nicht zu leisten vermag: die Erfassung der
Struktur und Dynamik der Ideologie, nicht
deren historischen Bodens.
Die Psychoanalyse ist in ihrem klinischen
Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch-
materialistischen Psychologie. Durch Einbezie-
hung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie
auf ein höheres Niveau, vermag sie die Wirk-
lichkeit viel besser zu bewältigen, weil endlich
der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist.
Dass sie nicht sofort billige praktische Rat-
schläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte
Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit
allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissen-
schaft anzuhängen pflegt, behaftet ist, wird nur
ein politischer Schreier zum Anlass nehmen,
sie als ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexuali-
tät erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als
wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrech-
nen. .
Es ergibt sich daraus von selbst, das die Wis-
senschaft der Sexualökonomie, die sich auf dem
soziologischen Fundament von Marx und dem
psychologischen von Freud aufbaut, eine im
wesentlichen massenpsychologische und sexual-
47
Die Ideologie als materielle Gewalt
soziologische zugleich ist. Sie beginnt dort, wo,
nach Ablehnung der idealistischen Soziologie
und Kulturphilosophie Freuds, 1 ) die klinisch-
psychologische Fragestellung der Psychoanalyse
endet.
Die Psychoanalyse enthüllt uns die Wirkun-
gen und Mechanismen der Sexualunterdrückung
und -Verdrängung und deren krankhafte Folgen.
Die Sexualökonomie setzt fort: Aus welchem
soziologischen Grunde wird die Sexualität von
der Gesellschaft unterdrückt und vom Indi-
viduum zur Verdrängung gebracht? Die Kirche
sagt, um des Seelenheils im Jenseits willen, die
mystische Moralphilosophie sagt, aus der ewigen
ethisch-sittlichen Natur des Menschen heraus;
die Freudsche Kulturphilosophie behauptet, dies
geschehe um der „Kultur" willen; man wird
skeptisch und fragt sich, warum denn die Ona-
nie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr
der Puberilen die Errichtung von Tankstellen
und die Erzeugung von Flugschiffen stören
sollte. Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätig-
keit an sich, sondern nur die gegenwärtigen
Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist
gern bereit, die Formen zu opfern, wenn da-
dyrch das masslose Kinder- und Jugendelend
beseitigt werden könnte. Die Frage ist dann
nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der
Gesellschaftsordnung. Man untersucht die Ge-
schichte der Sexualunterdrückung und die Her-
kunft der Sexualverdrängung und findet, dass
1) in der sich trotz allem Idealismus mehr Wahr-
heiten über das lebendige Leben finden als in allen
bürgerlichen Soziologien und manchen „marxistischen"
Psychologien zusammengenommen.
48
D - gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
•
s ie nicht im Beginne der Kulturentwicklung
einsetzt, also nicht die Voraussetzung der Kul-
turbildung ist, sondern erst relativ spät sich mit
dem Privateigentum an den Produktionsmitteln
u nd dem Beginne der Klassenteilung heraus-
zubilden beginnt. Die Geschlechtsinteressen al-
ler beginnen in den Dienst der wirtschaftlichen
Profitinteressen einer Minderheit zu treten; in
Porm der monogamen Ehe und der vaterrecht-
lichen Familie hat dieser Tatbestand feste orga-
nisatorische Gestalt gewonnen. Mit der Ein-
schränkung und Unterdrückung der Geschlecht-
lichkeit verändert das menschliche Fühlen seine
Art, es entsteht die sexualverneinende Religion
und allmählich baut die herrschende Klasse eine
eigene sexualpolitische Organisation auf, die
Kirche mit allen ihren Vorläufern, die nichts
anderes als die Ausrottung der sexuellen Lust
der Menschen und mithin des geringen Glücks
auf Erden zum Ziele hat. Das hat seinen guten
soziologischen Sinn im Zusammenhange mit der
nunmehr blühenden Ausbeutung menschlicher
Arbeitskraft.
Um diesen Zusammenhang zu begreifen, ist es
notwendig, die gesellschaftliche Kerninstitution
zu erfassen, in der die wirtschaftliche und die
sexualökonomische Situation der privatwirt-
schaftlichen Gesellschaft sich ineinanderflech-
ten. Ohne Einbeziehung dieser Institution ist
ein Verständnis der sexuellen Ökonomie und des
ideologischen Prozesses des Patriarchats un-
möglich. Die Psychoanalyse von Menschen jeder
Altersstufe, aus allen Ländern und jeder sozia-
len Schichte ergibt : Die Verknüpfung der sozial-
ökonomischen mit der sexuellen Struktur der
4 49
' '
Die Ideologie als materielle Gewalt
Gesellschaft und die ideologische Reproduktion
der Gesellschaft erfolgen in den ersten vier bis
fünf Lebensjahren und in der Familie. Die Kir-
che setzt diese Funktion später nur fort. So
gewinnt der Klassenstaat sein ungeheures In-
teresse an der Familie: Sie ist seine Struktur-
und Ideologiefabrik geworden.
Wir fanden die Institution, in der sich die
sexuellen und die wirtschaftlichen Interessen
verknüpfen. Wir müssen nun fragen, wie diese
Verknüpfung erfolgt und wie ihr Mechanismus
ist. Auch darauf gibt die Analyse der typischen
Struktur des bürgerlichen Menschen (des Pro-
letariers eingeschlossen) eine Anwort, freilich
nur dann, wenn man sich solche Fragen in der
individuellen Analyse überhaupt vorlegt. Die
moralische Hemmung der natürlichen Ge-
schlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe
die schwere Beeinträchtigung der genitalen
Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich,
scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürger-
lichen Sinne brav und erziehbar ; sie lähmt, weil
nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer
Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im
Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot
eine allgemeine Denkhemmung und Kritik-
unfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung
des an die privateigentümliche Ordnung ange-
passten, trotz Not und Erniedrigung sie dulden-
den Staatsbürgers. Als Vorstufe dazu durchläuft
des Kind den autoritären Miniaturstaat der Fa-
milie, an deren Struktur sich das Kind zunächst
anpassen muss, um später dem allgemeinen ge-
sellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu
sein. Die Umstrukturierung des Menschen er-
50
D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
folgt — das muss genau festgehalten werden —
zentral durch Verankerung sexueller Hemmung
und Angst am lebendigen Material der sexuellen
Antriebe.
Wir werden sofort begreifen, warum die Fa-
milie von der Sexualökonomie als die wichtigste
ideologische Reproduktionsstätte des privat-
wirtschaftlichen Gesellschaftssystems aufgefasst
wird, wenn wir uns das Beispiel einer durch-
schnittlichen christlichen Arbeiterfrau vor Au-
gen halten. Sie hungert ebensosehr wie eine
kommunistische, ist also der gleichen ökonomi-
schen Lage unterworfen, wählt aber Zentrum
und später NSDAP; wenn wir uns auch noch
die Wirklichkeit des Unterschiedes in der Sexu-
alideologie der durchschnittlichen klassenbe-
wussten und der durchschnittlichen christlichen
Frau klarmachen, dann erkennen wir die ent-
scheidende Bedeutung der Sexualstruktur: Die
antisexuelle, moralische Hemmung verhindert
die christliche Frau zum Bewusstsein ihrer so-
zialen Lage zu gelangen und bindet sie ebenso
fest an die Kirche, wie sie sie den „Sexualbol-
schewismus" fürchten lässt. Theoretisch stellt
sich die Sachlage wie folgt dar. Der mechani-
stisch denkende Vulgärmarxist wird annehmen,
dass das Klassenbewusstsein, d. h. die Einsicht
in die soziale Lage, besonders ausgeprägt dann
sein müsste, wenn sich zur wirtschaftlichen
Notlage die sexuelle hinzuaddiert. Nach dieser
Annahme müssten die Masse der Jugendlichen
und die Masse der Frauen weit klassenbewusster
sein als die der Männer. Die Wirklichkeit zeigt
das gerade Gegenteil und der Vulgärmarxist
steht dem völlig hilflos gegenüber. Er wird es
51
— ' ■
I
Die Ideologie als materielle Gewalt
unverstehbar finden, dass die christliche Frau
sich sträubt, sein Wirtschaftsprogramm auch nur
anzuhören. Die Erklärung ist die: Die Unter-
drückung der grob materiellen Bedürfnisbe-
friedigung erzielt ein anderes Resultat als die
der sexuellen Bedürfnisse. Erste treibt zur Re-
bellion, die zweite jedoch verhindert dadurch,
dass sie die sexuellen Ansprüche zur Verdrän-
gung bringt, sie dem Bewusstsein entzieht und
sich als moralische Abwehr innerlich verankert,
den Vollzug der Auflehnung aus beiden Arten
von Unterdrückung. Ja auch die Hemmung der
Auflehnung selbst ist unbewusst. Es findet sich
beim durchschnittlichen unpolitischen Menschen
im Bewusstsein nicht einmal ein Ansatz dazu.
Zur Verdeutlichung der Beziehung diene fol-
gendes Schema:
KLASSEN-STAAT
AUSBEUTUNG
SEXUALUNTERDRÜCKUNG
ANSATZ ZUR
REBELLION
/
/
ANSATZ ZUR
REBELLION
/ \ A
MORALISCHE
HEMMUNG
SEXUALVER-
DRÄNGUNG
IV*
NAHRUNGS-
BEDÜRFNIS
\
\
SEXUAL-
BEDÜRFNIS
52
D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
Die Sexualverdrängung stärkt die politische
Reaktion nicht nur durch den beschriebenen
Vorgang, der die Massenindividuen passiv und
unpolitisch macht; sie schafft in der Struktur
des bürgerlichen Menschen eine sekundäre
Kraft, ein künstliches Interesse, das die herr-
schende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist
nämlich die Sexualität durch den Prozcss der
Sexualverdrängung aus den naturgemäss gege-
benen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen,
so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung
verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich
die natürliche Agression zum brutalen Sadismus,
der ein wesentliches Stück der massenpsycholo-
gischen Grundlage desjenigen Krieges bildet,
der von einigen wenigen aus imperialistischen
Interessen insceniert wird. Um ein anderes Bei-
spiel zu nennen: Die Wirkung des Militarismus
beruht massenpsychologisch im wesentlichen auf
einem libidinösen Mechanismus; die sexuelle
Wirkung der Uniform, die erotisch aufreizende,
weil rhythmisch vollendete Wirkung der Para-
demärsche, der exhibitionistische Charakter des
militärischen Auftretens sind einer Hausgehil-
fin oder einer durchschnittlichen Angestellten
bisher praktisch klarer geworden als unseren
gebildetsten Politikern. Dagegen bedient sich
die politische Reaktion bewusst dieser sexuellen
Interessen. Sie schafft nicht nur pfauenartig
ausstaffierte Uniformen für die Männer, sondern
sie lässt wie in Amerika die Anwerbung durch
anziehende Frauen durchführen. Am Schluss sei
noch an die Werbeplakate der kriegslüsternen
Mächte erinnert, die etwa folgenden Inhalt ha-
ben: „Willst Du fremde Länder kennen lernen,
53
Die Ideologie als materielle Gewalt
dann tritt in die Marine des Königs ein!"; und
die fremden Länder sind durch exotische Frauen
dargestellt. Und warum wirken diese Plakate?
Weil unsere Jugend durch die Sexualeinschrän-
kung sexualhungrig geworden ist.
Sowohl die das Klassenbewusstsein hemmende
Sexualmoral, als auch diejenigen Kräfte, die
den kapitalistischen Interessen entgegenkom-
men, beziehen ihre Energie aus der verdrängten
Sexualität. Wir begreifen nun besser ein Kern-
stück im Prozess der Rückwirkung der Ideolo-
gie auf die ökonomische Basis: Die Sexualhem-
mung verändert den wirtschaftlich unterdrück-
ten Menschen strukturell derart, dass er gegen
sein materielles Interesse handelt, fühlt und
denkt. Das ist gleichbedeutend mit ideologischer
Angleichung an die Bourgeoisie.
Die Beobachtung von Lenin erfährt derart
ihre massenpsychologische Bestätigung und
Deutung. Die Soldaten von 1905 erblickten un-
bewusst in den Offizieren die Väter aus der
Kindheit, kondensiert in der Gottesvorstellung,
die die Sexualität versagten und die man damals
weder töten durfte noch konnte, obwohl sie
einem die Lebensfreude zerbrachen. Ihre Reue
nach der Machtergreifung und ihr Schwanken
waren Ausdruck in sein Gegenteil, in Mitleid,
verwandelten Hasses, der solcherweise nicht zur
Aktion vordringen konnte.
Das praktische Problem der Massenpsycholo-
gie ist somit die Aktivierung der passiven Mehr-
heit der Bevölkerung, die stets der politischen
Reaktion zum Siege verhilft, und die Beseiti-
gung derjenigen Hemmungen, die der Entwick-
lung des aus der sozialökonomischen Lage strö-
54
D. gesellsch. Funktion d. Sexualunterdrückung
menden Klassenbewussteins entgegenwirken.
Die seelischen Energien einer durchschnitt-
lichen Masse, die ein Fussballspiel erregt ver-
folgt oder eine kitschige Operette miterlebt, von
ihren Fesseln gelöst, in die Bahnen zu den ra-
tionalen Zielen der Arbeiterbewegung gelenkt,
wäre nicht mehr zu binden. Von diesem Ge-
sichtspunkt aus ist die folgende sexualokonomi-
sche Untersuchung geleitet.
55
'
IL KAPITEL
Die Familienideologie in der Massen-
psychologie des Faschismus
1. FÜHRER UND MASSENSTRUKTUR
Liesse die Geschichte des gesellschaftlichen
Prozesses den bürgerlichen Historikern Zeit,
Betrachtungen über die deutsche Vergangenheit
nach einigen Jahrzehnten anzustellen, sie wür-
den im Erfolg Hitlers in den Jahren 1928—1933
sicher den Beweis dafür erblicken, dass nur der
grosse Mann Geschichte macht, indem er die
Massen mit „seiner Idee" entflammt: und ein
Grundzug der nationalsozialistischen Propagan-
da baut sich in der Tat auf dieser Führer-
ideologie auf. So wenig den Propagandisten des
Nationalsozialismus die Mechanik ihres Erfol-
ges bekannt ist, so wenig dürfen sie den histo-
rischen Boden der nationalsozialistischen Be-
wegung je erfassen. Es ist daher vollkommen
konsequent, wenn der Nationalsozialist Wilhelm
Stapel in seiner Schrift „Christentum und
Nationalsozialismus" (Hanseatische Verlags-
anstalt) seinerzeit schrieb: „Weil der National-
sozialismus eine elementare Bewegung ist,
darum kann man ihm nicht mit „Argumenten"
56
Führer und Massenstruktur
beikommen. Argumente würden nur wirken,
wenn die Bewegung durch Argumente gross-
geworden wäre." Das sachlische Niveau der
nationalsozialistischen Versammlungsreden
zeichnete sich entsprechend dieser Charakteri-
stik durch sehr geschickte Massnahmen aus, mit
den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren
und sachliche Argumentation tunlichst zu ver-
meiden. Hitler betont an verschiedenen Stel-
len seines Buches „Mein Kampf", dass die
richtige massenpsychologische Taktik auf Ar-
gumentation verzichten und nur das „grosse
Endziel" unausgesetzt den Massen vorführen
müsse. Wie es dann mit dem Endziel nach der
Machtergreifung aussieht, lässt sich am italie-
nischen Faschismus leicht zeigen, wie ja auch
die jüngsten Erlässe Görings gegen die wirt-
schaftlichen Organisationen des Mittelstandes,
die Absage an die von den Anhängern erwartete
„zweite Revolution", die Nichterfüllung der ver-
sprochenen sozialistischen Massnahmen etc. be-
reits die eigentliche objektive Funktion des
Faschismus enthüllen. Wie wenig Hitler selbst
den Mechanismus seiner Erfolge kennt, zeigt
folgende Ansicht:
„Diese grosse Linie allein, die nie verlassen werden
darf, lässt bei immer gleichbleibender konsequenter
Betonung den endgültigen Erfolg heranreifen. Dann
aber wird man mit Staunen feststellen können, zu
welch ungeheuren, kaum verständlichen Ergebnissen
solch eine Beharrlichkeit führt." („Mein Kampf",
S. 203).
Hitlers Erfolg lässt sich also keinesfalls aus
seiner objektiven Rolle in der Geschichte des
Kapitalismus erklären, denn diese hätte, wäre
57
\
I
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
sie unmittelbarer Inhalt der Propaganda gewe-
sen, das Gegenteil des Beabsichtigten erzielt.
Die Erforschung der massenpsychologischen
Wirkung Hitlers muss von der Voraussetzung
ausgehen, dass ein Führer oder auch nur Ver-
treter einer Idee nur dann Erfolg haben kann
(wenn auch nicht in historischer, so doch in be-
grenzter Perspektive), wenn seine persönliche
Anschauung, seine Ideologie oder sein Pro-
gramm an die durchschnittliche Struktur einer
breiten Schicht von Massenindividuen anklingt.
Dann ergibt sich die weitere Frage, welcher
historischen und soziologischen Situation diese
Massenstrukturen ihr Entstehen verdanken. So
verlegt sich die Fragestellung der Massenpsy-
chologie aus der Metaphysik in die Wirklich-
keit des gesellschaftlichen Lebens. Nur dann,
wenn die Struktur einer Führerpersönlichkeit
mit massenindividuellen Strukturen breiter
Kreise zusammenklingt, kann ein „Führer" Ge-
schichte machen. Und ob er endgültig Geschich-
te macht oder nur vorübergehend, hängt einzig
und allein davon ab, ob sein Programm in der
Richtung des fortschreitenden gesellschaftli-
chen Prozesses liegt oder sich dagegen an-
stemmt. Es ist daher nicht nur verfehlt, sondern
auch politisch irreführend, wenn man den Hit-
lerschen Erfolg allein aus der Demagogie der
Nationalsozialisten, mit der „Vernebelung der
Massen", ihrer „Irreführung" oder gar mit dem
vagen, nichtssagenden Begriff der „Nazipsycho-
se" zu erklären versucht, wie sogar Kommuni-
sten es vielfach taten. Kommt es doch gerade
darauf an zu begreifen, warum sich die Massen
der (objektiv gesehen) tatsächlichen Irrefüh-
58
Führer und Massenstruktur
rung, Vernebelung und psychotischen Situation
zugänglich erwiesen. Das heisst, ohne die ge-
naue Analyse dessen, was in den Massen vor-
geht, kann man das Problem nicht lösen. Auch
nicht mit der Angabe der objektiven Rolle der
Hitler-Bewegung im historischen Prozess. Denn
wie gesagt, der Erfolg der NSDAP wider-
spricht dieser ihrer Rolle, ein Widerspruch, der
nur massenpsychologisch zu lösen ist.
Der Nationalsozialismus bediente sich ge-
genüber den verschiedenen Objekten seiner
Propaganda verschiedener Mittel und machte,
je nach der sozialen Schicht, die er gerade
brauchte, verschiedene Versprechungen. So
trat z. B. im Frühjahr 1933 in der Propaganda
die Betonung des revolutionären Charakters der
Nazi-Bewegung hervor, weil man die Industrie-
arbeiter gewinnen wollte, und man feierte den
1. Mai, nachdem man in Potsdam den Adel zu-
friedengestellt hatte. Wollte man daraus ablei-
ten, dass der Erfolg nur politischem Schwindel
zuzuschreiben ist, man geriete als Marxist in
Widerspruch mit sich selbst und würde da-
durch praktisch die soziale Revolution negie-
ren. Die Grundfrage ist : Warum lassen sich die
Massen politisch beschwindeln? Sie hatten alle
Möglichkeiten, die Propaganda der verschiede-
nen Parteien zu kontrollieren. Warum ent-
deckten sie nicht etwa, dass Hitler den Arbei-
tern Enteignung des Besitzes an Produktions-
mitteln und den Kapitalisten Schutz vor
Streiks gleichzeitig versprach?
Hitlers persönliche Struktur und seine Le-
bensgeschichte sind für das Verständnis des
Nationalsozialismus von keinerlei Belang. Es
59
i
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
ist allerdings akademisch interessant, dass die
kleinbürgerliche Herkunft seiner Ideen sich
mit dem massenpsychologischen Milieu der
Strukturen, die diese Ideen bereitwillig auf-
nahmen, in den Hauptzügen deckt.
Hitler stützt sich wie jede faschistische
Bewegung auf die verschiedenen Schichten
des Kleinbürgertums. Der Nationalsozialismus
offenbart somit sämtliche Widersprüche, die
die Massenpsychologie des Kleinbürgertums
kennzeichnen. Es kommt nur darauf an, erstens
diese Widersprüche selbst in ihrem ideologi-
schen Gefüge zu erfassen, zweitens die gemein-
same Herkunft dieser Widersprüche aus den
Produktionsverhältnissen des imperialisti-
schen Kapitalismus kennenzulernen. Wir
schränken uns auf die sexziaZ-ideologischen Fra-
gen ein.
2. HITLERS HERKUNFT
Der Führer des deutschen rebellierenden
Mittelstandes ist selbst Beamtensohn und be-
richtet genau über einen die kleinbürgerliche
Massenstruktur spezifisch kennzeichnenden
Konflikt, den er durchzumachen hatte. Sein Va-
ter wollte ihn zum Beamten machen, der Sohn
rebellierte aber gegen den väterlichen Plan, be-
schloss, „unter keinen Umständen*' Folge zu
leisten, wurde Maler und proletarisierte sich
dadurch. Aber neben dieser Rebellion gegen den
Vater blieb die Hochachtung und Anerken-
nung seiner Autorität bestehen. Diese zwie-
spältige Einstellung zur Autorität: Rebellion
gegen die Autorität bei gleichzeitiger Aner-
6Q
Hitlers Herkunft
kennung und Unterwerfung, ist ein zentraler
Faktor jeder kleinbürgerlichen Struktur am
Übergang von der Pubertät zur völligen Er-
wachsenheit und besonders ausgeprägt bei ma-
teriell proletarischer Lebensführung.
Zur Mutter hatte Hitler eine eindeutig po-
sitive Einstellung; er spricht mit grosser Sen-
timentalität von ihr und versichert, er hätte
nur einmal in seinem Leben geweint, als näm-
lich seine Mutter starb. Aus der Rassen- und
Syphilistheorie (vgl. nächstes Kapitel) geht
seine ideologische Sexualablehnung und die
Idealisierung der Mutterschaft eindeutig her-
vor.
Als junger Nationalist beschloss Hitler, der
in Oesterreich lebte, den Kampf gegen das
österreichische Herrscherhaus aufzunehmen,
das das deutsche Vaterland „der Slawisierung"
preisgab. Bei der Polemik gegen die Habsbur-
ger nimmt der Vorwurf, dass es unter ihnen
einige Syphilitiker gab, eine bemerkenswerte
Stellung ein. Man würde daran achtlos vor-
übergehen, wenn nicht das Motiv der „Vergif-
tung des Volkskörpers" und die gesamte Stel-
lung zur Frage der Syphilis in besonderer
Weise immer wiederkehrte und später nach der
Machtergreifung ein zentrales Stück der In-
nenpolitik gebildet hätte.
Hitler sympathisierte ursprünglich mit der
Sozialdemokratie, weil sie den Kampf um das
allgemeine und geheime Wahlrecht führte und
dies zu einer Schwächung des ihm verhassten
„Habsburgerregiments" führen musste. Doch
die Betonung der Klassen, die Negierung der
Nation, der staatlichen Autorität, des Eigen-
61
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
HiTlef^n d6r ? e u gi ! n und Moral Sti ^sen
n„ . m i entscheidenden Anstoss zu sei-
ner Ideologie gab die Aufforderung, die von
Seiten seiner Baustelle an ihn gerichtet wurde
der Gewerkschaft beizutreten. Er lehnte ab und
begründet das mit der ersten Einsicht in die
Rolle der Sozialdemokratie.
Sein Ideal wurde Bismarck, weil er die Ei
n.gun g d deutschen Nation herbeiführte U nd
kamofte n ° S I err . eichiscl * Herrscherhaus
kämpfte. Der Antisemit Lueger und der
sehe S H° nale • SchÖnerer bestimmten ent-
scheidend die weitere Entwicklung Hitlers Er
tionahsmus zu verwirklichen gSrte Die
„Erst wenn der — politisch dnrM, a
Marxismus geführten « Sernatfon»! " Sf*» ni »i«ten
ung eine ebenso einheitlich ^SSSSÄS W « ltan f*au-
volkische gegenübertritt, wird s rh PS « elei ^te
Kampfesenergie der Erfolg auf die SUU i «Weher
Wahrheit schlagen." aie Seite der ewigen
„Was der internationalen Weltanff-,
folg gab, war ihre Vertretung fidftS'S den . Er "
lungsmässig organisierte politische pir* ? turmal >tei-
gegenteilige Weltanschauung unterließ ,• Was die
der bisherige Mangel einer einheitlich SLz?* ,^ ar
tretung derselben. Nicht in einer inb£r mten Ver "
gabe der Auslegung einer ÄÄ2T2» Frei "
62
^^^^^»■^^^
Hitlers Herkunft
Hitler erkannte früh den Bankrott der sozial-
demokratischen Politik, aber gleichzeitig auch
die Ohnmacht der alten bürgerlichen Parteien,
eingeschlossen der deutschnationalen.
„Dies alles aber war nur die zwangsläufige Folge
des Fehlens einer grundsätzlichen, dem Marxismus
entgegengesetzten neuen Weltanschauung von stürmi-
schem Eroberungswillen." (1. c. S. 190).
„Je mehr ich mich damals mit dem Gedanken einer
notwendigen Änderung der Haltung der staatlichen
Regierungen zur Sozialdemokratie als der augenblick-
lichen Verkörperung des Marxismus beschäftigte, um-
so mehr erkannte ich das Fehlen eines brauchbaren
Ersatzes für diese Lehre. Was wollte man denn den
Massen geben, wenn, angenommen, die Sozialdemokra-
tie gebrochen worden wäre? Nicht eine Bewegung
war vorhanden, von der man hätte erwarten können,
dass es ihr gelingen würde, die grossen Scharen der
nun mehr oder weniger führerlos gewordenen Arbeiter
in ihren Bann zu ziehen. Es ist unsinnig und mehr als
dumm, zu meinen, dass der aus der Klassenpartei aus-
geschiedene internationale Fanatiker nun augenblick-
lich in eine bürgerliche Partei, also in eine neue Klas-
senorganisation, einrücken werde." (1. c. S. 190).
„Die „bürgerlichen" Parteien, wie sie sich selbst
bezeichnen, werden niemals mehr die „proletari-
schen" Massen an ihr Lager fesseln, da sich hier
zwei Welten gegenüberstehen, teils natürlich, teils
künstlich getrennt, deren Verhaltungszustand zuein-
ander nur der Kampf sein kann. Siegen aber wird hier
der Jüngere — und dies wäre der Marxismus." (1 c.
S. 191).
Die antisowjetistische Grundtendenz des Natio-
nalsozialismus kam früh zum Vorschein.
„Wollte man in Europa Grund und Boden, dann
konnte dies im grossen und ganzen nur auf Kosten
Russlands geschehen, dann musste sich das neue Reich
wieder auf der Strasse der einstigen Ordensritter in
Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem
deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das täg-
liche Brot zu geben." (1. c. S. 154).
63
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
Solchermassen sieht sich Hitler vor folgende
IÄ„ W*J Wie ist dem nationalso g ziaH-
a st sich H t e " ZUm Si6ge ZU helfen? Wie
Usst sich der Marxismus wirksam bekämpfen?
Wie kann man an die Massen herankommen?
Zu diesem Zweck appelliert Hitler an die na-
SÄfS h GefÜhl , e der M ™ • beschließt
aber dabei sich wie der Marxismus auf einer
SSSÄ Z , U "Z™™«™. eine eigene Pro-
SÄ! ZU entWkkeIn U " d k °-quent
Er will also, was offen zugegeben wirrt H P n
durchseSr^ 11 ^ eAli « Mettd „
Technik dl V r dem Marxi ^«s und seiner
Dass dL. M Massenor ganisierung entlehnt.
seiner Persönlichkeit sondern aus der Be de ü
Ä er . V ° n den MaSSen ^kommt U^ Jas"
Problem ist umso brennender ak Witi~ J
Massen, mit deren Hilfe er seinen ££ ■ v
mus durchsehen will, ÄSE fe
k D e a nnt r nir elle "^ - * **-fRtt
»Die Stimmung des Volkes war im™
druck dessen, wls man von oben"™ Ä ( ,*f
Meinung hineintrichterte." (1. c S 140). '
.ii*ü elch t Struktur en in der Masse waren trotz
alledem bereit, Hitlers Propaganda aufzusau-
64
I
*
Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums
3. ZUR MASSENPSYCHOLOGIE DES
KLEINBÜRGERTUMS
Wir sagten, der Erfolg Hitlers sei weder aus
seiner „Persönlichkeit", noch aus der objekti-
ven Rolle, die seine Ideologie im zerrütteten
Kapitalismus spielt, zu verstehen. Ebensowenig
aus einer blossen „Vernebelung" der Massen,
die ihm folgten. Wir stellten die Frage ins Zen-
trum, was in den Massen vorging, dass sie einer
Partei Gefolgschaft leisteten, deren Führung
objektiv sowohl wie subjektiv nur die Interes-
sen des Grosskapitals vertritt.
Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst
festzuhalten, dass die nationalsozialistische Be-
wegung in ihrem ersten erfolgreichen Anlauf
sich auf die breiten Schichten des sogenannten
Mittelstandes stützte, also der Millionen priva-
ter und öffentlicher Beamter, der mittleren
Kaufmannschaft und des mittleren und kleinen
Bauerntums. Vom Standpunkt seiner sozialen
Basis gesehen ist der Nationalsozialismus eine
kleinbürgerliche Bewegung, und dies überall,
wo er auftritt. Dieses Kleinbürgertum, das vor-
her im Lager der verschiedenen bürgerlich-de-
mokratischen Parteien stand, musste also eine
innere Wandlung durchgemacht haben, dass es
seinen politischen Standort wechselte. Aus der
sozialen Lage und der ihr entsprechenden psy-
chologischen Struktur des Kleinbürgertums er-
klären sich sowohl die grundsätzlichen Gleich-
heiten wie die Verschiedenheiten der bürger-
lich-liberalen und der nationalsozialistischen
Ideologien.
Das nationalsozialistische Kleinbürgertum ist
das gleiche des kleinbürgerlichen demokrati-
5 65
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
sehen Liberalismus in einer anderen histori-
schen Epoche des Kapitalismus. Der National-
sozialismus bezog seinen Zuwachs in den Wahl-
jahren 1930 bis 1932 fast ausschliesslich aus der
deutschnationalen Partei, der Wirtschaftspar-
tei und den kleineren Splitterparteien des
deutschen Reiches. Nur das katholische Zen-
trum bewahrte sogar in der Preussenwahl 1932
seine Position. Erst bei der Preussenwahl 1932
gelang dem Nationalsozialismus auch ein Ein-
bruch in die Arbeitermassen. Doch nach wie
vor blieb der Mittelstand die Kerntruppe des
Hakenkreuzes. In der schwersten wirtschaftli-
chen Erschütterung des kapitalistischen Sy-
stems seit seinem Bestände trat in Gestalt des
Nationalsozialismus der Mittelstand auf die po-
litische Tribüne und hält den revolutionären
Untergang der kapitalistischen Herrschaft auf.
Die politische Reaktion weiss diese Bedeutung
des Kleinbürgertums sehr richtig einzuschät-
zen. „Der Mittelstand ist für die Existenz eines
Staates von entscheidender Bedeutung", hiess es
in einen Flugblatt der Deutschnationalen vom
8. April 1932.
Die Frage nach der politischen Bedeutung
des Mittelstandes spielte innerhalb der Linken
in den Diskussionen nach dem 30. Januar eine
grosse Rolle. Bis zum 30. Januar war die Be-
achtung des Mittelstandes beträchtlich zu kurz
gekommen, weil alle Interessen von der Beach-
tung der Entwicklung der politischen Reaktion,
der bürgerlichen Staatsführung gefesselt wa-
ren, und die massenpsychologische Fragestel-
lung den Politikern fernlag. Nachher begann
man an verschiedenen Stellen die „Rebellion
66
Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums
des Mittelstandes" in den Vordergrund zu rük-
ken. Verfolgt man die Diskussion über diese
Frage, so kann man feststellen, dass sich zwei
Hauptmeinungen herausbildeten: die eine ver-
trat den Standpunkt, der Faschismus sei „nichts
anderes" als die Parteigarde der Grossbour-
geoisie; die andere übersah diesen Tatbestand
nicht, rückte jedoch die „Rebellion des Mittel-
standes" in den Vordergrund, was ihren Ver-
tretern den Vorwurf eintrug, dass sie die reak-
tionäre Rolle des Faschismus verwischten; man
berief sich dabei auf die Berufung Thyssens zum
Wirtschaftsdiktator, auf die Auflösung der
wirtschaftlichen Mittelstandsorganisationen,
auf das Abblasen der „zweiten Revolution",
kurz auf den ab etwa Ende Juni 1933 immer
mehr und offener hervortretenden nur reaktio-
nären Charakter des Faschismus.
Man konnte einige Unklarheiten in der sehr
heftigen Diskussion feststellen: Die Tatsache,
dass der Nationalsozialismus sich nach der
Machtergreifung immer mehr als imperialisti-
scher Nationalismus des Grossbürgertums ent-
hüllte, der eifrig bestrebt war, alles „Sozialisti-
sche" aus der Bewegung auszuschalten, und den
Krieg mit allen Mitteln vorbereitet, wider-
spricht nicht der anderen Tatsache, dass der Fa-
schismus, von seiner Massenbasis her gesehen,
in der Tat eine Mittelstandsbewegung war. Oh-
ne das Versprechen, den Kampf gegen das
Grosskapital aufzunehmen, hätte Hitler die
Mittelstandsschichten nie gewonnen. Sie ver-
halfen ihm zum Siege, weil sie gegen das Gross-
kapital waren. Unter ihrem Drucke mussten die
führenden Stellen zu anr/kapitalistischen Mass-
67
"-
!
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
nahmen ansetzen, wie sie sie unter dem Drucke
der Grossbourgeoisie wieder abstoppen muss-
ten. Wenn man nicht die Interessen in der
Massenbasis einer politischen Bewegung von
der objektiven Funktion unterscheidet, die ein-
ander widersprechen und in der Ganzheit der
Nazi-Bewegung zunächst vereinigt waren, muss
man an einander vorbeireden, indem der eine die
objektive Rolle des Faschismus, der andere die
subjektiven Interessen der faschistischen Mas-
sen meint, wenn er von „Faschismus" spricht.
In der Gegensätzlichkeit dieser zwei Seiten des
Faschismus sind sämtliche seiner Widersprü-
che begründet, ebenso wie ihre Vereinigung in
der einen Form: „Nationalsozialismus", die
Hitlerbewegung kennzeichnet. Sofern der Na-
tionalsozialismus seinen Charakter als Mittel-
standsbewegung hervorzukehren gezwungen
war (vor der Machtergreifung und knapp nach-
her), ist er in der Tat antikapitalistisch; sofern
rnn?.' M gU u ng "^ Erhaltun g der einmal er-
rungenen Macht - da er das Grosskapital nicht
entrechtet -. immer mehr seinen antikapita-
isischen Charakter abstreift und seine kapita-
listische Funktion immer ausschliesslicher her-
vorkehrt, wird er zum extremen Verfechter und
Festiger der grosskapitalistischen Wirtschafts-
ordnung. Dabei ist völlig gleichgültig, ob und
wieviele seiner Führer ehrlich oder unehrlich
„sozialistisch" (in ihrer Auffassung!) gesinnt
sind, ebensowenig wie, ob und wieviele Volks-
betrüger und Machtjäger sind. Darauf kann
man gründliche antifaschistische Politik nicht
basieren. Aus der Geschichte des italienischen Fa-
schismus hätte man alles für das Verständnis
68
*
Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums
des deutschen Faschismus und seiner Zwie-
spältigkeit lernen können, denn auch der ita-
lienische Faschismus zeigte die beiden genann-
ten einander strikt widersprechenden Seiten
oder Funktionen zu einem Ganzen vereint. 1 )
Diejenigen, die die Funktion der Massenba-
sis des Faschismus entweder leugnen oder nicht
gebührend einschätzen, stehen gebannt in der
grossen historischen Perspektive, dass der Mit-
telstand, weil er weder über die Hauptproduk-
tionsmittel verfügt, noch an ihnen arbeitet, auf
die Dauer keine Geschichte machen kann, daher
zwischen Bourgeoisie und Proletariat hin-
und herschwanken muss. Über der grossen
übersehen sie aber die kleine historische Per-
spektive, dass der Mittelstand wenn auch nicht
auf die Dauer, so doch für geschichtlich kurz
begrenzte Zeit „Geschichte machen" kann und
macht, wie es der italienische und deutsche
Faschismus lehren. Nicht nur die Zerschlagung
der Arbeiterorganisationen, die unzähligen
Opfer, der Einbruch der Barbarei sind dabei
1. In den Parteidiskussionen der Kommunisten herrsch-
te ein grosser Streit über die Frage, ob der Fa-
schismus ein Zeichen der Stärkung oder Schwächung
des Kapitalismus sei: eine mechanische Fragestel-
lung, die unter anderem die revolutionäre Linke spal-
tete und schwächte. Hätte man auf die Wirklichkeit
statt auf Kongressthesen geachtet, so hätte man leicht
feststellen können: gerät der Kapitalismus in wirt-
schaftliche Schwierigkeiten, so gebiert er nationali-
stische Bewegungen — also als Zeichen der Schwäche
zum Zwecke der Festigung der Macht; gelingt es ihm,
den Faschismus gross zu machen, ihm schliesslich
zum Siege zu verhelfen, dann hat sich die reaktio-
näre Massenbewegung aus einem Zeichen der Schwä-
che in ein Zeichen der Stärke verwandelt.
69
r
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
gemeint; sondern vor allem die Verhinderung
der Entwicklung der ökonomischen Krise zur
politischen Umv/älzung der Gesellschaft, zur
sozialen Revolution. Es ist klar: Je grösser
Umfang und Gewicht der Mittelstandsschich-
ten in einer Nation sind, desto entscheidendere
Bedeutung kommt ihnen als zeitlich begrenzt,
aber doch entscheidend wirkender gesellschaft-
licher Kraft zu. Gegenwärtig ergibt sich das ge-
schichtliche Paradoxon, dass der nationalisti-
sche Faschismus in den westlichen Ländern den
internationalen Kommunismus selbst als inter-
nationale Bewegung zu überflügeln beginnt.
Dies nicht sehen, Illusionen über das Fort-
schreiten der revolutionären Bewegung im Ver-
hältnis zu dem der Reaktion haben, bedeutet
schlechthin politischen Selbstmord vorbereiten,
auch wenn die besten Motive zugrundeliegen.
Diese Frage verdient die allergrösste Aufmerk-
samkeit, und es ist weiterhin einleuchtend, dass
der Prozess, der sich gegenwärtig in den Mit-
telstandsschichten aller Länder abspielt, weit
mehr Aufmerksamkeit verdient, als die banale,
bekannte Tatsache, dass der Faschismus extrem-
ste wirtschaftliche und politische Reaktion be-
deutet. Mit dem letzten allein kann man poli-
tisch nichts anfangen, was ja auch die Ge-
schichte zwischen 1928—1933 reichlich bewiesen
hat.
Wenn der Mittelstand wirklich in Bewegung
geriet, in der Gestalt des Faschismus als gesell-
schaftliche Kraft auf die Bühne der Geschichte
trat, so kommt es weniger auf die reaktionäre
Absicht der Hitler und Göring als auf die In-
70
.
Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums
teressen der Mittelstandsschichten an, wenn
man sie gewinnen oder neutralisieren will.
Dass eine faschistische Bewegung überhaupt
existiert, ist zweifellos gesellschaftlicher Aus-
druck der Angst der Grossbourgeoisie vor dem
Bolschewismus in der Phase des drohenden Zu-
sammenbruchs. Dass aber diese faschistische
Bewegung zu einer Massenbewegung werden,
ja an die Macht gelangen kann, was ihre ob-
jektive Funktion, das Grosskapital zu stützen
und die Arbeiterbewegung niederzuschlagen
erst erfüllt, ist nicht mehr eine Frage der In-
teressen der Grossbourgeoisie, sondern eine
Frage der Massenbewegung des Mittelstandes,
die das ermöglicht. Nur unter Beachtung dieser
Gegensätze und Widersprüche, jedes zu seiner
Zeit, kann man die einander widersprechenden
Erscheinungen erfassen und nicht zuletzt müs-
sige Diskussionsstreitereien und Fraktionsbil-
dungen ersparen.
Die Stellung des Mittelstandes ist bestimmt:
durch seine Stellung im kapitalistischen Pro-
duktionsprozesse
durch seine Stellung im kapitalistischen
Staatsapparat,
durch seine besondere familiäre Situation,
lie unmittelbar von der Stellung *» p ™.? uk :
tionsprozess bestimmt ist, aber den Schlüssel
zum Verständnis seiner Ideologie abgibt. Das
ist sofort daran zu sehen, dass die Stellung des
Kleinbauerntums, des Beamtentums und der
mittleren Kaufmannschaft wirtschaftliche Ver-
schiedenheiten zeigt, sich aber durch eine in
den Grundzügen gleichartige familiäre Situ-
ation kennzeichnet.
71
■
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
p£aJ«? e . t ? ntW }. cklun S der kapitalistischen
Produkt.vkrafte d le stetig und rasch fort-
schreitende Mechanisierung der Produktion,
die Zusammenfassung der verschiedenen Pro-
duktionszwe.ge in monopolistische Syndikate
tenden P r S n lT d ?" Grund]a g* der fortschrei-
tenden Proletansierung der kleinbürgerlichen
Kaufleute und Gewerbetreibenden. Der Kon"
*Sa2 U ^l Und ratione "« arbeitenden
kleinen TT V 16 T^ S ewach ^"- verfallen die
kleinen Unternehmungen unrettbar.
dere^zf'erhoffen 4? VOI \ diesem System nichts an-
Darum also geht es' Ob alft"?^ 086 Vernichtu "S-
öde Masse v„„ p~i ? • eme g ross e> graue und
seih» «SSf ~ Proletariat versinken, wo alle das-
£F,e&„"Ä n -^de°r de in dt fc^^S
mahnten die Deutschnationalen vor der Reich,
Präsidentenwahl 1932. Die Nationalsozialisten
gingen nicht so plump vor, eine breite Kluft
zwischen Mittelstand und Proletariat fe der
meh P r a fr n fo?g. aUfZUreiSSen " »» d ^ *£
Auch in der Propaganda der NSDAP spielte
der Kampf gegen die grossen Kaufhäuser eine
grosse Rolle. Doch der Widerspruch zwischen
der Rolle, die der Nationalsozialismus für die
Grossmdustrie spielte, und den Interessen des
Mittelstandes, auf die er sich stützte, kam etwa
in Hitlers Gesprach mit Knickerbocker zum
Ausdruck: „Wir werden die deutsch-amerika-
nischen Beziehungen nicht von einem Kramla-
den abhangig machen (gemeint war das Schick-
72
Zur Massenpsychologie des Kleinbürgert
ums
sal von Woolworth in Berlin) ... die Existenz
derartiger Unternehmungen bedeutet eine För-
derung des Bolschewismus ... Sie zerstören
viele kleine Existenzen. Deshalb werden wir sie
nicht billigen, aber Sie können versichert sein,
dass Ihre Unternehmungen dieser Art in
Deutschland um nichts anders behandelt wer-
den sollen, als ähnliche deutsche Unternehmun-
gen."*) Die ausländischen Privatschulden belas-
teten den Mittelstand ungeheuer. Während
aber Hitler für die Zahlung der Privatschulden
war, weil er aussenpolitisch von der Erfüllung
der Auslandsforderungen abhing, forderten sei-
ne Anhänger die Annulierung dieser Schulden.
Das Kleinbürgertum rebellierte also „gegen das
System", worunter es die „marxistische Herr-
schaft" der Sozialdemokratie verstand, für die
wirklichen marxistischen Tatsachenfeststellun-
gen aber war es unzugänglich.
Es begriff nicht, dass es als gesellschaftliche
Schichte infolge der Entwicklung der Gross-
industrie dem Untergang geweiht ist, es erwies
sich dem Nachweis unzugänglich, dass es im
Kommunismus zwar als Schichte oder Klasse un-
tergeht, als Individuen aber in seiner materiel-
len Existenz gesicherter wäre, wenn auch in an-
derer Form. Aber gerade diese andere Form
schreckte es ab. Es wusste nichts davon, ver-
stand nicht, dass es anders werden muss, und
1. Nach der Machtergreifung in den Monaten März
—April setzte auch ein Massensturm auf die Kaufhäu-
ser ein, der von der Führung der NSDAP sehr bald
abgebremst wurde (Verbot der eigenmächtigen Ein-
griffe in die Wirtschaft, Auflösung von Mittelstands-
organisationen etc.).
73
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
die kommunistische Propaganda verstand es
nicht -- abgesehen von der Unterschätzung des
Kleinbürgertums - die geeignete Form zu fin-
den, ihm sein historisches Schicksal intensiv
genug klar zu machen.
So sehr nun diese Schichten des Kleinbü^er-
tums in der Krise zum organisierten Zusammen-
schluss drängten, die wirtschaftliche Konkur-
renz der kleinen Unternehmungen hatte sich
doch gegen die Grundlegung eines dem des
Proletariats entsprechenden Solidaritätsgefühls
ausgewirkt. Schon infolge seiner sozialen Lage
kann der Kleinbürger sich weder mit seiner so-
zialen Schichte, noch auch mit dem Proletariat
solidarisieren; mit seiner eigenen Schichte
nicht weil da die Konkurrenz vorherrscht, mit
aem Industrieproletariat nicht, weil er gerade
die Proletarisierung am meisten fürchtet
Trotzdem bedeutete die faschistische Bewe-
gung gleichzeitig einen Zusammenschluss des
Kleinbürgertums. Auf welcher massenpsycho-
logischen Basis? p y °
Die Antwort darauf gibt die Stellung des
kleinen und mittleren staatlichen und privaten
Beamtentums. Der durchschnittliche Beamte ist
wirtschaftlich schlechter gestellt als der
durchschnittliche gelernte Industriearbeiter •
die schlechtere Stellung wird zum Teil wettee'
macht durch, die geringfügige Aussicht auf
Karriere, vor allem aber beim Staatsbeamten
durch die lebenslängliche Versorgung. Derart
von der obrigkeitlichen Autorität abhängig, bil-
det sich auch in dieser Schichte eine psycholo-
gische Konkurrenzhaltung gegenüber den Kol-
legen heraus, die der Entwicklung der Klassen-
74
Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums
Solidarität entgegenwirkt. Das soziale Be-
wusstsein des Beamten ist nicht gekennzeichnet
durch das Bewusstsein der Schicksalsgemein-
schaft mit seinen Arbeitskollegen, sondern
durch seine Stellung zur staatlichen Obrigkeit
und zur „Nation". Diese besteht in einer völli-
gen Identifizierung mit der Staatsmacht) beim
privaten Angestellten in einer Identifizierung
mit dem Unternehmen, dem er dient Er ist
ebenso ausgebeutet wie der Industriearbeiter
Warum entwickelt er kein Solidaritätsgefühl
wie dieser? Das beruht auf seiner Zwischen-
stellung zwischen Obrigkeit und Proletariat
Nach oben Untergebener ist er nach unten Ver-
treter dieser Obrigkeit und geniesst als solcher
eine besondere moralische (nicht materielle)
Schutzstellung. Die restlose Ausbildung dieses
massenpsychologischen Typs finden wir in den
Feldwebeln der verschiedenen Armeen
Die Macht dieser Identifizierung mit dem
Dienstgeber erkennen wir in krasser Form bei
et^'d fe sich % deH r "? äUSer ' K — erdienern
Den' Jr* S l Cl V durch Übernahme von Haltung,
Denkart, Auftreten der herrschenden Klasse
restlos verändern und sogar, um die JroSri!
sehe Herkunft zu übertönen, dieses Wesen über-
treiben.
Diese Id entifizierung mit der Behörde, dem
1 1 ' y nte £ »J dentif izierung" versteht die Psychoana-
lyse den Tatbestand, dass eine Person sich mit einer
anderen eins zu fühlen beginnt, Eigenschaften und
Haltungen von ihr übernimmt, die sie früher nicht be-
sass, in der Phantasie sich an ihre Stelle setzen kann-
diesem Prozess liegt eine tatsächliche Veränderung
der sich identifizierenden Person zugrunde, indem sie
Eigenschaften des Vorbildes „in sich aufnimmt".
75
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
Unternehmen, dem Staat, der Nation etc., die
sich in die Formel kleiden lässt: „Ich bin der
Maat, die Behörde, das Unternehmen, die Na-
tion , stellt eine psychische Realität dar und
ist eines der besten Beispiele für eine zur ma-
teriellen Kraft gewordene Ideologie. Zunächst
schwebt dem Angestellten und Beamten nur
das Ideal, so wie der Vorgesetzte zu sein
vor, bis allmählich durch die chronische ma-
terielle Abhängigkeit sich das Wesen im
bmne der herrschenden Klasse umbaut. Stän-
dig den Bhck nach oben gerichtet, bildet
der Kleinbürger eine Schere aus zwischen
seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideo-
logie. Er lebt in kleinen Verhältnissen, aber er
tritt nach aussen repräsentativ auf, dies oft
bis zur Lächerlichkeit übertreibend. Er isst
schlecht und ungenügend, aber er legt grossen
W S rt / uf »händige Kleidung". Der Zylinder
und der Bratenrock werden die materiellen
Symbole dieser Struktur. Und weniges ist für
die massenpsychologische Beurteilung einer Be-
völkerung auf den ersten Blick geeigneter als
die Beobachtung ihrer Kleidung. Durch den
„Blick nach oben unterscheidet sich die klein
bürgerliche Struktur spezifisch von der Klas-
senstruktur des Industriearbeiters.
Wie tief reicht nun diese Identifizierung mit
der Obrigkeit? Dass eine solche besteht, war,
wenn auch anders formuliert, bisher bekannt'
Die Frage ist aber, ob und in welcher Weise
ausser unmittelbar wirkenden wirtschaftlichen
Seinsfaktoren andere, indirekt ökonomisch be-
stimmte, gefühlsmässige Umstände die klein-
bürgerliche Haltung unterbauen und derart fest-
76
Familienbindung und nationales Empfinden
legen, dass die kleinbürgerliche Ideologie auch
in Zeiten der Krise, auch in Zeiten, in denen
die Arbeitslosigkeit die unmittelbare wirtschaft-
liche Basis zerstört, nicht ins Wanken gerät.
Wir sagten früher, dass die wirtschaftliche
Stellung der verschiedenen Schichten des Klein-
bürgertums eine verschiedene, ihre familiäre
Lage aber in den Grundzügen die gleiche sei.
Und in dieser familiären Lage haben wir den
Schlüssel zum gefühlsmässigen Unterbau der
früher beschriebenen Struktur.
4. FAMILIENBINDUNG UND NATIO-
NALES EMPFINDEN
Zunächst ist die familiäre Lage der verschie-
denen Schichten des Kleinbürgertums nicht ge-
sondert von ihrer unmittelbaren wirtschaftli-
chen Stellung. Die Familie bildet dort, wo die
kapitalistische Krise noch nicht zugegriffen
hat, — das Beamtentum ausgenommen — gleich-
zeitig den wirtschaftlichen Kleinbetrieb. In dem
Unternehmen des kleinen Kaufmannes arbeitet
die Familie mit, werden doch dadurch fremde
und teurere Arbeitskräfte erspart. In der klei-
nen und mittleren Bauernwirtschaft ist dieses
Zusammenfallen von Familie und Produktions-
weise noch ausgesprochener. Darauf beruht im
Grunde die Wirtschaftsweise des Grosspatriar-
chats (z. B. Zadruga). Und in dieser innigen
Verflochtenheit von Familie und Wirtschaft
liegt die Lösung der Frage, warum das Bauern-
tum „erdgebunden", „traditionell" und darum
der politischen Reaktion so leicht zugänglich
77
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
ist Das nicht in dem Sinne, dass die Wirt-
schaf tswe.se allein die Erdgebundenheit und
Jie PrnH tt ^ '^^ ta dem Si ™. °ass
die ProdukUonswe.se des Bauern eine strenee
familiäre Bindung aller FamilienmitgHedfr
aneinander erfordert, und diese Bindung setzt
we. gehende sexuelle Unterdrückung und Se
Ten Ba r s -rT k! "W ElSt 3Uf dies « doppel-
ÄÄ S ' ch dann das typische bäuer-
PriJL • ' deSSen Zentrm Verehrung des
SÄ? U " d ^ Patriarchalische 5 £
aü die Seh ; ^- r Werden an anderer Stelle
au* die Schwierigkeiten zurückkommen, denen
ttis e°rZf d 1SCh T e R / gierUng bei der K ° SS
« den finden 1 " *£ d !*! , ?" ft be g e S"ete, «nd
Ä ' ^Ä^ -SS die
„Schon die Möglichkeit der Evu«n.
• den Bauernstandes^ Fundament de Z* Cines geSun "
kann niemals hoch genue e^Lw-l gesamt en Nation
unserer heutigen LSftt SS^S Viele
gesunden Verhältnisses zwischen S* Z° lge des un "
volk. Ein fester Stock fi r L Sta ?; Und Land "
war noch zu allen Zeiten der beste &*' Bauern
ziale Erkrankungen, wie wir sie he^l k * V egen so "
ist aber auch die einzige Lösune % te . Sitzen. Dies
tägliche Brot im inneren Kreislauf •"* X ation das
finden lässt. Industrie und H ai idSl tT Wirtschaf *
ungesunden führenden Stellung 7„rii? , VOn ihrer
sich in den allgemeinen RahmSn eT ner „S? d ^2™
r/ri^ 2 t usgleichswirtschaft e ^üBSafe
.Das ist die Stellungnahme Hitlers So nn
smnig sie wirtschaftlich ist, so wenig e ° der"
/ö
Familienbindung und nationales Empfinden
politischen Reaktion je gelingen kann, die Ent-
wicklung der Grossindustrie und der maschi-
nellen Grosslandwirtschaft und damit den Un-
tergang des Kleinbürgertums und Kleinbauern-
tums auszuschalten, so bedeutungsvoll ist diese
Propaganda massenpsychologisch, so sehr wirkt
sie auf die familiär gebundenen Strukturen der
kleinbürgerlichen Schichten.
Die innige Verflochtenheit von Familienbin-
dung und bäuerlicher Wirtschaftsform musste
nach der Machtergreifung durch die NSDAP
ihren Ausdruck finden. Da die Hitlerbewegung
ihrer Massenbasis und subjektiv-ideologischen
Struktur nach eine Bewegung des Kleinbürger-
tums darstellt, ungeachtet ihrer objektiven
Funktion, die Herrschaft des Grosskapitals zu
festigen, war einer der ersten Schritte, die der
Sicherung der Mittelschichten galten, der Er-
lass über die „Neuordnung der bäuerlichen Be-
sitzverhältnisse" vom 12. Mai 1933, der auf
uralte Formen zurückgreift und von der „un-
löslichen Verbundenheit von Blut und Boden"
ausgeht.
Hier der Wortlaut einiger kennzeichnender
Stellen :
„Die unablösbare Verbundenheit von Blut und Bo-
den ist die unerlässliche Voraussetzung für das ge-
sunde Leben eines Volkes. Die bäuerliche Bodenver-
fassung früherer Jahrhunderte sicherte in Deutsch-
land diese aus dem natürlichen Lebensgefühl des Vol-
kes herausgeborene Verknüpfung auch gesetzlich. Der
Bauernhof war das unveräusserliche Erbe des ange-
stammten Bauerngeschlechts. Artfremdes Recht drang
ein und zerstörte die gesetzliche Grundlage dieser
bäuerlichen Verfassung. Trotzdem bewahrte der deut-
sche Bauer mit gesundem Sinn für seines Volkes Le-
79
v
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
bensgrundlage im Wege der Sitte in vielen Gauen des
Landes den Bauernhof von Geschlecht zu Geschlecht
ungeteilt.
Unabweisbare Pflicht der Regierung des erwachten
Volkes ist die Sicherung der nationalen Erhebung
durch gesetzliche Festlegung der in deutscher Sitte
bewahrten unauflöslichen Verbundenheit von Blut und
Boden durch das bäuerliche Erbhofrecht.
Der in der Anerbenrolle des zuständigen Amtsge-
richts eingetragene land- und forstwirtschaftliche Be-
sitzer (Erbhof) vererbt sich nach dem Anerbenrecht.
Der Eigentümer dieses Erbhofes heisst Bauer. Meh-
rere Erbhöfe hat ein Bauer nicht. Der Bauer hat nur
ein Kind, welches den Erbhof übernehmen kann. Das
ist der Anerbe. Die Miterben werden bis zur wirt-
schaftlichen Selbständigkeit vom Hof versorgt. Ge-
raten sie unverschuldet in Not, so können sie auch in
spateren Jahren noch auf dem Hof Zuflucht suchen
(Heimatzuflucht). Ist der zur Eintragung in die An-
erbenrolle geeinete Hof nicht eingetragen, so besteht
das Recht zur Übernahme kraft Anerbenrechts.
Einen Erbhof kann als Bauer nur besitzen, wer
deutcher Staatsbürger und deutschen Blutes ist Deut-
schen Blutes ist nicht, wer unter seinen Vorfahren im
Mannesstamm oder wer unter seinen übrigen Vor-
fahren bis ins vierte Glied eine Person jüdischer oder
farbiger Herkunft hat. Deutschen Blutes im Sinne
dieses Gesetzes ist aber selbstverständlich jeder Ger
mane. Eine in Zukunft erfolgende Eheschliesung; mit
einer Person nicht deutschen Blutes macht die Nach-
kommen dauernd unfähig, als Besitzer eines Erbhofes
Bauern zu sein.
*n? aS u G ?.T tZ ha \ d ÜLÜT Ck % die Bauernhöfe vor
Überschuldung und schädlicher Zersplitterung im Erb
gange zu schützen, um sie dauernd als Erbe in der
Familie freier Bauern zu erhalten. Zugleich will das
Gesetz auf eine gesunde Verteilung der landwirt
schaftlichen Besitzgrossen hinwirken. Eine grosse An
zahl lebensfähiger kleiner und mittlerer Bauernhöfe"
möglichst gleichmässig über das ganze Land verteilt
ist iür die Gesunderhaltung von Volk und Staat not-
wendig."
80
Die genaue Durchsicht des Gesetzes zwingt
*
Familienbindung und nationales Empfinden
die Frage auf, welche Tendenzen sich in ihm
ausdrücken. Das Gesetz steht in einigem Wider-
spruch zu den Interessen der Grossagrarier, die
auf Aufsaugung sämtlicher mittleren und klei-
neren Bauernwirtschaften zielen, auf eine im-
mer grösser werdende Teilung in Besitzer von
Boden und besitzloses Landproletariat. Dieser
Widerspruch oder Gegensatz wird aber reich-
lich wettgemacht durch ein zweites mächtiges
Interesse der Grossbourgeoisie, den bäuerlichen
Mittelstand zu erhalten, weil er die Massen-
basis ihrer Herrschaft darstellt. Nicht nur ist
der Kleinbesitzer mit dem Grossbesitzer als
Privateigentümer identifiziert; das hätte wenig
Gewicht, wenn nicht mit dem Klein- und Mit-
telbesitz eine ideologische Atmosphäre erhal-
ten bliebe, die der kleinwirtschaftenden Familie,
aus der die besten nationalistischen Krieger
hervorzugehen pflegen und die die Frauen im
Sinne der nationalistischen und kirchlichen Ide-
ologie strukturell verändert. Hier liegt der Hin-
tergrund des vielgenannten „sittlich erhalten-
den Einflusses des gesunden Bauerntums". Diese
Frage ist aber eine sexualökonomische.
Die hier beschriebene Verflechtung von ka-
pitalistischer Produktionsweise und kapitali-
stischer Familie im kleinen Bürgertum ist eine
der vielen Quellen der faschistischen Ideologie
von der „kinderreichen Familie". Doch diese
Frage wird in anderem Zusammenhange noch
wiederkehren.
Der wirtschaftlichen Abgrenzung, der kleinen
Betriebe gegeneinander entspricht die familiäre
Abkapselung und die Konkurrenz der Familien
untereinander, die für das Kleinbürgertum ty-
81
t). Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Pasch.
pisch sind. Schon jetzt wird verständlich, dass
das individualistische Denken, das dem Kollek-
tivgedanken des Kommunismus so sehr entge-
genwirkt, hier seine Quelle hat. Aber dieser
Tatbestand bedarf einer viel ausführlicheren Be-
gründung. 1 )
Diese wirtschaftliche und familiäre Situation
wäre in Anbetracht der natürlichen Organisa-
tion der Menschen unhaltbar, wenn sie nicht
durch weitere Tatbestände gesichert wäre. Dazu
gehört ein bestimmtes Verhältnis von Mann
und Frau, das wir als das patriarchalische be-
zeichnen, und eine bestimmte sexuelle Lebens-
weise.
In seinem Bestreben, sich vom Proletariat
abzugrenzen, kann das städtische Kleinbürger-
tum, da es wirtschaftlich nicht besser gestellt
ist, als das Industrieproletariat, nur auf seine
familiären und sexuellen Lebensformen sich
stützen, die es dann in bestimmter Weise ausbaut.
Was wirtschaftlich unzulänglich ist, muss mora-
lisch kompensiert werden. Dieses Motiv ist beim
Beamtentum das wirksamste Element seiner Iden-
tifizierung mit der Staatsmacht. Da man nicht
so gestellt ist wie die Grossbourgeoisie, gleich-
zeitig aber mit ihr identifiziert ist, müssen die
kulturellen Ideologien wettmachen, was die
1. Trotz der Ideologie „Gemeinnutz geht vor Eigen-
nutz" und dem „korporativen Gedanken" des Fa-
schismus. Die Kernelemente der faschistischen Ideolo-
gie bleiben individualistisch, wie das „Führerprinzip",
die Familienpolitik etc. Das Kollektivistische im Fa-
schismus entstammt den sozialistischen Tendenzen aus
der Massenbasis, wie das Individualistische den In-
teressen des Grosskapitals und der faschistischen Füh-
rung entstammt.
82
Familienbindung und nationales Empfinden
wirtschaftliche Lage nimmt. Die sexuellen und
die von ihnen abhängigen sonstigen kulturellen
Lebensformen dienen im wesentlichen der Ab-
grenzung gegen unten.
Die Summe dieser moralischen Haltungen, die
sich um die Stellung zum Sexuellen gruppieren
und gemeinhin als „Spiessertum" bezeichnet
werden gipfelt in den Vorstellungen — wir
sagen Vorstellungen, nicht Taten - von Ehre
und Pflicht. Man muss die Wirkung dieser bei-
den Worte auf das Kleinbürgertum richtig ein-
schätzen, um es auch der Mühe wert zu halten
sich mit ihnen eingehend zu beschäftigen Keh-
ren sie doch auch in der faschistischen Ideologie
und Rassetheorie immer wieder. Praktisch und
wirklich zwingen ja gerade die kleinbürger-
liche Daseinsweise und der kleinbürgerliche
Warenverkehr vielfach das gerade gegenteilige
Verhalten auf. In der privaten Warenwirtschaft
gehört ein Stück Unehrenhaftigkeit sogar zur
Existenz. Kauft ein Bauer ein Pferd, so wird
er es in jeder Weise entwerten. Verkauft er
das gleiche Pferd ein Jahr später, so wird es
junger besser und tüchtiger geworden sein als
ein Jahr vorher. Die Pflicht beruht auf Ge-
schaftinteressen und nicht auf nationalen Cha-
raktereigenschaften. Die eigene Ware wird im-
m f^ ? le bes *e sein, die fremde immer die
schlechtere. Auftreten und Benehmen der klei-
nen Geschäftsleute zeugen in ihrer Überhöflich-
keit und in ihrer Unterwerfung unter den Kun-
den von dem grausamen Zwang der wirtschaft-
lichen Daseinsweise, die den besten Charakter
auf die Dauer verbiegen muss. Trotzdem spielt
der Begriff der Ehre und der Pflicht im Klein-
83
D.- Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
bürgertum eine so entscheidende Rolle. Das lässt
sich aus Verdeckungsabsichten grob materiel-
ler Herkunft nicht allein erklären. Denn bei
aller Heuchelei, die psychische Ekstase dabei ist
echt. Es fragt sich nur, aus welchen Quellen
sie strömt.
Sie kommt aus Quellen des unbewussten Ge-
fühlslebens, die man zunächst nicht beachtet,
deren Zusammenhang vor allem mit jener Ideo-
logie man typisch und gern übersieht. Die Ana-
lyse des Kleinbürgers lässt aber keinen Zweifel
über die Bedeutung des Zusammenhanges sei-
nes sexuellen Lebens mit seiner Ideologie von
Pflicht und Ehre.
Zunächst spiegelt sich die staatliche und öko-
nomische Stellung des Vaters in seinem patri-
archalischen Verhältnis zur übrigen Familie wie-
der. Der autoritäre Staat hat als seinen Vertre-
ter in jeder Familie, den Vater, wodurch sie
sein Wertvollstes Machtinstrument wird.
Diese Stellung des Vaters gibt seine politi-
sche Rolle wieder und enthüllt die Beziehung
der Familie zum autoritären Staat. Die gleiche
Stellung, die der Vorgesetzte dem Vater gegen-
über im Produktionsprozess einnimmt hält er
selbst innerhalb der Familie fest. Und seine
Untertanenstellung zur Obrigkeit erzeugt er neu
in seinen Kindern, besonders seinen Söhnen
Aus diesen Verhältnissen strömt die passive
hörige Haltung der kleinbürgerlichen Menschen
zu Führergestalten. Und Hitler baut ohne es
in der Tiefe zu ahnen, auf diese Haltungen der
kleinbürgerlichen Massen, wenn er schreibt:
„Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so
feminin veranlagt und eingestellt, dass weniger nüch-
84
Familienbindung und nationales Empfinden
terne Überlegung, vielmehr gefühlsmässige Empfin-
dung sein Denken und Handeln bestimmt."
»Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, son-
dern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht
viel Differenzierungen, sondern ein Positiv oder ein
Negativ, Liebe oder Hass, Recht oder Unrecht, Wahr-
heit oder Lüge, niemals aber halb so und halb so oder
teilweise usw." („Mein Kampf",,' S. 201).
Es handelt sich nicht um eine „Veranlagung",
sondern um ein typisches Beispiel der Repro-
duktion eines gesellschaftlichen Systems in den
Strukturen seiner Mitglieder.
Diese Stellung des Vaters erfordert nämlich
strengste Sexualeinschränkung der Frauen und
Kinder. Entwickeln die Frauen unter kleinbür-
gerlichen Einflüssen eine resignierende Hal-
tung, die unterbaut ist von verdrängter sexuel-
^f. r .^ e kellion, so die Söhne neben einer unter-
tänigen Stellung zur Autorität gleichzeitig
eine starke Identifizierung mit dem Vater, die
später zur gefühlsbetonten Identifizierung mit
jeder Obrigkeit wird. Es wird noch lange ein
ungelöstes Rätsel bleiben, wie es möglich ist,
dass Herstellung und Formierung der psychi-
schen Strukturen der tragenden Schichte einer
Gesellschaft so genau in das ökonomische Ge-
fuge und zu den Zwecken der herrschenden
Klasse passen wie die Teile einer Präzisionsma-
schine. Was wir als massenpsychologische Re-
produktion des ökonomischen Systems einer Ge-
sellschaft beschreiben scheint jedenfalls der
Kernmechanismus des ideologischen Prozesses
zu sein.
Zur Entwicklung der individualistischen
Struktur des Kleinbürgertums trägt die wirt-
85
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
schaftliche und soziale Konkurrenzeinstellung
erst sehr spät bei, und was hier an reaktionä-
ren Ideologien gebildet wird, baut sich sekun-
där auf psychischen Prozessen auf, die sich
schon in der Psyche des Kleinkindes abspielen,
das im Familienmilieu aufwächst. Da ist zu-
nächst die Konkurrenz zwischen den Kindern
und den Erwachsenen, ferner die weittragen-
dere zwischen den Kindern ein und derselben
Familie in ihrer Beziehung zu den Eltern. Diese
Konkurrenz, die später in der Erwachsenheit
und im ausserfamiliären Leben eine überwie-
gend wirtschaftliche ist, spielt sich in der Kind-
heit hauptsächlich an den stark gefühlsbeton-
ten Hass-Liebesbeziehungen der Familienmit-
glieder ab. Hier ist nicht der Ort, diese Zu-
sammenhänge weiter in ihre Details zu ver-
folgen. Das muss Spezialuntersuchungen vor-
behalten bleiben. Hier genügt die Feststellung,
dass die sexuellen Hemmungen und Schwächun-
gen, die die wichtigsten Voraussetzungen des
Bestehens der bürgerlichen Familie bilden und
die wesentlichsten Grundlagen der Struktur-
bildung des kleinbürgerlichen Menschen sind,
ausschlaggebend mit Hilfe der religiösen Angst
durchgesetzt werden, die sich derart mit sexu-
ellem Schuldgefühl erfüllt und gefühlsmässig
tief verankert. Von hier zweigt das Problem
der Beziehung der Religion zur Verneinung der
sexuellen Lust ab. Die sexuelle Schwäche hat
eine Herabsetzung des Selbstbewusstseins zur
Folge, die in dem einen Falle durch Brutali-
sierung des Geschlechtlichen, im anderen durch
besondere Charakterzüge wettgemacht wird. Der
Zwang zur sexuellen Selbstbeherrschung, d. h,
86
Familienbindung und nationales Empfinden
zur Aufrechterhaltung der sexuellen Verdrän-
gung führt zur Entwicklung krampfhafter, be-
sonders gefühlsmässig betonter Vorstellungen
von Ehre und Pflicht, Tapferkeit und Selbst-
beherrschung. 1 ) Die Krampf haftigkeit und Af-
fektbetontheit dieser psychischen Haltungen
steht aber in seltsamem Widerspruch zur Wirk-
lichkeit der persönlichen Verhaltungsweisen.
Der genital befriedigte Primitive ist ehrenhaft,
pflichtbewusst, tapfer und beherrscht, ohne viel
Aufhebens davon zu machen. Diese Haltungen
sind in seiner Persönlichkeit organisch einge-
baut. Der genital Geschwächte, in seiner Sexu-
alstruktur Widerspruchsvolle, muss sich stän-
dig mahnen, seine Sexualität zu beherrschen,
seine sexuelle Ehre zu wahren, tapfer gegen
Versuchungen zu sein u. s. f. Den Kampf gegen
die Versuchung der Onanie macht ausnahmslos
jeder Jugendliche und jedes Kind durch. In
diesem Kampf entwickeln sich ausnahmslos alle
diejenigen Strukturelemente des bürgerlichen
Menschen, die seinen gefühlsmässigen Kern aus-
machen. Im Kleinbürgertum ist diese Struktur
am stärksten ausgebildet und am tiefsten ver-
wurzelt. Aus diesen Quellen, die die zwangs-
mässige Unterdrückung des Geschlechtslebens
schafft, bezieht die Mystik jeder Art ihre
stärksten Energien und zum Teil auch ihre
Inhalte. Sofern die proletarischen Schichten
von den gleichen Einflüssen der bürgerlichen
Gesellschaft erfasst sind, bilden auch ihre Ange-
1. Besonders lehrreich für die Erkenntnis dieser Zu-
sammenhänge ist das Buch des Nationalsozialisten
Ernst Mann „Die Moral der Kraft".
87
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
hörigen die entsprechenden Haltungen aus ; doch
sind im Proletariat infolge seiner speziellen,
vom Kleinbürgertum unterschiedenen Daseins-
weise die gegenteiligen sexualbejahenden Kräf-
te im Individuum weit deutlicher ausgeprägt
und auch bewusster. Die affektive Verankerung
dieser Strukturen mit Hilfe unbewusster Angst,
ihre Verschleierung durch vollkommen asexuell
aussehende psychische Gebilde und Charakter-
züge sind dafür verantwortlich, dass man mit
Argumenten des Verstandes allein an diese tie-
fen Schichten der Persönlichkeit nicht heran-
kommt. Welche Bedeutung diese Feststellung
für die praktische Sexualpolitik hat, werden
wir im letzten Kapitel besprechen.
Der bewusste und der weit bedeutsamere un-
bewusste Kampf gegen die eigenen sexuellen
Ansprüche kann in seiner Bedeutung für die
Umsetzung der materiellen Daseinsweise der
Menschen in die verschiedenen Arten metaphy-
sischen und mystischen Denkens hier nicht im
einzelnen behandelt werden. Wir erwähnen nur
eine solche Art, die für die nationalsozialisti-
sche Ideologie typisch ist. Immer wieder wird
eine Reihe aufgezählt: persönliche Ehre, Sip-
penehre, Stammesehre, Volksehre. Sie ist folge-
richtig aufgestellt nach der Reihenfolge der
Stufen in der individuellen Ideologiebildung, sie
unterlässt es nur, den ökonomisch-soziologi-
schen Boden einzubeziehen: Kapitalismus bzw.
Patriarchat — Eheinstitution — Sexualunter-
drückung — persönlicher Kampf gegen die ei-
gene Sexualität, persönliches kompensatorisches
Ehrgefühl etc. Der äusserste Punkt der Reihe
ist die Ideologie der „Volksehre", Sie ist iden-
83
Familienbindung und nationales Empfinden
tisch mit dem gefühlsmässigen Kern des Na-
tionalgefühls. Zu seinem Verständnis bedarf es
aber einer weiteren Ableitung.
Der Kampf gegen die Sexualität der Kinder
und Jugendlichen von Seiten der vaterrechtli-
chen Gesellschaft und der von ihr abhängige
Kampf im eigenen Ich spielt sich im Rahmen
der Familie ab, die sich bisher als die beste In-
stitution erwies, diesen Kampf auch erfolgreich
durchzufuhren. Die sexuellen Ansprüche drän-
gen natürlicherweise zu jeder Art Berührung
mit der Welt, zu innigem Kontakt mit ihr in
den verschiedensten Formen und Inhalten Wer-
l* n ,?*! ™ ter ? r t ückt > so bleibt ihnen nur die
Möglichkeit sich im engen Familienrahmen zu
betätigen. Sexuelle Hemmung ist ebenso die
Grundlage der familiären Abkapselung der In-
dividuen, wie sie die Grundlage des indiviHnn
listischen Persönlichkeitsbewuitseins is M an "
muss streng beachten, dass metaphysisches in
dividuahstisches und familiär sentimentales Ver-
halten nur verschiedene Seiten ein und dessel-
ben Grundprozesses der Sexualverneinung sTnd
™dt matenaliStiSCheS ' der Wirklichkeit zu'
gewandtes, unmystisches Denken mit lockerer
Haltung zur Familie und zumindest Gleichgül-
tigkeit gegenüber bürgerlicher Sexualideologie
einhergeht. Wichtig ist hier, dass die sexuelle
Hemmung das Mittel der Bindung an die Fa-
milie ist, dass die Versperrung des Weges in
die sexuelle Wirklichkeit der Welt die ur-
sprüngliche biologische Bindung des Kindes
an die Mutter und auch der Mutter an die Kin-
der zur unlösbaren sexuellen Fixierung und zur
Unfähigkeit, andere Bindungen einzugehen, ge-
89
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
staltet.!) Im Kern der Familienbindung wirkt
die Mutterbindung. Die Vorstellung von Heimat
und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäs-
sigen Kern Vorstellungen von Mutter und Fa-
milie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes
im Bürgertum, wie die Familie seine „Nation
im kleinen" ist. So wird verständlich, aus wel-
chem Grunde der Nationalsozialist Goebbels als
Motto zu seinen zehn Geboten im nationalsozia-
listischen Volkskalender 1932 folgende Worte
wählte, zweifellos ohne Kenntnis der tieferen
Zusammenhänge: „Die Heimat ist die Mutter
Deines Lebens, vergiss das nie." Zum „Mutter-
tag" 1933 hiess es im „Angriff":
„Muttertag. Die nationale Revolution hat alles
Kleinliche weggefegt! Ideen führen wieder und führen
zusammen — Familie, Gesellschaft, Volk. Die Idee
des Muttertages ist dazu angetan, das zu ehren, was
die deutsche Idee versinnbildlicht: Die deutsche Mut-
ter! Nirgendwo fällt der Frau und Mutter diese Be-
deutung zu. als im neuen Deutschland. Sie ist die
Wanrenn eines Familienlebens, aus dem die Kräfte
spriessen, die unser Volk wieder aufwärts führen sol-
len, bie — die deutsche Mutter — ist die alleinitre
Trägerin deutschen Volksgedankens. Mit dem Begriff
„Mutter ist „Deutschsein" ewig verbunden — kann
uns etwas enger zusammenführen, als der Gedanke ge-
meinsamer Mutterehrung?" vrcaanse ge
So unwahr diese Sätze wirtschaftlich und so-
zial sind, so sehr treffen sie ideologisch zu.
Das nationale Empfinden ist demnach die di-
1. Der „Ödipuskomplex", deu -Freuet entdeckt hat,
ist also nicht so sehr Ursache, als vielmehr Folge der
gesellschaftlichen Sexualeinschränkung des Kleinkin-
des. Doch setzen die Eltern ganz unbewusst die Ab-
sichten der herrschenden Klasse und Kirche durch.
9Q
Familienbindung und nationales Empfinden
rekte Fortsetzung der familiären Bindung und
wurzelt wie diese zuletzt in der fixierten 1 ) Mut-
terbindung. Das ist nicht biologisch auszulegen.
Denn diese Mutterbindung ist selbst, soweit sie
sich zu familiärer und nationaler Bindung fort-
entwickelt, gesellschaftliches Produkt. Sie wür-
de in der Pubertät anderen Bindungen — etwa
erwachsenen Sexualbeziehungen — Platz ma-
chen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen
des Liebeslebens sie verewigen würden. Erst in
dieser gesellschaftlich begründeten Verewigung
wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des
erwachsenen Menschen, erst hier wird sie zu
einer reaktionären gesellschaftlichen Kraft.
Wenn das Proletariat weit geringere nationale
Einstellungen entwickelt als das Kleinbürger-
tum, so ist das seiner verschiedenen sozialen
und dementsprechend lockereren familiären
Daseinsweise zuzuschreiben.
Man komme jetzt nicht ängstlich mit dem
Vorwurf, dass wir die Soziologie biologisieren,
denn wir haben keinen Augenblick vergessen,
dass diese verschiedene familiäre Daseins-
weise des Proletariats selbst durch seine
Stellung im Produktionsprozess des Kapi-
tals bedingt ist. Man muss sich doch die
Frage vorlegen, warum das Proletariat dem In-
ternationalismus spezifisch zugänglich ist, das
Kleinbürgertum dagegen so stark dem Nationa-
lismus zuneigt. In der objektiven ökonomischen
Lage lässt sich der unterschiedliche Faktor erst
dann feststellen, wenn man die früher beschrie-
benen Beziehungen ihrer Ökonomie und ihres
*) d. h, nie gelösten, unbewusst verankerten.
91
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
familiären Daseins einbezieht. Anders nicht. Es
ist nicht überflüssig zu sagen, dass das merk-
würdige Sträuben mancher marxistischer Theo-
retiker, das familiäre Dasein als gleichwertigen,
was die Verankerung des Gesellschaftssystems
anlangt, sogar entscheidenden Faktor der Ideo-
ogiebildung anzusehen, auf die eigenen fami-
liären Bindungen zurückzuführen ist. Man kann
die Tatsache, dass die familiäre Bindung an die
Klassengesellschaft die intensivste und affekt-
vollste ist, nicht hoch genug einschätzen.i)
Die wesenhafte Einheit von familiärer und
nationaler Ideologie lässt sich weiter verfolgen.
Die Familien sind ebenso gegeneinander abge-
grenzt wie die Nationen im Kapitalismus. Die
Grundlagen hierfür sind in beiden Fällen letzten
»iJ^iÄ* scin « ci ecne Bindung an Familie und Mutter
nicht überwunden hat, oder sie zumindest durch i Klar
52* SS lV- nC u Urtei ! c ? ausschaltet, der unterlasse es
die dialektisch-materialistische Methode auf dem Gel
biete der Ideologiebildung anzuwenden. Wer diese
Dinge als „Freudismus" abtun wollte, würde damit
nur seinen wissenschaftlichen Kretinismus beweisen
Man soll argumentieren und nicht schwätzen, ohne
Sachkenntnis zu besitzen. Freud hat den ödiniUw«"
plex entdeckt. Ohne diese Entdeckung Twärerevom"
tionare Familienpolitik unmöglich. Aber Freud ist Z
einer derartigen Auswertung und soziologischen T«
terpretation der Familienbindung ebenso weit enT
fernt, wie der mechanische Ökonomist vom Versta«,*
nis der Sexualität als geschichtlichen Faktors M an
weise etwaige falsche Anwendung des dialektischen
Materialismus nach, aber man leugne nicht Tatsachen
die jeder klassenbewusste Arbeiter genau k^ntt l'
Freud den Ödipuskomplex entdecktl Und C 'erk
üige die nationalsozialistische Kulturfront nicht mit
Schlagworten, sondern mit Wissen. Irrtümer sind mög
lieh und korrigierbar, aber wissenschaftliche Borniert-
heit ist konterrevolutionär.
92
Familienbindung und nationales Empfinden
Endes wirtschaftliche Motive. Die Familie des
Kleinbürgers (Beamten, kleinen Angestellten
usw.) steht unter dem ständigen Druck von
Nahrungs- und sonstigen materiellen Sorgen.
Die wirtschaftliche Expansionstendenz der kin-
derreichen Kleinbürgerfamilie reproduziert so-
mit gleichzeitig die imperialistische Ideologie:
„Nation braucht Raum und Nahrung". Deshalb
muss der Kleinbürger der imperialistischen Ide-
ologie besonders leicht zugänglich sein. Er ver-
mag sich mit der personifiziert gedachten Na-
tion voll zu identifizieren. Derart reproduziert
sich der objektive staatliche Imperialismus ide-
ologisch im subjektiven familiären Imperia-
lismus.
In diesem Zusammenhang interessant sind
Sätze von Goebbels aus der Broschüre „Die ver-
fluchten Hakenkreuzler" (Eher-Verlag, Mün-
chen, S. 18 u. S. 16), die er als Antwort auf
die Frage, ob der Jude ein Mensch sei, schrieb:
„Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mit-
ten durchs Gesicht schlägt, sagst du dann auch: Danke
schön! Er ist auch ein Mensch I? Das ist kein Mensch,
das ist ein Unmensch! Wieviel Schlimmeres hat der
Jude unserer Mutter Deutschland (v. Ref. gesp.) an-
getan und tut es ihr heute noch an! Er (der Jude)
hat unsere Rasse verdorben, unsere Kraft angefault,
unsere Sitte unterhöhlt und unsere Kraft gebrochen ...
Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls ...
beginnt sein verbrecherisches Schächtwerk an den
Völkern."
Man muss die Bedeutung der Vorstellung von
der Kastration als der Strafe für sexuelle Ver-
gehen und sexuelles Begehren kennen, man
muss den sexual-psychologischen Hintergrund
der Ritualmordphantasien wie des Antisemitis-
93
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
}
t
> v
"
mus überhaupt erfassen und zudem das sexuelle
Schuldgefühl und die sexuelle Angst des klein-
bürgerlichen Menschen richtig einschätzen, um
beurteilen zu können, wie solche vom Schreiber
unbewusst abgefassten Sätze auf das unbewusste
Gemütsleben der Leser aus den Massen ein-
wirken. Hier liegt die psychologische Wurzel
des Antisemitismus der Nationalsozialisten. Das
sollten nur Vernebelungsaktionen sein? Gewiss,
auch Vernebelung. Aber daneben übersah man
leicht, dass der Faschismus ideologisch das Auf-
bäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich
totkranken Gesellschaft gegen die schmerzhaf-
ten, aber entschiedenen Tendenzen des Bolsche-
wismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen
Freiheit ist, einer Freiheit, bei deren blossen
Vorstellung den bürgerlichen Menschen Todes-
angst überkommt. Das heisst: mit der Herstel-
lung der ökonomischen Freiheit durch den
Kommunismus geht eine Auflösung der alten
ideologischen und kulturellen sowie insbeson-
dere sexuellen Einrichtungen einher, der der
bürgerliche Mensch und auch der Proletarier
soweit er bürgerlich fühlt, nicht ohne weiteres
gewachsen ist. Insbesondere die Angst vor der
„sexuellen Freiheit", die sich in der Vorstel-
lung des bürgerlichen Denkens als sexuelles
Chaos und sexuelle Verlotterung darstellt, wirkt
sich hemmend gegenüber der Sehnsucht nach
Freiheit vom Joch der wirtschaftlichen Aus-
beutung aus. Das gilt nur so lange, als eben
diese Vorstellung vom sexuellen Chaos bestehen
kann. Und sie kann nur bestehen infolge der
Ungeklärtheit dieser so sehr entscheidenden
Fragen in den Massen. Daher gehört die Se-
: .94
Familienbindung und nationales Empfinden
xualpolitik in das Zentrum der Politik über-
haupt. Und je höher die Stufe des Kapitalismus,
je weiter und tiefer die ideologische Verbürger-
lichung des Proletariats somit gegriffen hat, de-
sto entscheidendere Bedeutung gewinnt die re-
volutionäre Arbeit an der kulturellen Front, als
deren Kernelement wir die sexualpolitische Ar-
beit erkennen.
In diesem Zusammenspiel der wirtschaftlichen
und ideologischen Tatbestände stellt sich die
bürgerliche Familie als erste und wesentlichste
Reproduktionsstätte des kapitalistischen bzw.
privatwirtschaftlichen Systems, als seine Ideo-
logie und Strukturfabrik dar. Der „Schutz der
Familie" ist daher das erste Gebot der reaktio-
nären Kulturpolitik. Wesentlich verbirgt sich
dies ideologisch hinter der Phrase des „Schut-
zes des Staates, der Kultur und der Zivilisation."
In einem Wahlaufruf der NSDAP zu den Prä-
sidentenwahlen 1932 (Adolf Hitler: „Mein Pro-
gramm") hiess es:
„Die Frau ist von Natur und Schicksal die Lebens-
gefährtin des Mannes. Beide sind dadurch aber nicht
nur Lebens-, sondern auch Arbeitsgenossen. So wie
die wirtschaftliche Entwicklung der Jahrtausende die
Arbeitsbereiche des Mannes veränderte, veränderte
sie logisch auch die Arbeitsgebiete der Frau. Über
dem Zwang zur gemeinsamen Arbeit steht über Mann
und Frau noch die Pflicht, den Menschen selbst zu
erhalten. In dieser edelsten Mission der Geschlechter
liegen auch ihre besonderen Veranlagungen begründet,
die die Vorsehung in ihrer urewigen Weisheit als un-
veränderlich den beiden gab. Es ist daher die höch-
ste Aufgabe, den beiden Lebensgefährten und Arbeits-
genossen auf der Welt die Bildung der Familie zu er-
möglichen. Ihre endgültige Zerstörung würde das
Ende jedes höheren Menschentums bedeuten. So gross
die Tätigkeitsbereiche der Frau gezogen werden kön-
95
■ ■II
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
nen, so muss doch das letzte Ziel einer wahrhaft or-
ganischen und logischen Entwicklung immer wieder in
der Bildung der Familie liegen. Sie ist die kleinste,
aber wertvollste Einheit im Aufbau des ganzen Staats-
gefüges. Die Arbeit ehrt die Frau wie den Mann. Das
Kind aber adelt die Mutter."
In dem gleichen Aufruf hiess es unter der
Überschrift „Rettung des Bauernstandes heisst
Rettung der deutschen Nation":
„Ich sehe weiter in der Erhaltung und Förderung
eines gesunden Bauerntums den besten Schutz gegen
soziale Erkrankungen sowohl als gegen das rassische
Verkommen unseres Volkes."
Man darf hier an die traditionelle Familien-
bindung des Bauerntums keinen Augenblick
vergessen, wenn man nicht fehlgehen will. Wei-
ter:
„Ich glaube, dass ein Volk zur Erhöhung seines
Widerstandes nicht nur nach vernunftmässigen Grün-
den leben soll, sondern dass es auch eines geistigen
und religiösen Haltes bedarf. Die Vergiftung und
Zersetzung des Volkskörpers durch die Erscheinungen
unseres Kulturbolschewismus sind fast noch verhee-
render, als die Wirkung des politischen und wirt-
schaftlichen Kommunismus."
Als eine Partei, die sich ebenso wie der italie-
nische Faschismus als die Vertreterin des Gross-
agrariertums betätigt, muss die NSDAP die
Massen der Klein- und Mittelbauern gewinnen,
sich in ihnen eine soziale Basis schaffen. Dabei
kann sie natürlich nicht die Interessen des
Grossagrariertums zur Propaganda herausstrei-
chen, sondern sie kann nichts anderes, als an die
Strukturen der Kleinbauern appellieren, wie sie
durch Zusammenfallen der familiären und wirt-
96
Familienbindung und nationales Empfinden
schaftlichen Daseinsweise erzeugt wurden. Nur
vom Standpunkt dieser Schichte des Kleinbür-
gertums gilt der Satz, dass Mann und Frau Ar-
beitgenossen sind. Das gilt nicht für das Prole-
tariat. Es gilt auch für den Bauern nur formal,
denn die Bauernfrau ist in Wirklichkeit die
Magd des Bauern. Doch entscheidend ist, dass
die faschistische Ideologie vom hierarchischen
Aufbau des Staates in dem hierarchischen Auf-
bau der Bauernfamilie vorgebildet und verwirk-
licht ist. Die Bauernfamilie ist eine Nation im
kleinen und jedes Milglied dieser Familie ist
mit dieser kleinen Nation identifiziert. Der Bo-
den für die Aufnahme der ganz anders, näm-
lich in den Gesetzen des Kapitalismus begrün-
deten grossimperialistischen Ideologie ist somit
in der Bauernschaft und überall dort im Klein-
bürgertum, wo wirtschaftlicher Kleinbetrieb und
Familie zusammenfallen, geschaffen. Dabei fällt
aber die Idealisierung der Mutterschaft auf. Wie
hängt diese Idealisierung mit der politischen
Sexualreaktion zusammen?
5. DAS NATIONALISTISCHE SELBST-
GEFÜHL
In der massenindividuellen Struktur des
Kleinbürgers fallen nationale und familiäre Bin-
dung zusammen. Diese Bindung wird besonders
intensiviert durch einen Prozess, der ihr nicht
nur parallel läuft, sondern sich vielmehr aus ihr
ableitet. Der nationalistische Führer bedeutet
massenpsychologisch die Verkörperung der Na-
tion. Nur insofern dieser Führer die Nation ent-
7 97
I
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
sprechend dem nationalen Fühlen der Massen
verkörpert, entsteht auch eine persönliche Bin-
dung an ihn. Sofern er in den Massenindividuen
die historisch ausschlaggebenden familiären Ge-
fühlsbindungen zu erwecken versteht, ist er
gleichzeitig eine Vatergestalt, d. h. er konzen-
triert auf sich alle die affektiven Einstellungen,
die seinerzeit dem strengen, aber auch schützen-
den und repräsentativen Vater (repräsentativ
zumindest in der Vorstellung des Kindes) gal-
ten. Man hörte oft von nationalsozialistischen
Parteigängern, mit denen man über die Unnah-
barkeit des so widerspruchsvollen Programms
der NSDAP sprach, Hitler verstünde das alles
so viel besser, er würde schon alles schaffen.
Hier kommt die kindliche Schutzeinstellung zum
Vater deutlich zum Ausdruck. Noch wesentli-
cher ist aber die Identifizierung der Massenin-
dividuen mit dem Führer. Sie ist von entschei-
dender Bedeutung bei der Taktik der revolutio-
nären Partei, die die Loslösung der Anhänger
einer anderen Partei von ihren Führern zum Zie-
le hat. Je hilfloser das Massenindividuum auf-
grund seiner Erziehung in Wirklichkeit ist, de-
sto stärker prägt sich dann die Identifizierung
mit dem Führer aus, desto mehr verkleidet sich
das kindliche Anlehnungsbedürfnis in die Form
des Sich-mit-dem-Führer-eins-Fühlens. Diese
Identifizierungsneigung des kleinbürgerlichen
Menschen ist die psychologische Grundlage sei-
nes nationalen Narzissmus, d. h. seines der „Grös-
se der Nation" entliehenen Selbstgefühls. Der
Kleinbürger entdeckt sich selbst im Führer, im
autoritären Staat, er fühlt sich aufgrund dieser
Identifizierung als Verteidiger des „Volkstums",
98
l
Das nationalistische Selbstgefühl
der „Nation", was nicht hindert, dass er gleich-
zeitig, ebenfalls aufgrund dieser Identifizierung,
die Masse verachtet und sich ihr individuell ge-
genüberstellt. Seine materielle und sexuelle
Elendslage erstickt psychologisch in der ihn er-
höhenden Idee des Herrentums und genialen
Führertums, so sehr, dass er in geeigneten Au-
genblicken sein völliges Herabsinken und Her-
abgedrücktwerden zur bedeutungslosen, kritik-
losen Gefolgschaft nicht wahrnimmt. Im Gegen-
satze dazu ist der klassenbewusste Arbeiter, also
derjenige, der die kleinbürgerliche Struktur in
sich ausser Funktion gesetzt oder durch Schu-
lung und anderes vertilgt hat, mit seiner Klasse
statt mit dem Führer, mit der internationalen
werktätigen Masse statt mit der nationalen Hei-
mat identifiziert. Er fühlt sich selbst als Führer,
nicht aufgrund einer Identifizierung, sondern
aufgrund dieses Bewusstseins, der notwendiger-
weise aufsteigenden Klasse anzugehören. Welche
psychologischen Kräfte entscheiden dabei? Das
ist nicht schwer zu beantworten. Die Affekte,
die diesem so verschiedenen massenpsychologi-
schen Typ zugrundeliegen, sind die gleichen
wie die bei Nationalisten. Nur der Inhalt der
Gefühlserregung ist verschieden. Der Drang zur
Identifikation ist der gleiche, aber ihr Objekt
sind der Klassengenosse anstelle des Führers,
die eigene Klasse anstelle der herrschenden, die
unterdrückten Völker der Erde anstelle der Fa-
milie. Hier steht Kollektivismus gegen Indivi-
dualismus, was keineswegs bedeutet, dass der
Arbeiter dadurch aufhört, sein Persönlichkeits-
bewusstsein zu nähren, wie ja auch der indivi-
dualistische Kleinbürger in der Krise vom
99
r
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
„Dienst an der Gemeinschaft", von „Gemeinnutz
geht vor Eigennutz" zu schwärmen beginnt.
WAber der verschiedene Inhalt dieses Persönlich-
keitsbewusstseins macht es möglich, dass das
kollektivistische Fühlen beim Arbeiter nicht in
Gegensatz zum individualistischen tritt, son-
dern sich gerade aus diesem Kollektivbewusst-
sein ableitet. Es ist also falsch, wenn in manchen
kommunistischen Theorien die Meinung zum
Ausdruck kommt, als ob das kollektivistische
Fühlen mit dem individualistischen in absolutem
Gegensatz stünde. Das ist auch von Marx nie
derart verstanden worden.
Wir müssen nun noch fragen, welcher Tatbe-
stand der Energie der Identifizierung und Bin-
dung eine so gänzlich verschiedene Richtung
beim klassenbewussten Arbeiter gibt. Klassen-
massig, im grossen Masstabe betrachtet, ist es in
erster Linie die kollektive Produktionsweise in
der Fabrik, die in krassem Gegensatz steht zur
individuellen Arbeitsweise beim Bauer oder
kleinen Kaufmann. Aber, wie immer, müssen wir
auch hier fragen, mit welchen Mitteln sich die-
se verschiedene Daseinsweise verschieden um-
setzt. Die soziale Lage ist ja nur die äussere
Bedingung, allerdings die zuerst entscheidende,
die den ideologischen Prozess im Massenindivi-
duum bestimmt. Die Triebkräfte sind zu erfor-
schen, mit deren Hilfe die verschiedenen Inhalte
der politischen Welt zu ausschliesslicher Herr-
schaft im Gefühlsleben gelangen. Da steht nun
zunächst fest: Der Hunger ist es nicht, er ist
zumindest nicht der ausschlaggebende Faktor
sonst wäre die internationale Revolution längst
da. So sehr diese Feststellung althergebrachte
100
■■
Das nationalistische Selbstgefühl
vulgäre Vorstellungen zu stürzen geeignet ist,
an ihr ist nicht zu rütteln.
Wenn soziologisch bornierte Psychoanalytiker
die Revolution aus der infantilen Revolte gegen
den Vater erklären, so haben sie den Revolutio-
när aus intellektuellen Kreisen im Auge, bei
dem dieser Faktor in der Tat entscheidend ist.
Das trifft aber nicht für die Arbeiterklasse zu.
Die Unterdrückung der Kinder durch die Väter
ist in der Arbeiterschaft nicht geringer, ja
manchmal brutaler, als im Kleinbürgertum. Das
kommt also nicht in Frage. Wollen wir diese
Frage beantworten, so müssen wir nach dem spe-
zifisch Unterscheidenden suchen, und das fin-
den wir in der Produktionsweise dieser Schich-
ten und in der von ihr abhängigen Einstellung
zur Sexualität. Um keinem Misverständnis zu
verfallen: Die Sexualität wird auch im Proleta-
riat von den Eltern unterdrückt. Aber die Wi-
dersprüche, denen die Arbeiterkinder ausge-
setzt sind, sind im Kleinbürgertum nicht vorhan-
den. Im Kleinbürgertum sehen wir nur Unter-
drückung des Geschlechtslebens. Was in dieser
Schichte als der Moral widersprechende Sexual-
betätigung zum Vorschein kommt, ist reiner
Ausdruck des Widerspruches zwischen sexuel-
lem Drang und sexueller Hemmung. Beim Pro-
letariat ist das anders. Neben der kleinbürgerli-
chen Ideologie enthält es hier mehr, dort weni-
ger ausgesprochen seine eigenen sexuellen An-
schauungen, die jenen gerade entgegengesetzt
sind. Dazu kommt der Widerspruch aus der
Wohnungsweise und dem kollektivistischen Da-
sein im Betrieb. Das alles wirkt der kleinbür-
gerlichen Sexualideologie entgegen.
101
TW
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
Der Durchschnittstypus des Proletariers un-
terscheidet sich demnach vom Durchschnittstyp
des Kleinbürgers durch seine offene und selbst-
verständliche Haltung zur Sexualfrage, mag er
ausserdem noch so unklar und verbürgerlicht
sein. Er erweist sich immer sexualökonomischer
Anschauung als unvergleichlich zugänglicher,
als der typische Kleinbürger. Und das, was ihn
zugänglicher macht, ist das Fehlen gerade der-
jenigen Haltungen, die wir in der nationalsozia-
listischen und kirchlichen Ideologie zentral fin-
den: der Identifizierung mit der Staatsmacht,
dem „obersten Führer", der Nation. Auch dies
beweist, dass die Kernelemente der nationalso-
zialistischen Ideologie sexualökonomischen Ur-
sprungs sind. Beide, sowohl nationalistische Ide-
ologie, als auch die Art der Sexualökonomie,
sind natürlich letzten Endes durch die verschie-
dene Klassenlage bedingt.
Dass das Kleinbauerntum infolge seiner in-
dividualistischen Wirtschaft und der so grossen
Abhängigkeit von der familiären Isolierung zum
Bewusstsein seiner Klassenlage so schwer ge-
langen kann, dagegen der Ideologie der politi-
schen Reaktion so leicht zugänglich ist, dass
dies der Grund der Schere zwischen sozialer
Lage und Ideologie ist, haben wir bereits aus-
geführt. Gekennzeichnet durch strengstes Pa-
triarchat und dementsprechende Moral entwic-
kelt es aber doch proletarische — wenn auch
total verzerrte — Formen in seinem Sexualle-
ben. Wie im Proletariat — im Gegensatz zum
Kleinbürgertum — beginnt auch in der Bauern-
schaft die Jugend früh mit dem Geschlechtsver-
kehr; sie ist aber infolge der strengen patriar-
102
,
1
Das nationalistische Selbstgefühl
chalischen Erziehung sehr gestört oder aber
brutal, das Geschlechtsleben spielt sich heimlich
ab, die Geschlechtskälte der Mädchen ist Regel,
Sexualmorde und brutale Eifersucht sowie
Knechtung der Frauen sind typische bäuerliche
Sexualerscheinungen. Die Hysterie wütet nir-
gends so sehr wie auf dem Lande. Die Ehe ist
das wirtschaftlich streng diktierte Endziel der
Erziehung.
In der Industriearbeiterschaft hat sich in den
letzten Jahrzehnten ein ideologischer Prozess
abgespielt, den man in der sogenannten Arbei-
teraristokratie in Reinkultur sehen kann, der
aber auch die durchschnittliche Industriearbei-
terschaft nicht verschont hat. Es handelt sich
um die sogenannte Verbürgerlichung des Prole-
tariats in der Epoche der bürgerlichen Demo-
kratie. Um zu begreifen, auf welchem Wege der
Faschismus in die Arbeiterschaft, wenn auch
sehr spät, gewöhnlich dann, wenn das Kleinbür-
gertum bereits die Massenbasis gebildet hat,
eindringen kann, muss man den ideologischen
Prozess im Proletariat im Übergang von der bür-
gerlichen Demokratie zu den vorbereitenden
Phasen der Diktatur der Notverordnungen, der
Ausschaltung des Parlaments bis zur offenen
faschistischen Diktatur verfolgen.
ob
6. IDEOLOGISCHE VERBÜRGERLI-
CHUNG DES PROLETARIATS
Der Faschismus dringt in die Arbeiterkreise
von zwei Seiten ein: durch das sogenannte
„Lumpenproletariat" (ein Ausdruck, gegen den
103
i
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
<F*
sich alles sträubt) mithilfe direkter materieller
Korrumpierung und durch die „Arbeiteraristo-
kratie" sowohl mithilfe von materieller Korrup-
tion, als auch ideologischer Beeinflussung.
Wenn von Irreführung des Proletariats gespro-
chen wird, so bleibt doch eine Reihe von Fra-
gen ungelöst. Es ist zwar richtig, der Faschis-
mus verspricht in seiner politischen Skrupello-
sigkeit jedem jedes: so zum Beispiel hiess es in
einem Artikel von Dr. Jarmer „Kapitalismus"
(„Angriff", 24.-9.-31.):
„Hugenberg hat sich auf dem deutschnationalen Par-
teitag in Stettin mit erfreulicher Deutlichkeit gegen
den internationalen Kapitalismus gewandt. Er hat aber
gleichzeitig betont, dass ein nationaler Kapitalismus
notwendig wäre."
„Damit hat er zugleich erneut die Trennungslinie
zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten
gezogen; denn diese sind sich darüber klar, dass die
jetzt auf der ganzen Welt zusammenbrechende kapi-
talistische Wirtschaftsordnung durch eine andere er-
setzt werden muss, weil selbst beim nationalen Kapi-
talismus keine Gerechtigkeit herrschen kann."
Das klingt fast kommunistisch. Hier appel-
liert der faschistische Propagandist direkt und
mit bewusst betrügerischer Absicht an das revo-
lutionäre Klassenbewusstsein des Industriear-
beiters. Die grosse Frage ist aber, warum die
nationalsozialistische Industriearbeiterschaft
nicht bald erkennt, dass der Faschismus jedem
jedes verspricht. Es ist ebenso bekannt gewor-
den, dass Hitler mit Grossindustriellen verhan-
delte, von ihnen Geld bekam und Streikverbot
versprach. Es muss an der psychologischen Struk-
tur des durchschnittlichen Arbeiters liegen,
dass sich ein solcher Widerspruch in ihm nicht
auswirkt, trotz intensiver kommunistischer Auf-
104
Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats
deckungsarbeit. Im Gespräch mit dem amerika-
nischen Journalisten Knickerbocker sagte Hit-
ler zur Frage der Anerkennung der ausländi-
schen Privatschulden:
„Ich bin überzeugt davon, dass die internationalen
Bankiers bald einsehen werden, dass Deutschland un-
ter einer nationalsozialistischen Regierung ein siche-
rer Anlageort ist, dass ein Zinsfuss von rund 3 % für
Kredite bereitwilligst zugestanden werden wird. )
Wenn die revolutionäre Propaganda die kar-
dinale Aufgabe hat, das Prolatariat zu „entne-
beln", so kann das nicht einfach dadurch ge-
schehen, dass man an sein notabene unentwickel-
tes bzw. unreines Klassenbewusstsein appelliert,
auch nicht allein dadurch, dass man ihm die
objektive ökonomische und politische Lage
ständig vor Augen führt, gewiss nicht allein
dadurch, dass man den an ihm geübten Betrug
ständig entlarvt. Die allererste Aufgabe der re-
volutionären Propaganda ist die verständnis-
vollste Rücksichtnahme auf die Widersprüche
im Arbeiter, auf die Tatsache, dass nicht etwa
ein klares Klassenbewusstsein überdeckt oder
vernebelt ist, sondern dass die das Klassenbe-
wusstsein bildenden Elemente der psychischen
Struktur teils unentwickelt, teil durchsetzt mit
gegenteiligen kleinbürgerlichen Strukturbe-
standteilen sind. Das Herausdestillieren des
Klassenbewusstseins der breiten Massen ist
wohl die Grundaufgabe der Propaganda.
In Zeiten der „ruhigen" bürgerlichen Demo-
kratie stehen dem beschäftigten Industriearbei-
ter zwei grundsätzliche Möglichkeiten offen:
die Identifizierung mit dem ideologisch gesehen
l ) „Deutschland so oder so", S. 211.
105
'*
Iß
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
über ihm stehenden Kleinbürgertum oder die
Identifizierung mit seiner Klasse, die schon im
Kapitalismus eigene Lebensformen entwickelt,
welche konträr sind zu den bürgerlichen. Das er-
ste bedeutet den Kleinbürger beneiden, ihn nach-
ahmen und, venn die materielle Möglichkeit sich
ergibt, seine Lebensgewohnheiten ganz aufneh-
men. Das zweite bedeutet, diese Ideologien und
Lebensgewohnheiten des Kleinbürgers ablehnen,
sich von ihm abgrenzen, ihn verneinen und die
eigene Lebensart betonen und zur Schau tra-
gen. Infolge der gleichzeitig einwirkenden ge-
sellschaftlichen und der klassenmässigen Daseins-
weise sind beide Möglichkeiten gleich stark,
jedenfalls stehen beide offen. Die revolutionäre
Bewegung hat auch die Bedeutung der dem An-
scheine nach nebensächlichen kleinen Gewohn-
heiten des Alltags nicht richtig eingeschätzt, ja
sehr oft sie in falscher Weise ausgenützt. Das
kleinbürgerliche Schlafzimmer, das sich der
Prolet anschafft, sobald er Möglichkeiten dazu
hat, auch wenn er sonst klassenbewusst ist, die
dazugehörige Unterdrückung der Frau, auch
wenn er Kommunist ist, die „anständige" Klei-
dung am Sonntag, der kleinbürgerliche Tanz
und tausend andere „Kleinigkeiten" haben bei
chronischer Wirkung unvergleichlich mehr kon-
terrevolutionären Einfluss, als tausende von
Versammlungsreden und Flugzetteln gutma-
chen können. Das kleinbürgerliche Leben wirkt
unausgesetzt, dringt in jede Ritze des Alltags
ein, die Fabriksarbeit und der Flugzettel wir-
ken dagegen nur stundenweise. Es ist daher ein
schwerer Fehler, wenn man den kleinbürgerli-
chen Instinkten der Arbeiterschaft Rechnung
,06
_-
Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats
trägt, indem man, „um an die Massen heranzu-
kommen", kleinbürgerliche Feste veranstaltet,
ohne gleichzeitig das Kleinbürgerliche ausser
Funktion zu setzen und die keimenden proleta-
rischen Lebensformen mit allen Mitteln hervor-
zutreiben. Mit allen Mitteln der Propaganda. In
dem „Abendkleid", das sich eine Arbeiterfrau zu
einem solchen „Fest" anlegt, liegt mehr Wahr-
heit über die Psychologie des Arbeiters im Ka-
pitalismus als in hundert Artikeln. Das Abend-
kleid oder das familiäre Biertrinken sind ja nur
äusserer Ausdruck eines Vorganges in dem be-
treffenden Arbeiter, ein Zeichen dafür, dass die
Anlage zum Empfang sozialdemokratischer oder
nationalsozialistischer Propaganda bereits vor-
handen ist. Wenn dann der Faschist noch dazu
Abschaffung des Proletariats verspricht und da-
mit Erfolg hat, so hat in 90 von 100 Fällen nicht
sein Wirtschaftsprogramm, sondern das Abend-
kleid gewirkt. Wir müssen mehr, viel mehr, auf
diese Dinge des Alltagslebens achten. An ihnen
formiert sich das Klassenbewusstsein oder das
Gegenteil konkret, nicht an den Phrasen und
Worten, die nur augenblickliche Begeisterung
wecken. Hier wartet wichtige und fruchtbare
Arbeit. Die revolutionäre Massenarbeit in
Deutschland beschränkte sich fast ausschliess-
lich auf die Propaganda gegen den Hunger. Wie
es sich zeigte, war das eine zu schmale Basis, wenn
auch das wichtigste Argument. Das Leben der
Massenindividuen spielt sich in tausendfältigen
Dingen hinter der Kulisse ab. Der jugendliche
Arbeiter etwa hat tausend Sorgen sexueller und
kultureller Natur, die ihn beherrschen, sobald
er seinen Hunger nur ein wenig gestillt hat. Der
•#
107
;
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
Kampf gegen Hunger steht in erster Front, aber
er darf nicht allein dastehen, die Kulissenvor-
gange des menschlichen Lebens müssen in das
grellste Licht der Bühne des Affenteaters, in
dem wir Zuschauer und Mitwirkende gleichzei-
tig sind, energisch, ohne Rückhalt und beden-
kenlos gerückt werden.
Es würde sich zeigen, dass das Proletariat
schon im Kapitalismus unendlich schöpferisch
wäre in den Versuchen, seine Lebensformen
und Anschauungsweisen zu demonstrieren. Ein
Eindringen der Politik in die feinsten Ritzen
des Alltags würde jene Affekte und Gefühle in
die kleinbürgerlich durchseuchten Massen tra-
gen, die den trockenen politischen Tatbestän-
den unüberwindlichen Schwung verleihen wür-
den. Eine detaillierte, konkrete, sachgemässe
Durcharbeitung dieser Fragen ist unerlässlich.
Sie wird den Sieg der Revolution sichern und
beschleunigen. Man komme nicht mit dem öden
Einwand, solche Vorschläge seien nur Mittel,
Illusionen zu wecken, als ob sich der Mensch im
Kapitalismus verändern könnte. Dieser Kampf
um Hervorkehrung aller Ansätze proletarischer
Lebensart bedeutet nicht Sich-bequem-machen
im Kapitalismus, sondern kämpferische Ab-
grenzung gegen das Bürgerliche, bedeutet
kämpferische Bejahung der Keime proletari-
scher Lebenskultur zu dem Zweck, dass der
Scham, Proletarier zu sein, entgegengewirkt
werde. Denn so lange im Arbeiter das klein-
bürgerliche Element gegenüber dem klassen-
mässigen überwiegt, wird er auch zum revolu-
tionären Bekenntnis und dementsprechenden
Verhalten schwer zu haben sein. Auf diese
108
Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats
massenpsychologische Arbeit und Propaganda
kann auch noch aus einem anderen Grunde
nicht verzichtet werden.
Die proletarische Scham, die das genaue Ge-
genteil des proletarischen Selbstbewusstseins
und ein Kernelement der Neigung zur Imita-
tion des Kleinbürgers ist, bildet auch diejenige
massenpsychologische Grundlage, auf die sich
der Faschismus stützt, sobald er in die Arbei-
terschaft einzudringen beginnt. Der Faschismus
verspricht Abschaffung der Klassen, das heisst
Abschaffung des Proletarierseins und dadurch
klingt er an die kleinbürgerlichen Einstellun-
gen im Arbeiter an. Sofern Proletarier aus dem
Dorfe der Stadt zugewandert sind, brachten sie
noch frische bäuerlich-familiäre Ideologie mit,
die, wie bereits gezeigt wurde, den besten
Nährboden für die imperialistisch-nationalisti-
sche Ideologie darstellt. Dazu kommt noch ein
ideologischer Prozess in der Arbeiterbewegung,
dem bisher bei der Beurteilung der Chancen der
revolutionären Bewegung in den Ländern mit
niederer und solchen mit hoher industrieller
Entwicklung allzu wenig Beachtung geschenkt
wurde.
Als Kautsky noch nicht zum wütenden Has-
ser der Revolution herabgesunken war, stellte
er fest, dass der Arbeiter im hochindustriellen
England politisch tiefer steht, als der Arbeiter
im industriell niedrigen Russland (Soziale Re-
volution, 2. Aufl. S. 59—60). Die politischen
Ereignisse der letzten 15 bis 20 Jahre in den
verschiedenen Ländern der Welt lassen keinen
Zweifel darüber, dass in den Ländern mit niede-
rer industrieller Entwicklung sich revolutionäre
109
i
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
Erhebungen leichter ergaben, etwa in China
und Indien, als in England, Amerika und
Deutschland. Und dies trotz einer geschulteren,
von Klassenbewusstsein erfüllteren, organisier-
teren, auf alte Traditionen zurückgreifenden
Arbeiterbewegung in den zuletzt genannten
Landern. Zieht man die Bürokratisierung der
Arbeiterbewegung ab, die selbst ein krankhaf-
tes Symptom ist, das erst aus der Geschichte zu
erklären wäre, so ergibt sich die Frage nach
der ausserordentlich starken Verwurzelung der
Sozialdemokratie und des Tradeunionismus in
den westlichen Ländern. Massenpsychologisch
ist die Sozialdemokratie basiert auf den klein-
bürgerlichen Strukturen ihrer Anhänger. Zu
erklären bleibt historisch also die Wandlung,
die das Proletariat im Hochkapitalismus durch-
macht, derart durchmacht, dass die sozialdemo-
kratische Ideologie trotz des Fiaskos der so-
zialdemokratischen Politik, trotz jahrzehntelan-
gen, wiederholten und nachgewiesenen Irre-
führens zunächst nicht zum Wanken zu
bringen war. Wie beim Faschismus liegt auch
hier das Problem nicht nur und nicht so sehr
an der Politik der Parteiführung, als an der
massenpsychologischen Basis in der Arbeiter-
schaft. Auf keinen Fall kann hier auf einmal
eine detaillierte Analyse dieser Beziehungen
gegeben werden. Dazu fehlen noch alle Vor-
aussetzungen. Ich will nur auf einige, wie mir
scheint, sehr bedeutsame Tatbestände hinwei-
sen, die wahrscheinlich dem Politiker bei ge-
nauer Durchforschung manches Rätsel lösen
werden. Und diese Tatbestände sind die:
Im Frühkapitalismus besteht neben der schar-
110
Ideologische Verbürgerlichung des Proletariats
fen ökonomischen Grenze zwischen Bourgeoisie
und Proletariat eine ebenso scharfe ideologi-
sche, insbesondere moralische Grenze. Der Man-
gel jeder Art Sozialpolitik, die entnervende
sechzehn-, achzehn- und mehrstündige Arbeit,
das niedrige Lebensniveau der Industriearbei-
terschaft, wie es klassisch in Engels „Lage der
arbeitenden Klasse in England" geschildert
ist, lassen keine ideologische Angleichung des
Proletariats an die Bourgeoisie aufkommen.
Die bürgerlichen Strukturen sind kaum ange-
legt, es sei denn in Form von demütiger Erge-
benheit in das Schicksal. Die massenpsycholo-
gische Stimmung des Proletariats inklusive der
Bauernschaft ist durch eine indifferente
Stumpfheit ausgezeichet. Da aber bürgerli-
ches Denken fehlt, hindert diese Stumpfheit
nicht, dass revolutionäre Empfindungen bei
entsprechenden Anlässen wie unvermittelt her-
vorbrechen und sich zu einer unerwarteten In-
tensität und Geschlossenheit entwickeln kön-
nen. Im Spätkapitalismus hingegen ist es an-
ders. Hat die organisierte Arbeiterbewegung
einmal sozialpolitische Errungenschaften ge-
bracht, wie beschränkte Arbeitszeit, Wahlrecht,
Sozialversicherung, so wirkt sich dies zwar
einerseits in einer klassenmässigen Erstar-
kung aus, gleichzeitig aber setzt auch ein ge-
genteiliger Prozess ein: mit der Hebung des
Lebensstandards die Angleichung an die K ein-
bourgeoisie, mit der Entwicklung des proleta-
rischen Solidaritätsgefühls der „Blick nach
oben". In Zeiten der Prosperität intensiviert
sich diese Verbürgerlichung, um dann wenn
die Krise hereinbricht, sich nachträglich im
111
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Fasch.
Sinne einer schweren Behinderung der Weiter-
entfaltung des klassenmässigen Fühlens zum
revolutionären Bewusstsein auszuwirken.
Die rein politisch unverständliche Stärke der
Sozialdemokratie in den Krisenjahren ist der
vollendete Ausdruck dieser bürgerlichen
Durchseuchung des Proletariats. Es kommt
nun darauf an, sie auch in ihren Grundelemen-
ten zu begreifen. Hier ragen zwei Tatbestände
hervor: Die Führerbindung, d. h. die Uner-
schütterlichkeit des Glaubens an die Unfehl-
barkeit des politischen Führers 1 ) (trotz aller
gleichzeitig bestehenden, jedoch nicht zur Ak-
tion durchdringender Kritik) und die sexual-
moralische Angleichung an die Kleinbourgeoi-
sie. Diese Verbürgerlichung wird von der
Grossbourgeoisie überall energisch gefördert.
;!
1 ) Im Sommer 1932 sprach ich nach einer Versamm-
lung in Leipzig mit einigen sozialdemokratischen Ar-
beitern, die der Versammlung beigewohnt hatten, über
die politische Situation. Sie gaben allen Argumenten
gegen den von der Sozialdemokratie propagierten de-
mokratischen Weg zum Sozialismus Recht und unter-
schieden sich auch sonst kaum von kommunistisch ge-
sinnten. Ich fragte den einen, warum sie nicht die
Konsequenzen zögen und sich von ihren Führern lös-
ten. Die Antwort verblüffte mich, so sehr stand sie
im Widerspruch zur bisher geäusserten Meinung: „Un-
sere Führer werden ja doch wissen, was sie tun". Hier
war der Widerspruch, in dem der sozialdemokratische
Arbeiter steckt, fast handgreiflich zu fassen: Bindung
an den Führer, die die gleichzeitig bestehende Kritik
seiner Politik nicht zur Aktion kommen lässt. Man be-
griff besser den schweren Fehler, den man beging,
wenn man den sozialdemokratischen Arbeiter durch Be-
schimpfen .seines Führers zu gewinnen versuchte. Da
er mit dem Führer identifiziert war, konnte er dadurch
nur abgestossen werden.
112
ideologische Verbürgerlichung des Proletariats
Hatte sie in ihren Anfängen den Knüppel
buchstäblich geschwungen, so hält sie ihn jetzt
— wo der Faschismus noch nicht den Sieg er-
rang — in der Reserve, bringt ihn nur dem
klassenbewussten Arbeiter gegenüber zur An-
wendung; für die Masse der sozialdemokrati-
schen Arbeiterschaft hat sie dagegen ein ge-
fährlicheres Mittel: die kleinbürgerliche Ide-
ologie auf allen Gebieten.
Gelangt nun der sozialdemokratische Arbei-
ter in die Krise, die ihn zum Kuli degradiert,
so leidet die Entwicklung seines Klassenbe-
wusstseins unter der Verbürgerlichung. Er
bleibt entweder trotz aller Kritik und Aufleh-
nung im Lager der Sozialdemokratie, oder er
geht, unentschlossen und schwankend infolge
der schweren Widersprüche von revolutionärer
und kleinbürgerlicher Gesinnung, enttäuscht
von seiner Führung zur NSDAP, dort besseren
Ersatz suchend, der Linie des geringsten Wi-
derstandes folgend. Es liegt dann nur mehr an
der richtigen oder falschen Taktik der revolu-
tionären Partei, ob er diese seine Neigung auf-
gibt und zur vollen Bewusstheit seiner wirkli-
chen Stellung im kapitalistischen Produktions-
prozess kommt. Die kommunistische Behaup-
tung, dass die sozialdemokratische Politik den
Faschismus in den Sattel hebe, trifft also nicht
nur politisch, sondern, was wesentlich ist, auch
massenpsychologisch zu. Enttäuschung an der
Sozialdemokratie bei gleichzeitig wirkendem
Widerspruch zwischen Verelendung und bür-
gerlichem Denken muss ins Lager des Faschis-
mus führen, wenn die revolutionäre Partei
schwere Fehler begeht. So begann etwa in Eng-
s H3
,11*
- I ' ■
D. Familienideologie i. d. Massenpsych. d. Pasch.
land nach dem Fiasko der Politik der Labour-
Party 1930—31 eine Faschisierung der Arbei-
terschaft, die dann bei den Wahlen 1931 statt
zum Kommunismus zur Rechten abschwenkte.
Auch das demokratische Skandinavien ist von
solcher Entwicklung aufs schwerste bedroht.
Wenn Rosa Luxemburg die Auffassung ver-
trat, dass revolutionärer Kampf mit „Kulis"
nicht möglich sei (Ges. W., Bd. 4, S. 647), so
fragte sich, was für ein Kuli gemeint ist: der
Kuli vor der Verbürgerlichung oder der nach
erfolgter Verbürgerlichung. Vorher besteht ei-
ne schwer zu durchbrechende Stumpfheit, aber
auch eine grosse Fähigkeit zu revolutionären
Aktionen; nach der Verbürgerlichung haben
wir einen enttäuschten Kuli vor uns. Wird er
nicht schwerer zur Revolution zu haben sein?
Wie lange kann der Faschismus seine Ent-
täuschung an der Sozialdemokratie plus seiner
„Rebellion gegen das System" für seine eigenen
Zwecke ausmützen? So wenig wir diese folgen-
schweren Fragen jetzt entscheiden können, so
sicher ist, dass die internationale revolutionäre
Strategie dies berücksichtigen muss, wenn sie
die Hauptangriffspunkte bestimmen will.
114
III. KAPITEL
Die Rassetheorie
1. IHR INHALT
Die theoretische Achse des deutschen Fa-
schismus ist seine Rassetheorie. Das Wirt-
schaftsprogramm der sogenannten 25 Punkte
erscheint in der faschistischen Ideologie nur
als ein Mittel zur Höherzüchtung der germani-
schen Rasse und ihres Schutzes vor Rassenver-
mischung, die nach Ansicht der Nationalsozia-
listen immer den Niedergang der „höheren
Rasse" bedeute. Mehr als das, auch der Nieder-
gang einer Kultur sei auf Rassenvermischung
zurückzuführen. Die „Reinhaltung der Rasse
und des Blutes" sei daher die vornehmste Auf-
gabe einer Nation, zu deren Erfüllung man je-
des Opfer bringen müsse. Diese Theorie wird
gegenwärtig in Deutschland in Form der Ju-
denverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis
umgesetzt und wirkt sich solcherweise ge-
schichtlich aus.
Die Rassetheorie geht von der Voraussetzung
aus, dass als „ehernes Gesetz" in der Natur die
ausschliessliche Paarung jedes Tieres mit sei-
ner eigenen Art gelte. Nur ausserordentliche
Umstände wie etwa Gefangenschaft vermögen
dieses Gesetz zu durchbrechen und zur Rassen-
mischung zu führen. Die Natur räche sich aber
und stemme sich mit allen Mitteln dagegen,
entweder durch Unfruchtbarmachung der Ba-
115
H
■1
'
Die Rassetheorie
starde oder durch Einschränkung der Frucht-
barkeit der späteren Nachkommen. Bei jeder
Kreuzung zweier Lebewesen verschiedener
„Höhe" müsse die Nachkommenschaft ein Mit-
telding darstellen. Die Natur erstrebe aber eine
Höherzüchtung des Lebens, daher widerspre-
che die Bastardierung dem Willen der Natur.
Die Auslese der höheren Art erfolge auch im
Kampf ums tägliche Brot, bei dem die schwä-
cheren, also rassisch weniger wertigen Wesen
untergehen. Und das läge folgerichtig im „Wil-
len der Natur", denn jede Weiterbildung und
Höherzüchtung würde aufhören, wenn die
Schwächeren, die zahlenmässig in der Mehrheit
sind, die zahlenmässig schwächeren hochwerti-
gen Arten verdrängen würden. Die Natur un-
terwerfe also die Schwächeren schwereren Le-
bensbedingungen, die ihre Zahl beschränken,
den Rest aber lasse sie nicht wahllos zur Ver-
mehrung zu, sondern treffe eine rücksichtslose
Wahl nach Kraft und Gesundheit.
Dieses Gesetz lasse sich auf Völkerschaften
übertragen. Die geschichtliche Erfahrung lehre,
dass bei „Blutsvermengung" des Ariers mit
„niedrigeren" Völkern als Ergebnis immer der
Niedergang des Kulturträgers herauskäme. Die
Folge wären Niedersenkung des Niveaus der
höheren Rasse und körperlicher und geistiger
Rückgang, damit aber auch der Beginn eines si-
cher fortschreitenden „Siechtums".
Der nordamerikanische Kontinent würde,
heisst es bei Hitler, so lange stark bleiben, „so-
lange nicht auch er der Blutschande zum Opfer
fällt" (S. 314), das heisst, sich mit den nicht-
germanischen Völkerschaften vermischt.
116
Ihr Inhalt
„Eine solche Entwicklung herbeiführen,
heisst denn aber doch nichts anderes als Sünde
treiben wider den Willen des ewigen Schöp-
fers/ 4 (S. 314).
Nach Hitler ist die Menschheit einzuteilen
in kulturbegründende, kulturtragende und kul-
turzerstörende Rassen. Als Kulturträger komme
nur der Arier in Betracht, denn von ihm stam-
men die „Fundamente und Mauern der mensch-
lichen Schöpfungen". Die asiatischen Völ-
kerschaften wie etwa die Japaner und Chinesen
hätten als Kulturträger nur arische Kulturen
übernommen und in eigene Formen gebracht.
Die Juden dagegen seien eine kulturzerstören-
de Rasse. Für die Bildung hoher Kultur sei das
Vorhandensein „niederer Menschen" erste Vor-
aussetzung gewesen. Die erste Kultur der Men-
schen hätte auf dieser Verwendung niederer
Menschenrassen gefusst. Zuerst hätte der Be-
siegte und erst viel später das Pferd den Pflug
gezogen. Der Arier hatte sich als Eroberer die
niederen Massen unterworfen und dann deren
Tätigkeit unter seinem Befehl, nach seinem
Wollen und für seine Ziele geregelt. Sobald
sich aber die Unterworfenen die Sprache und
Eigenart der „Herren" anzueignen begannen
und die scharfe Schranke zwischen Herren und
Knecht fiel, gab der Arier die Reinheit seines
Blutes auf und verlor dafür „den Aufenthalt im
Paradies". Dadurch verlor er auch seine kultu-
relle Fähigkeit.
„Die Blutsvermischung und die dadurch bedingte
Senkung des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache
des Absterbens alter Kulturen; denn die Menschen
gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern
117
II l
?
'
I '
Die Rassetheorie
am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem rei-
nen Blute zu eigen ist." (Kampf, S. 324).
Eine sachgemässige Widerlegung dieser
Grundauffassung vom fachlichen Standpunkt
kommt hier nicht in Frage. Diese Auffassung
entlehnt ein Argument der Darwinschen Hypo-
these der natürlichen Zuchtwahl, die in man-
chen Elementen ebenso reaktionär ist, wie der
Darwinsche Nachweis der Abstammung der Ar-
ten aus niederen Lebewesen revolutionär war.
Sie bildet die theoretische Verschleierung der
imperialistischen Funktion der faschistischen
Ideologie. Denn wenn die Arier das einzige
kulturschöpfende Volk sind, so dürfen sie kraft
göttlicher Berufung Auspruch auf die Welt-
herrschaft erheben. Und eine der kardinalen
Forderungen Hitlers ist in der Tat die Erwei-
terung der Grenzen des deutschen Reiches
insbesondere „nach Osten", d. h. auf sowjetrus-
rischem Gebiet. Die Verherrlichung des impe-
rialistischen Krieges liegt demnach völlig im
Rahmen dieser Ideologie :
„Das Ziel, für das im Verlaufe des Krieges aber ge-
kämpft wurde, war das erhebendste und gewaltigste,
das sich für Menschen denken lässt: es war die Frei-
heit und Unabhängigkeit unseres Volkes, die Sicher-
heit der Ernährung für die Zukunft und — die Ehre
der Nation." („Mein Kampf", S. 194).
„Für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung
des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und
unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Rein-
haltung des Blutes, die Freiheit und Unabhängigkeit
des Vaterlandes, auf dass unser Volk zur Erfüllung
der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewie-
senen Mission heranzureifen vermag." (S. 234).
Uns interessiert hier ausschliesslich die sub-
113
Ihr Inhalt
jektive Herkunft und Formierung dieser objek-
tiv den Interessen des Finanzkapitals gl«cn-
gerichteten Ideologien, vor allem ^s affektive
Übersehen von Widersprüchen und Widersin-
nigkeiten innerhalb der Rassetheorie. So über-
sehen die Rassetheoretiker, die sich auf ein
biologisches Gesetz berufen, dass die Rasse-
züchtung an Tieren ein Kunstprodukt ist. Es
kommt nicht in Frage, ob Hund und Katze, son-
dern ob Schäferhund und Windhund eine „in-
stinktive Abneigung" gegen Vermischung ha-
C Dic Rassetheoretiker, die so alt sind wie der
Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen
bei Völkerschaften, wo die Vermischung infol-
ge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit
fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch
in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung ge-
winnt. Wir gehen hier nicht auf die andere Un-
sinnigkeit ein, als ob die rassische Beschran-
kung und nicht das Gegenteil, die promiskue
Paarung, in der Natur das Gegebene wäre. Es
kommt bei der vorliegenden Untersuchung der
Rassetheorie, die statt von Tatsachen zu Wer-
tungen von den Wertungen zu den Tatsachen
gelangt, nicht auf ihren rationalen Gehalt an.
Wir werden auch keinem Faschisten, der von
der überragenden Wertigkeit seines Germanen-
tums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumen-
ten beikommen, schon deshalb nicht weil er
nicht mit Argumenten sondern mit gefuhlsmas-
sigen Wertungen operiert. Es ist also für die
politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu
wollen, dass die Neger und Italiener nicht we-
niger „rassisch" sind als die Germanen. Er
119
i
II
k
i
Die Rassetheorie
fühlt sich als der „Höhere", und damit ist
Schluss. Es ist nur möglich, die Rassetheorie
dadurch zu entkräften, dass man über die sach-
liche Widerlegung hinaus ihre verschleierten
Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im We-
sentlichen zwei: die objektive Funktion, den
imperialistischen Tendenzen einen biologi-
schen Mantel umzuhängen, und die subjektive
Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver,
unbewusster Strömungen im Fühlen des natio-
nalistischen Menschen zu sein und bestimmte
osychische Haltungen zu verdecken. Nur die
letzte Funktion soll hier erörtert werden. Uns
interessiert hier ganz besonders, dass Hitler
von „Blutschande" spricht, wenn ein Arier mit
einem Nichtarier sich vermischt, während man
unter Blutschande üblicherweise gerade den
'ieschlechtsverkehr unter Blutsverwandten be-
zeichnet. Woher diese Dummheiten einer „Theo-
- ie", die sich anmasst, die Grundlage einer
neuen Welt, eines „dritten Reiches" zu werden?
Wenn wir uns mit der Vorstellung vertraut ma-
chen, dass auch die irrationalen, affektiven
Grundlagen einer solchen Hypothese letzten
Endes bestimmten realen Seinsbedingungen ihr
Dasein verdanken; wenn wir uns von der Idee
freimachen, dass die Auffindung solcher auf ra-
tionaler Basis entstandener irrationaler Quellen
von Weltanschauungen Verschiebung der Frage
in die Metaphysik bedeuten, so eröffnen wir
den Weg zur Quelle der Metaphysik selbst, er-
fassen wir nicht nur ihre historischen Entste-
hungsbedingungen, sondern auch ihre materiel-
le Substanz. Die Ergebnisse mögen selbst für
sich sprechen.
120
•
Objektive und subjektive Funktion der Ideologie
2. OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE
FUNKTION DER IDEOLOGIE
Den häufigsten Anlass zu Misverständnissen
über die Beziehungen einer Ideologie zu ihrer
historischen Funktion bietet die Nichtunter-
scheidung ihrer objektiven und ihrer subjek-
tiven Funktion. Die Anschauungen der herr-
schenden Klasse sind zunächst nur zu verste-
hen aus der ökonomischen Basis, der sie ent-
stammen. So haben die faschistische Rasse-
theorie und die nationalistische Ideologie über-
haupt eine konkrete Beziehung zu den imperi-
alistischen Zielen einer führenden Schichte, die
Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur zu lo-
sen versucht. Der deutsche und der franzosi-
sche Nationalismus des Weltkrieges appellier-
ten jeweils an die „Grösse der Nation", hinter
der wirtschaftliche Expansionstendenzen , des
deutschen und französischen Grosskapitals
standen. Aber diese wirtschaftlichen Faktoren
machen nicht das Substantielle der entspre-
chenden Ideologie aus, sondern nur den histo-
rischen und ökonomischen Boden, auf dem
diese Ideologien sich bilden können, die Be-
dingungen, deren Vorhandensein für die Ent-
stehung solcher Ideologien unerlässlich ist.
Gelegentlich ist der Nationalismus objektiv gar
nicht gesellschaftlich (seinem Gehalt nach) re-
präsentiert, noch weniger mit rassischen Ge-
sichtspunkten in Einklang zu bringen. Im alten
Oesterreich-Ungarn fiel der Nationalismus
nicht mit der Rasse, sondern mit der „Heimat"
Oesterreich-Ungarn zusammen. Als Bethmann-
Hollweg 1914 das „Germanentum gegen das
Slawentum" aufrief, hätte er folgerichtig ge-
121
«
I
Die Rassetheorie
gen Oesterreich, diesen überwiegend slawischen
Staat vorgehen müssen. Die ökonomischen Be-
dingungen einer Ideologie erklären also zwar
ihre materielle Basis und ihre objektiv-
geschichtliche Rolle, aber sie sagen umittelbar
nichts über den subjektiven materiellen Kern
dieser Ideologien aus. Dieser ist unmittelbar
gegeben als psychische Apparatur der Men-
schen, die den betreffenden ökonomischen Be-
dingungen unterworfen sind und solchermas-
sen den historisch-ökonomischen Boden in der
Ideologie reproduzieren. Indem diese Men-
schen Ideologien bilden, formen sie sich selbst
um; im Prozess der Ideologiebildung ist ihr
materieller Kern aufzufinden. Die Ideologie er-
scheint somit doppelt materiell fundiert: mit-
telbar durch die ökonomische Struktur der Ge-
sellschaft, unmittelbar durch die typische
Struktur der sie produzierenden Menschen, die
selbst wieder durch die ökonomische Struktur
der Gesellschaft bedingt ist.
Die Struktur des Faschisten zeichnet sich
durch metaphysisches Denken, Gottgläubigkeit,
Beherrschtheit von abstrakten, ethischen Ide-
alen und Glauben an die göttliche Bestimmung
des „Führers" aus. Diese Grundzüge sind ver-
knüpft mit einer tieferen Schichte, die sich
kennzeichnet durch starke autoritäre Bindung
an ein Führerideal oder die Nation. Der Glaube
an ein „Herrenmenschentum" wird zur stärk-
sten Triebfeder sowohl der Bindung der na-
tionalsozialistischen Massen an den „Führer"
als auch zur psychologischen Grundlage der ei-
genen freiwilligen Einreihung in die Gefolg-
schaft. Daneben wirkt aber entscheidend eine
122
!
u
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
intensive Identifizierung mit dem Führer, die
die eigene Unterwerfung als geführtes Massen-
mitglied verschleiert. Jeder Nationalsozialist
fühlt sich in seiner psychischen Abhängigkeit
als „kleiner Hitler". Auf die materielle Grund-
lage dieser Grundhaltungen kommt es aber
nunmehr an. Es müssen die energetischen
Funktionen aufgesucht werden, die, selbst
durch Erziehung und gesamte soziale und ge-
sellschaftliche Atmosphäre bedingt, die
menschlichen Strukturen derart umbilden, dass
in ihnen Neigungen derart reaktionären Cha-
rakters sich bilden können, dass sie, sich vor
Freiheitseifer heiser schreiend, die Fesseln
nicht merken, die ihnen angelegt werden, dass
sie in voller Identifizierung mit dem „Führer
befangen die Schmach nicht empfinden, die
ihnen mit der Bezeichnung als „Untermen-
schen" angetan wird
Stellt man die Blendung durch die weltan-
schauliche Phraseologie ab, fixiert man ihren
affektiven Inhalt und versteht man, sie in
richtige Beziehung zu den sexualideologischen
Knotenpunkten des Prozesses der Ideologie-
bildung zu bringen, so fällt zunächst die ste-
reotype Gleichsetzung von „Rassenvergiftung"
und „Blutsvergiftung" auf. Was bedeutet das?
3. RASSEREINHEIT, BLUTSVERGIFTUNG
UND MYSTIZISMUS
„Parallel der politischen, sittlichen und mo-
ralischen Verseuchung des Volkes lief schon
seit vielen Jahren eine nicht minder entsetzli-
123
i
II
■
Die Rassetheorie
che gesundheitliche Vergiftung des Volkskör-
pers durch die Syphilis," schreibt Hitler (S.
269). Die Ursache läge in erster Linie „in un-
serer Prostituierung der Liebe. Auch wenn
ihr Ergebnis nicht die fürchterliche Seuche
wäre, wäre sie dennoch von tiefstem Schaden
für das Volk, denn es genügen schon die mo-
ralischen Verheerungen, die die Entartung mit
sich bringt, um ein Volk langsam, aber sicher
zugrunde zu richten. Diese Verjudung unseres
Seelenlebens und Mammonisierung unseres
Paarungstriebes werden früher oder später un-
seren gesamten Nachwuchs verderben ..." (S.
270). „Die Sünde wider Blut und Rasse ist die
Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich
ergebenden Menschheit." (S. 272). Rassenver-
mischung führt also nach dieser Ansicht zur
Blutsvermischung und derart zur „Blutsver-
giftung des Volkskörpers". „Die sichtbarsten
Resultate dieser Massenverseuchung (durch die
Syphilis) kann man ... finden in unseren —
Kindern. Besonders diese sind das traurige
Elendserzeugnis der unaufhaltsam fortschrei-
tenden Verpestung unseres Sexuallebens; in
den Krankheiten der Kinder offenbaren sich
die Laster der Eltern" (S. 271).
Unter den „Lastern der Eltern" kann hier nur
gemeint sein, dass diese sich mit fremdrassi-
gem, also besonders jüdischem Blut vermeng-
ten, wodurch die jüdische „Weltpest" Ein-
gang ins „reine" arische Blut fand. Es ist be-
merkenswert, wie innig diese Vergiftungs-
theorie mit der politischen These von der Ver-
giftung des Deutschtums durch den „Weltju-
den Karl Marx" verknüpft ist. In der so ge-
124
<
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
fühlsbetonten Sphäre der Syphilisangst haben
die politische Weltanschauung und der Anti-
semitismus des Nationalsozialismus eine ihrer
stärksten Quellen. Erstrebenswert und mit al-
len Mitteln erkämpfenswert ist dann folge-
richtig die Rassenreifl/ze/t, das heist die Rein-
heit des Blutes. 1 )
Hitler betont an vielen Stellen, dass man der
Masse nicht mit Argumenten, Beweisen und
Bildung, sondern nur mit Gefühlen und Glau-
ben kommen dürfe. Aber in der Sprache des
Nationalsozialismus wie etwa bei Kayserhng
Driesch, Rosenberg, Stapel usf. fallt das Nebel-
hafte und Mystische derart auf, dass sich eine
Analyse dieser Eigenart gewiss lohnt.
Was verbirgt sich also hinter dem Mystizis-
mus der Faschisten, der die Massen derart
faszinierte?
— 5Ä — Die ^Times" schrieben am 23. August 1933:
Der Sohn und die Tochter des amerikanischen
Gesandten in Berlin waren unter den Fremden, die
sich am Sonntag, den 13. August, in Nürnberg auf-
hielten und sahen, wie ein Mädchen durch die Strassen
geführt wurde; der Kopf war kahl geschoren und an
den abgeschnittenen Zöpfen war ein Plakat befestigt,
mit der Aufschrift: „Ich habe mich einem Juden hin-
gegeben." Verschiedene andere Fremde waren ebenfalls
Augenzeugen dieses Schauspiels. Zu Jeder Zeit sind
fremde Touristen in Nürnberg, und die .Parade .mit
dem Mädchen wurde in einer solchen Wege »Mft
führt, dass wenig Leute im Zentrum der Stadt ver-
säumt haben können, sie zu sehn Das Madchen, das
von einigen Fremden als ■chlank.e Arechlich und,
ungeachtet ihres geschorenen Kopfes und ihres Zu-
Stands, als ausnehmend hübsch beschrieben wird,
wurde die Reihe der internationalen Hotels am Bahn-
hof entlang geführt, durch die Haupstrassen deren
Verkehr vom Pöbel versperrt war, und von Restau-
rant zu Restaurant. Sie war eskortiert von Sturm-
125
I
.
:
!
*
Die Rassetheorie
Die Antwort darauf gibt die Analyse der von
Rosenberg im „Mythus des 20. Jahrhunderts"
geführten „Beweise" für die Gültigheit der fa-
schistischen Rassetheorie. Rosenberg schreibt
gleich im Beginne:
„Die Werte der Rassenseele, die als treibende Mäch-
te hinter dem neuen Weltbild stehen, sind noch nicht
lebendiges Bewusstsein geworden. Seele aber bedeu-
tet Rasse von innen gesehen. Und umgekehrt ist Rasse
die Aussenwelt der Seele." (Mythus, S. 22).
Hier haben wir eine der unendlich vielen, ty-
pisch nationalsozialistischen Phrasen vor uns,
Sätze, die auf den ersten Blick keinen Sinn ver-
raten, ja ihn absichtlich zu verhüllen scheinen,
auch vor dem Schreiber dieser Sätze selbst.
Man muss aber die massenpsychologische Wir-
kung gerade solcher mystisch verhüllter Sätze
truppen, ihr folgte eine Menge, die von einem zuver-
lässigen Beobachter auf etwa 2000 Leute geschätzt
wurde. Sie stolperte einige Male und wurde dann von
den begleitenden starken SA-Leuten wieder auf die
Füsse gestellt, manchmal auch in die Höhe gehoben,
damit auch die entfernteren Zuschauer sie sehn konn-
ten; bei diesen Gelegenheiten wurde sie vom Pöbel
angebrüllt und verhöhnt und spasshafterweise einge-
laden, eine Rede zu halten. In Neu-Ruppin, in der
Nähe von Berlin, wurde ein Mädchen, weil es sich
nicht erhoben hatte, als das Horst-Wessel-Lied ge-
spielt wurde, unter der Bewachung von Sturmtruppen
durch die Stadt geführt. Sie trug am Rücken und auf
der Brust je ein Plakat mit der Inschrift: „Ich scham-
lose Kreatur habe es bewagt, sitzen zu bleiben als das
Horst-Wessel-Lied gesungen wurde und habe so die
Opfer der Nationalen Revolution missachtet." Später
wurde das Mädchen noch einmal durch die Strassen
geführt. Die Zeit des Schauspiels war vorher in der
Ortszeitung angegeben worden, sodass grosse Men-
schenmengen sich versammeln konnten."
126
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
kennen und gebührend einschätzen, um auch
ihre politische Wirkung zu begreifen. Weiter:
„Rassengeschichte ist deshalb Naturgeschichte und
Seelenmystik zugleich, die Geschichte der Religion
des Blutes aber ist umgekehrt die grosse Welterzäh-
lung vom Aufstieg und Untergang der Völker, ihrer
Helden und Denker, ihrer Erfinder und Künstler."
Die Anerkennung dieser Tatsache ziehe aber
sofort die Erkenntnis nach sich, dass das
Kämpfen des Blutes und die geahnte Mystik
des Lebensgeschehens nicht zwei verschiedene
Dinge seien, sondern ein und dasselbe auf ver-
schiedene Weise darstellen. „Kämpfen des Blu-
tes" „geahnte Mystik des Lebensgesche-
hens" „Aufstieg und Untergang der Völ-
ker" „Blutsvergiftung" „jüdische
Weltpest" , dies alles liegt auf einer Linie,
die beim „Kämpfen des Blutes" beginnt und
weltanschaulich bei blutigem Terror gegen
den „jüdischen Materialismus" von Marx und
beim Judenboykott endet.
Man tut der Sache des historischen Materia-
lismus nichts Gutes an, wenn man diese Mystik
nur verlacht, statt sie zu entlarven und auf den
ihr zugrundeliegenden materiellen Gehalt zu
reduzieren. Wir nehmen vorweg: das meiste
und praktisch wichtigste daran ist sexual-
ökonomischer Energieprozess. Die "*'***
schauung von der „Seele" und ihrer „Reinheit
ist die Weltanschauung der Asexuahtat, der
„sexuellen Reinheit", also im Grunde eine Er-
scheinung der durch die patriarchalische und
privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten
Sexualverdrängung und Sexualscheu.
127
i
1
! ;
Die Rassetheorie
„Auseinandersetzung zwischen Blut und Um-
welt, zwischen Blut und Blut ist die letzte uns
erreichbare Erscheinung, hinter der zu suchen
und zu forschen, uns nicht mehr gegönnt ist,"
sagt Herr Rosenberg. Er irrt; wir sind unbe-
scheiden genug, zu forschen und den lebendigen
Prozess „zwischen Blut und Blut" nicht nur
unsentimental aufzudecken, sondern sogar
dadurch der nationalsozialistischen Welt-
anschauung einen Eckpfeiler zu zertrümmern.
Wir wollen Rosenberg selbst unsere These
beweisen lassen, dass der Kern der faschisti-
schen Rassetheorie Angst und Scheu vor der
sinnlichen, körperlichen Sexualität ist.
Rosenberg versucht die Gültigkeit der These,
dass Auf- und Niedergang von Völkerschaften
auf Rassenvermischung, das heisst auf Bluts-
vergiftung zurückzuführen sei, an Hand der al-
ten Griechen zu beweisen. Die Griechen seien
ursprünglich die Repräsentanten nordischer
Rassereinheit gewesen. Die Götter Zeus, Apollo
und Athene wären „Zeichen echtester grosser
Frömmigkeit", „Hüter und Schützer des Edlen
und Frohen", „Wahrer der Ordnung, Lehrer der
Harmonie der Seelenkräfte, des künstlerischen
Masses" gewesen. Homer hätte gar kein Inter-
esse für das „Extatische" gehabt. Athene re-
präsentiere
„das Sinnbild des dem Haupt des Zeus entsprunge-
nen, lebensnagenden Blitzes, die weise besonnene Jung-
frau, Hüterin des Helenenvolkes und treue Schirmerin
seines Kampfes." .
„Diese hochfrommen griechischen Seelenschopfun-
gen zeigen das geradwachsige innere, noch reine Le-
ben des nordischen Menschen, sie sind im höchsten
128
1=L
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
Sinne religiöse Bekenntnisse und Ausdruck eines Ver-
trauens in die eigene Art." (Mythus, S. 41 ff.).
Diesen Göttern des Reinen, Hohen, Religösen
werden nun die vorderasiatischen Götter ge-
genübergestellt :
„Waren die griechischen Götter Heroen des Lichts
und des Himmels, so trugen die Götter der vorderasia-
tischen Nichtarier alle erdhafte Züge an sich."
Demeter und Hermes wären die wesenhaften
Erzeugnisse dieser „Rassenseelen"; Dionysos
als der Gott der Extase, der Wollust, des ent-
fesselten Mänadentums bedeute den „Einbruch
der fremden Rasse der Etrusker und den Beginn
des Unterganges des Griechentums"
Ganz willkürlich greift hier Rosenberg, nur
um seine These von der Rassenseele zu stützen,
die Götter heraus, die den einen der gegen-
sätzlichen Prozesse der Kulturbildung der
Griechen darstellen, stempelt sie als griechisch
und die anderen, die ebenso dem Griechentum
entstammen, werden als fremde Götter darge-
stellt. Schuld am Misverständnis der grie-
chischen Geschichte, meint Rosenberg, sei die
Geschichtsforschung, die „rassisch verflachte"
und das Griechentum falsch deutete.
„Mit Schauern der Verehrung erfühlt die grosse
deutsche Romantik, wie immer dunklere Schleier vor
die lichten Götter des Himmels gezogen werden und
taucht tief unter in das Triebhafte, Gestaltlose, Dä-
monische. Geschlechtliche, Extatische, Chtonische,
in die Mutterverehrung (v. Ref. gesp.)- Dies alles aber
noch immer als griechisch bezeichnend." („Mythus",
S. 43).
Die idealistische Philosophie aller Schattie-
9 129
Die Rassetheorie
rungen untersucht nicht die Bedingungen die-
ses Auftauchens des „Extatischen" und „Trieb-
haften" in bestimmten Kulturepochen; sie ver-
strickt sich vielmehr in der abstrakten Wer-
tung dieser Erscheinung vom Standpunkt der-
selben Kulturbetrachtung, die sich so weit über
das „Erdhafte" erhob, dass sie an dieser Erhe-
bung selbst zugrundegeht. Auch wir gelangen
zu einer Wertung solcher Erscheinungen, aber
diese Wertungen leiten wir ab aus den Bedin-
gungen des gesellschaftlichen Prozesse, der als
„Niedergang" einer Kultur in Erscheinung
tritt, um die vorwärtsdrängenden und die brem-
senden Kräfte zu erkennen, die Erscheinung des
Niedergangs als historisches Ereignis zu be-
greifen und nicht zuletzt die Keime der neuen
Kulturformen zu sichten, denen wir dann zur
Geburt verhelfen. Wenn Rosenberg im Ange-
sicht des Niedergangs der kapitalistischen Kul-
tur des 20. Jahrhunderts mit dem Schicksal
der Griechen mahnt, so stellt er sich auf die
Seite der konservativen Tendenzen der Ge-
schichte, trotz seiner Beteuerungen über die
„Erneuerung" des Deutschtums. Wir gewinnen
festen Halt bei der Stellungnahme zur Kultur-
revolution und ihres sexualökonomischen Kerns,
wenn es uns gelingt, den Standpunkt der poli-
tischen Reaktion zu erfassen und seinen Zusam-
menhang mit den Interessen der ihren Unter-
gang sichtenden herrschenden Klasse zu begrei-
fen. Für den bürgerlichen Kulturphilosophen,
der seinen Klassenstandpunkt nicht ändern kann
oder will, gibt es keine andere Möglichkeit, als
entweder — trotz grosser wissenschaftlich-revo-
lutionärer Taten — zu resignieren und skep-
130
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
tisch zu werden oder aber mit „revolutionären"
Mitteln das Rad der Geschichte rückwärts
drehen zu wollen. Hat man aber den Standort
der Kulturbetrachtung gewechselt, im Zusam-
menbruch der alten Kultur nicht etwa den Un-
tergang der Civilisation überhaupt, sondern den
einer bestimmten Civilisation erkannt, die mit
der neuen Civilisationsform „schwanger geht",
so ergibt sich selbsttätig auch ein Wechsel in
der Wertbetrachtung derjenigen Kulturelemen-
te, die man vorher als kulturpositiv bezw. —
negativ einschätzte. Es kommt nur darauf an,
zu begreifen, welche Beziehung die wirtschaft-
liche Revolution und die Arbeiterbewegung zu
den Erscheinungen hat, die man vom Stand-
punkt des Bürgers als Niedergangssymptome
betrachtete. Es ist zum Beispiel mehr als blos
eine Frage der Wirtschaftsform, wenn sich die
politische Reaktion für die Vaterrechtstheorie,
der Marxismus dagegen für die Mutterrechts-
theorie in der Ethnologie ausspricht. Abgesehen
von den sachlichen Aussagen der Geschichts-
forschung wirken bei dieser Stellungnahme af-
fektive Interessen in den beiden konträren so-
ziologischen Strömungen, die objektiven, bisher
unerkannt gebliebenen Prozessen der Sexual-
ökonomie entsprechen. Das historisch nachge-
wiesene Mutterrecht ist nicht nur die Organi-
sation des wirtschaftlichen Urkommunismus,
sondern auch die der sexualökonomisch orga-
nisierten Gesellschaft.!) Das Patriarchat hinge-
') Vergl. hierzu Morgan („Urgesellschaft") und En-
gels („Ursprung der Familie"), ferner Malinowski
(„Das Geschlechtsleben der Wilden") und Reich
(„Der Einbruch der Sexualmoral").
131
Die Rassetheorie
\
,
gen ist nicht nur privatwirtschaftlich, sondern
auch sexualmoralisch negativ organisiert.
Hatte die Kirche noch lange über die Zeit hin-
aus, da sie die wissenschaftliche Forschung in
Händen hatte, die These von der sittlichen Na-
tur des Menchen, seinem monogamen Wesen u.
s. f. fest verankert, so drohten Bachofens Funde
alles über den Haufen rennen. Die sexuelle Or-
ganisation des Mutterrechts verblüffte nicht we-
gen der so völlig verschiedenen Blutsverwandt-
schaftsorganisation, sondern wegen der mit ihr
verbundenen Freiheit des Geschlechtslebens,
dessen eigentliche Grundlage, den Mangel des
Privateigentums an Produktionsmitteln, erst
Morgan und nach ihm Engels erkannten. Rosen-
berg als der Ideologe des Faschismus muss kon-
sequent die Herkunft der altgriechischen Kul-
tur aus — nachgewiesenen — mutterrechtlichen
Vorstufen leugnen und statt dessen zur Annah-
me greifen, dass „die Griechen hierin (im Dio-
nysischen) physisch und geistig fremdes Wesen
annahmen".
Die faschistische Ideologie trennt (wie wir
später hören werden, im Gegensatz zur christli-
chen Ideologie) die erotisch-sinnlichen Bedürf-
nisse von den abwehrenden moralischen Gefüh-
len der im Patriarchat erzeugten menschlichen
Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiede-
nen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend
mit licht, hehr, himmelhaft, rein, dagegen „vor-
derasiatisch" gleich triebhaft, dämonisch, ge-
schlechtlich, extatisch. Daraus erklärt sich dann
die Ablehnung der „romantisch-intuitiven" For-
schung etwa Bachofens als der Theorie des nur
„angeblich" altgriechischen Lebens. In der fa-
132
I"
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
schistischen Ideologie und Rassetheorie erscheint
als deren Zentrum die eine Seite des patriar-
chalischen „wirklichen Individuums", die pa-
triarchalisch bedingte Reaktion auf die tiefer-
strömende und die Ideologie unterbauende „mut-
terrechtliche Idee", verabsolutiert, verewigt, als
„reine" Linie der anderen gegenübergestellt.
Das Griechische, Rassische wird derart zur Ema-
nation des Reinen, Asexuellen ; das Fremdrassi-
ge dagegen, das „Etruskische" ist das „Tieri-
sche" und daher niedriger. Aus diesem Grunde
muss dass Patriarchat an den Ursprung der
menschlichen Geschichte des Ariertums gestellt
werden :
„Auf dem Boden Griechenlands wurde weltge-
schichtlich entscheidend der erste grosse Entschei-
dungskampf zwischen den rassischen Werten zu Gun-
sten des nordischen Wesens ausgetragen. Vom Tage,
vom Leben trat nunmehr der Mensch ans Leben her-
an aus den Gesetzen des Lichts und des Himmels,
vom Geist und Wesen des Vaters aus entstand alles,
was wir griechische Kultur als jenes grosste Erbe des
Altertums für unser Selbst nennen. (Rosenberg.)
Die patriarchalische Geschlechtsordnung, aus
den umwälzenden Prozesses des Spätmatriar-
chats hervorgegangen (ökonomische Verselb-
ständigung der Familie des Häuptlings gegen-
über der mütterlichen Gens, anwachsender
Tauschverkehr zwischen den Stämmen, Entwick-
lung der Produktionsmittel etc.), wird zur Ur-
grundlage der patriarchalischen Ideologie in-
dem sie den Frauen, Kindern und Jugendlichen
die geschlechtliche Freiheit raubt, die Sexualität
in eine Ware verwandelt, richtiger die sexuellen
Interessen in den Dienst der wirtschaftlichen
133
K
i
Die Rassetheorie
stellt. Die Geschlechtlichkeit verzerrt sich nun-
mehr im Sinne des Teuflichen, Dämonischen,
das zu bändigen ist. Im Lichte der patriarchali-
schen Forderungen erscheint die keusche Sinn-
lichkeit des Matriarchats als wollüstige Entfes-
selung finsterer Mächte, das Dionysische wird
zum sündigen Begehren, das die patriarchalische
Kultur nicht anders als chaotisch und schmutzig
denken kann. Mit dem Eindruck der verzerrten,
lüstern gewordenen menschlichen Sexualstruk-
turen in sich und vor sich, wird der patriarcha-
lische Mensch zum ersten Male in die Fesseln
einer Ideologie gelegt, für die sexuell und un-
rein, sexuell und niedrig oder dämonisch un-
trennbare Vorstellungen werden.
Diese Wertung bekommt aber auch sekundär
eine rationale Berechtigung.
Mit der Einführung der Keuschheit werden
die Frauen unter dem Drucke ihrer sexuellen
Ansprüche unkeusch, an die Stelle der natürli-
chen, zarten Sinnlichkeit tritt die sexuelle Bru-
talität der Männer und dementsprechend auch
die Auffassung bei den Frauen, dass der Ge-
schlechtsakt für sie etwas entehrendes bedeute.
Der aussereheliche Geschlechtsverkehr wird
zwar nirgends aus der Welt geschafft, aber mit
der Veränderung der Wertung und der Abstel-
lung der Institutionen, die ihn zuvor im Matri-
archat befürsor^ten, gerät er in Widerspruch
zur offiziellen Moral und solcherweise auf die
Hintertreppe. Es verändert sich aber auch mit
seiner Stellung: in der Gesellschaft die innere
Erlebnisweise im Geschlechtlichen. Der Wider-
spruch, der nunmehr geschaffen ist, stört die Be-
fnedigungsfähigkeit der Individuen, das sexuel-
134
■
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
le Schuldgefühl zersplittert den natürlichen Ab-
lauf der sexuellen Akte und schafft sexuelle
Stauungen, die sich auf verschiedene Art und
Weise Luft machen. Neurosen, Geschlechtsver-
irrungen und dissoziales sexuelles Verhalten tre-
ten nunmehr als soziale Dauererscheinungen auf.
Die kindliche und jugendliche Sexualität die im
Matriarchat positiv gewertet wurde, verfallt sy-
stematischer, nur in den Formen je nach der
Stufe des Patriarchats verschiedener Unterdrüc-
kung. Diese derart verzerrte, gestörte, brutali-
sierte und erniedrigte Sexualität stützt^ nun ih-
rerseits die gleiche Ideologie, der sie ihr Ent-
stehen verdankt. Die verneinenden Wertungen
der Sexualität können sich jetzt mit Recht dar-
auf berufen, dass die Sexualität etwas Un-
menschliches und Tierisches ist; dabei ist nur
vergessen, dass diese unmenschliche und tieri-
sche Sexualität nicht die Sexualität „an sich ,
sondern eben die Sexualität des Patriarchats ist.
Und die Sexualwissenschaft des spaten Patriar-
chats im Kapitalismus ist dieser Wertung nicht
minder unterworfen als die vulgären Anschau-
ungen, was sie zur völligen Fruchtlosigkeit ver-
urteilt. _ X7
Wir werden später hören, auf welchem We-
ge die Religion zur organisierten Konzentration
dieser Wertungen und Ideologien wird. Hier
ist nur festzuhalten: Leugnet die Religion das
sexualökonomische Prinzip überhaupt vcwrtcilt
sie das Sexuelle als eine internationale Erschei-
nungen des Menschentums, von dem nur das
Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationali-
stische Faschismus das Sexuellsinnliche in die
„fremde Rasse", sie so gleichzeitig erniedrigend.
135
n
r
Die Rassetheorie
Die Herabwertung der „fremden Rasse", selbst
aus allgemeinen Gesetzen jeder patriarchali-
schen Organisation entstanden, klingt nunmehr
organisch zusammen mit den imperialistischen
Tendenzen der herrschenden Klasse im Spätpa-
triarchat, Tendenzen, die besonderen und unmit-
telbar wirkenden ökonomischen Widersprüchen
entstammen.
So wie in der christlichen Mythologie Gott
nie ohne seinen Widerpart, den Teufel als dem
„Gott der Unterwelt" erscheint und der Sieg des
himmlischen über den unterirdischen Gott zum
Sinnbild menschlicher Erhebung wird, so spie-
gelt sich im Göttermythus des Griechentums der
Kampf zwischen den sinnlichen und den Keusch-
heit fordernden Strebungen wieder. Für den ab-
strakten Ethiker und den die Tatbestände my-
stifizierenden Philosophen erscheint dieser
Kampf als Ringen zweier „Wesenheiten" oder
„menschlichen Ideen", von denen die eine von
vorneherein als niedrig, die andere von vorne-
herein als „eigentlich menschlich" oder über-
menschlich" gewertet wird. Führt man aber so-
wohl diesen „Kampf der Wesenheiten" als auch
die herangetragenen Wertungen auf ihre materi-
elle Ursprungsquelle zurück, reiht man sie an
richtiger Stelle in das soziologische Gefüge ein,
wobei der Sexualität als geschichtlichem Faktor
der gebührende Platz eingeräumt wird, so ergibt
sich folgender Tatbestand. Jeder Volksstamm,
der sich aus der matriarchalischen in die patri-
archalische Organisation entwickelt, muss, um
die den privateigentümlichen Grundgesetzen
entsprechenden Lebensformen im Sexuellen zu
finden, die sexuelle Struktur seiner Mitglieder
136
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
verändern. Dies ist deshalb dringend notwendig,
weil sich die wirtschaftlichen Veränderungen,
die Verschiebungen der Macht und des Reich-
tums aus der Gens in die Familie des Häupt-
lings und die Herausbildung der Klassen vor-
wiegend mit Hilfe der Unterdrückung der se-
xuellen Strebungen der Menschen dieser Epoche
vollziehen.
Die Eheschliessung und das dabei gültige Hei-
ratsgut wird zum Knotenpunkt der Verwandlung
der einen Organisation in die andere. 1 ) In dem
gleichen Masse, in dem das Heiratsgut der Gens
der Frau an die Familie des Mannes die Macht-
stellung der Männer und im besonderen die des
Häuptlings fördert, wirkt das materielle Inter-
esse der Männer der ranghöheren Gentes und
Familien in der Richtung der Festigung der
ehelichen Bindungen; denn in diesem Stadium
ist nur der Mann an der Ehe interessiert, nicht
aber die Frau. Dadurch verwandelt sich aber die
einfache, jederzeit trennbare Paarungsehe in die
monogame Ehe des Patriarchats. Die monogame
Ehe wird zur patriarchalischen Kerninstitution,
was sie heute noch ist. Zur Sicherung der Ehen
bedarf es aber einer immer weiter fortschreiten-
den Einengung und Entwertung der natürlichen
sinnlich - genitalen Strebungen. Das betrifft
nicht nur die immer mehr in Ausbeutung gera-
tende „untere** Klasse, sondern auch gerade die
Schichten, die bis dahin keine Widersprüche
zwischen Moral und Sexualität kannten, müssen
nun einen solchen immer konfliktreicher in sich
*) Der Nachweis hierfür wurde erbracht in: „Der
Einbruch der Sexualmoral". (Verl. f. Sex. Pol. 1932).
137
Die Rassetheorie
verspüren. Wirkt doch die Moral nicht nur von
aussen her, sondern ihre eigentliche Wirksam-
keit entfaltet sie erst dann, wenn sie verinner-
licht wurde, zur eigenen sexuellen Hemmung
geworden ist. In verschiedenen Stadien dieses
Prozesses werden jeweils verschiedene Seiten
des Widerspruches dominieren. Im Anfangssta-
dium wird das sexuelle Bedürfnis, später die
moralische Hemmung Oberhand gewinnen, si-
cher aber wird bei politischen Erschütterungen
der gesamten gesellschaftlichen Organisation
der Konflikt zwischen Sexualität und Moral
an die Oberfläche und auf die Spitze getrieben
werden, was dem einen als moralischer Unter-
gang, dem anderen als sexuelle Befreiung oder
„sexuelle Revolution" erscheinen wird, ohne es
in Wirklichkeit noch zu sein. Jedenfalls ist der
ideologische Gehalt der Vorstellung vom „Nie-
dergang der Kultur" die Vorstellung des Durch-
bruchs der natürlichen sinnlichen Strebungen,
als „Niedergang" nur deshalb empfunden, weil
die eigene moralische Haltung dadurch bedroht
ist. Objektiv geht nur das System der gesell-
schaftlichen Organisation unter, das im Interes-
se der Ehe und Familie die moralischen Instan-
zen in den Individuen aufrechterhielt und nähr-
te. Bei den alten Griechen, deren geschriebene
Geschichte ja erst mit dem vollentfalteten Pa-
triarchat beginnt, finden wir in der sexuellen
Organisation : Männerherrschaft, Hetärentum
für die oberen, Prostitution für die mittleren
und unteren Schichten, und daneben versklavte,
ei n elendes Leben führende, nur als Gebär-
maschinen figurierende Ehefrauen. Die Männer-
138
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
herrschaft des platonischen Zeitalters ist durch-
aus homosexuell. *)
Die Widersprüche der sexuellen Ökonomie
des spaten Griechenland kamen zum Vorschein,
als das griechische Staatswesen sich politisch
und wirtschaftlich im Niedergang befand. Für
den Faschisten Rosenberg erscheint im dionysi-
schen Zeitalter das „chtonische" mit dem „ap-
pollinischen" vermischt, um unterzugehen. Der
Phallus, schreibt Rosenberg, wird zum Symbol
der spätgriechischen Weltauffassung. Für den
Faschisten kehrt also das Sexuelle wieder als
Niedergangserscheinung, als Lüsternheit, Geil-
heit und sexueller Schmutz der Niedergangs-
epoche. Dies entspricht aber nicht nur der
Phantasie des faschistischen Betrachters, son-
dern auch der realen Situation des brennenden
Widerspruchs in der Erlebnisweise der Men-
schen dieser Epoche. Die dionysischen Feste
entsprechen den verschiedenen Redouten und
Maskenbällen unserer Bourgeoisie. Man muss
nur genau wissen, was sich auf solchen Festen
begibt, um nicht dem Fehler zu verfallen, der
ganz allgemein begangen wird, in diesem
„dionysischen" Tun den Gipfel sexuellen Erle-
bens zu erblicken. Nirgends enthüllen sich die
im Rahmen dieser Gesellschaft unlösbaren Wi-
dersprüche zwischen gelockertem sexuellen Be-
gehren und moralisch zersetzter Erlebnisfähig-
keit gründlicher als auf solchen Festen. „Diony-
sos* Gesetz, der endlosen Geschlechtsbefriedi-
gung bedeutet die hemmungslose Rassenmi-
schung zw ischen Helenen und Vorderasiaten
) Das gleiche Prinzip beherrscht unbewusst die fa-
schistische Ideologie der männlichen Führerschichte.
139
Die Rassetheorie
aller Stämme und Varietäten" (Mythos, S. 52).
Man stelle sich vor, ein Geschichtsschreiber
des vierten Jahrtausends würde die sexuellen
Feste der Bourgeoisie des zwanzigsten Jahr-
hunderts als hemmungslose Mischung der Deut-
schen mit den Negern und Juden „aller Stämme
und Varietäten" darstellen!
Wir erkennen hier klar die ideologische Rol-
le der Vorstellung von der Rassenmischung. Sie
ist die Spiegelung der Abwehr des Diony-
sischen, die selbst in den wirtschaftlichen In-
teressen der patriarchalischen Gesellschaft an
der Ehe wurzelt. Daher tritt auch in der Ge-
schichte des Jason die Ehe als Bollwerk gegen
das Hetärentum auf.
Hetären sind Frauen, die sich dem Joch der
Ehe nicht mehr beugen wollen und ihren An-
spruch auf ein selbstbestimmtes Geschlechts-
leben geltend machen. Dieser Anspruch ge-
rät aber in Widerspruch zur früher in der Kind-
heit genossenen Erziehung zur Ehe, die den
psychischen Apparat sexuell erlebnisunfähig
machte.
Daher stürzt sich die Hetäre in Abenteuer,
um ihrer emporgetriebenen Homosexualität zu
entgehen, oder sie lebt gestört und zerrissen
beiden Richtungen zugleich. Das Hetärentum
wird ergänzt durch die Homosexualität der
Männer, die infolge des ihnen aufgezwungenen
Ehelebens zur Hetäre und zum Wollustknaben
flüchten und dort ihre sexuelle Erlebnisfähig-
keit zu restaurieren versuchen. Die sexuelle
Struktur der Faschisten, die das straffste Pa-
triarchat bejahen und aus ihrer Ideologie und
familiären Lebensweise das Sexualleben des
140
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
platonischen Zeitalters tatsächlich reaktivieren,
d. h. „Reinheit" in der Ideologie, Zerrissenheit
und Krankhaftigkeit im realen Sexualleben,
muss begreiflicherweise an die sexuellen Zu-
stände des platonischen Zeitalters anklingen.
Rosenberg und Blüher erkennen den Staat nur
als Männerstaat auf homosexueller Basis an.
Sehr merkwürdig ist, wie sich aus dieser Ide-
ologie die Anschauung von dem Unwert der De-
mokratie herausbildet. Pythagoras wird ver-
neint, weil er als Prophet der Gleichheit Aller,
als „Verkünder des demokratischen Tellurismus,
der Gemeinschaft der Güter und der Weiber"
auftrat. Die innige Verbindung der Vorstellung
der Gemeinschaft der „Güter und der Weiber"
spielt im antibolschewistischen Kampf eine
zentrale Rolle. Die Demokratisierung der rö-
mischen Patrizierherrschaft, die bis zum 5.
Jahrhundert aus 300 Adelsfamilien 300 Senato-
ren stellte, wird darauf zurückgeführt, dass
vom 5. Jahrhundert an Mischehen zwischen Pa-
triziern und Plebejern gestattet waren, was ei-
nen „rassischen Niedergang" bedeutete. So wird
auch die Demokratisierung eines politischen
Systems, die durch Mischehen zustande kommt,
als Erscheinung des Niedergangs der Ras-
se gedeutet. An dieser Stelle enthüllt sich der
politisch reaktionäre Charakter der Rassetheo-
rie restlos. Denn nunmehr bedeutet der Ge-
schlechtsverkehr zwischen Griechen oder Rö-
mern verschiedener Klassen verderbliche Ras-
senmischung. Angehörige der unterdrückten
Klasse werden mit Fremdrassigen auf eine Stu-
fe gestellt. An anderer Stelle spricht Rosenberg
vom Proletariat und seiner Bewegung als dem
141
Die Rassetheorie
„aufsteigenden Asphaltmenschentum der Welt-
tunt " Z* t l nen c Abf f ls P^dukten des Asiaten-
tums (Mythos, S. 66). Hinter der Idee der Mi-
schung mit fremden Rassen steckt also die Idee
des Geschlechtsverkehrs mit Angehörigen der
mass LS? Ih" 6nZ d6r Bour S«°^ie 2 ur klassen-
massigen Abgrenzung, die rein wirtschaftlich
TZJ "l s , exualm °«lisch aber durch die
fr v„ eu \ schankun S ^r die bürgerlichen Frau-
en vollends verwischt ist. Sexuelle Vermischung
der herrschenden mit der beherrschten Klasse
bedeutet aber gleichzeitig eine Erschütterung
der zentralen ideologischen Stützen der Klas-
senherrschaft, in der Wirklichkeit die Mög-
lichkeit einer „Demokratisierung", das heisst
ideologischer, sexueller Propagierung der
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Jugend
SXmf P ^° letariat J ed « gesellschaftlichen
Ordnung produziert aus seiner Klassenlage her-
aus sexuelle Vorstellungen und Lebensweisen
die den Klasseninteressen der Bourgeo^^ener'
Ordnung durchaus tödlich gefährlich s*nd
Wenn hinter der Idee der p.cc. • i
letzten Endes die Idee der Misct~f An^
gehörigen der herrschenden mit Angehörigen
der beherrschten Klassen wirkt, so haben wir
hier offenbar den Schlüssel zur Frage, welche
Kolle die Sexualunterdruckung in der Klassen
gesellschaft spielt. Hier können wir mehrere
Funktionen unterscheiden und dürfen auf kei-
nen Fall eine mechanische Zuordnung der Se-
xualunterdrückung analog der materiellen Aus-
beutung zur unterdrückten Klasse annehmen.
^ie Beziehungen der Sexualunterdruckung zur
«
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
Klassengesellschaft sind viel komplizierter.
Wir wollen hier nur zwei dieser Funktionen
herausheben :
1. Da die Sexualunterdrückung ursprünglich
von den wirtschaftlichen Interessen des Erb-
rechts und der Heirat ausgeht, beginnt sie in-
nerhalb der herrschenden Klasse selbst. Die
Keuschheits- und Treuemoral gilt am schärfsten
zunächst für die weiblichen Angehörigen der
herrschenden Klasse. Dadurch soll die Erhal-
tung des gleichen Besitzes gesichert werden,
der durch die Ausbeutung der unteren Klassen
erworben wurde.
2. Im Frühkapitalismus und in den grossen
asiatischen Kulturen feudalen Charakters ist
die herrschende Klasse an einer moralischen
Unterdrückung der beherrschten Schichten noch
nicht interessiert. Mit dem Beginn der organi-
sierten Arbeiterbewegung, der Erkämpfung so-
zialpolitischer Errungenschaften und der mit
ihr einhergehenden kulturellen Hebung der
breiten Volksmassen setzt zugleich ihre sexual-
moralische Verbürgerlichung ein. Erst jetzt be-
ginnt die herrschende Klasse, ein Interesse an
der „Sittlichkeit" der Unterdrückten zu bekom-
men. Mit dem Aufstieg der organisierten Arbei-
terschaft setzt also gleichzeitig ein gegenteiliger
Prozess ein, der in ideologischer Angleichung
des Proletariats an die Bourgeoisie besteht.
Dabei gehen aber die der eigenen Klassenlage
entsprechenden sexuellen Lebensformen nicht
unter; sie bleiben neben den nunmehr sich im-
mer mehr verankernden Ideologien der herr-
schenden Klasse bestehen und bilden den schon
früher beschriebenen, für das Proletariat spezi-
143
-
Die Rassetheorie
fischen Widerspruch zwischen bürgerlicher und
proletarischer Struktur. Historisch fällt die
Herausbildung dieses massenpsychologischen
Widerspruchs zusammen mit der Ablösung des
feudalen Absolutismus durch die bürgerliche
Demokratie. Die Ausbeutung hat zwar nur ihre
formen verändert, aber diese Veränderung der
Ausbeutungsform bringt gleichzeitig eine ide-
ologische Veränderung des Proletariats mit sich.
Das ist der Tatbestand, den Rosenberg my-
stisch betrachtet, wenn er schreibt, dass der
uralte Erdgott Poseidon von Athene, der Göt-
tin der Asexualität, zurückgedrängt unter ih-
rem Tempel im Boden in Schlangengestalt
herrscht, ebenso wie der „pelasgische Python-
li-S m Del P hi unter d em Tempel Apollos.
„Nicht überall aber tötete der nordische The-
seus die Untiere Vorderasiens; bei der ersten
Erschlaffung des arischen Blutes entstanden im-
mer wieder von neuem die fremden Ungeheuer
das heisst vorderasiatisches Mischlingstum und
physische Robustheit der ostischen Menschen "
Aus dem Bisherigen allein geht schon klar
hervor, was unter „physischer Robustheit" ge-
meint ist: jenes Stück sexueller Naturwüchsig-
keit, das den Angehörigen der ausgebeuteten
Klasse von dem der herrschenden unterscheidet
und im Laufe der „Demokratisierung" allmäh-
lich zersetzt wird, ohne sich je ganz zu ver-
lieren. Psychologisch bedeutet die Schlange
Poseidon und der Pythondrache die als Phallus
symbolisierte genitale Sinnlichkeit. Sie ist
niedergedrückt, unterirdisch geworden in der
sozialen Struktur der Gesellschaft und ihrer
Menschen, aber sie ist nicht vernichtet. Die
144
Rassereinheit, Blutsvergiftung etc.
feudale Oberschichte, die ein unmittelbar
wirtschaftliches Interesse an der Verleugnung
der phallischen Sinnlichkeit hat, sieht sich um-
so mehr durch die naturnäheren sexuellen Le-
bensformen der unterdrückten Schichte gefähr-
det, als es ja selbst diese Sinnlichkeit nicht nur
nicht überwunden, sondern im Gegenteil im
eigenen Kreise in verzerrter und perverser
Form wieder auftreten sieht. Die sexuellen Sit-
ten des Proletariats bedeuten somit nicht nur
eine psychologische, sondern auch eine soziale
Gefahr für die herrschende Klasse, die sich vor
allem in ihrer Familieninstitution bedroht sieht.
Solange das Bürgertum ökonomisch stark ist,
sich in der aufsteigenden Linie befindet wie
etwa das Bürgertum Englands um die Mitte des
19. Jahrhunderts, vermag es auch die sexual-
moralische Abgrenzung vom Proletariat zur
Gänze aufrecht zu erhalten. In Zeiten der Er-
schütterung seiner Herrschaft, besonders aber
in ausgesprochenen Krisen wie etwa seit Beginn
des 20. Jahrhunderts in Mittel-Europa und
England lockern sich die moralischen Fesseln
der Sexualität innerhalb des Bürgertums selbst.
Die sexualmoralische Zersetzung beginnt mit
der Liquidierung der familiären Bindungen in
der Grossbourgeoisie, während zunächst das
mittlere und kleinere Bürgertum in voller
Identifikation mit dem Grossbürger und seiner
Moral der eigentliche Träger der offiziell noch
immer von der Grossbourgeoisie vertretenen
sexuellen Moral wird. Das Geschlechtsleben des
Proletariats muss gerade dann der Grossbour-
geoisie als besondere Gefahr für den Bestand
seiner sexuellen Institutionen erscheinen, wenn
10
145
Die Rassetheorie
die wirtschaftliche Proletarisierung des Klein-
bürgertums beginnt. Da es sich zentral auf die
Kleinbourgeoisie stützt, liegt ihm besonders
viel an deren Sittlichkeit und Reinhaltung von
den „Einflüssen des Untermenschentums". Ver-
löre nämlich die Kleinbourgeoisie seine ide-
ologische sexualmoralische Haltung im gleichen
Masse wie seine wirtschaftliche Zwischenstel-
lung zwischen Proletariat und Grossbourgeoisie,
so gäbe es für das Kapital kaum eine ernstere
Bedrohung. Denn auch im Kleinbürgertum
lauert der „pythische Drache", jederzeit bereit,
die ihm auferlegten Fesseln und damit auch die
ideologische Panzerung durch die politische
Reaktion zu sprengen. Daher verstärkt das Ka-
pital immer in Zeiten der Krise seine Propa-
ganda für Sittlichkeit und Festigung der Ehe
und Familie. Bildet doch die Familie die Brük-
ke von der elenden ökonomischen Lage der
Kleinbourgeoisie zur reaktionären Ideologie.
Wird die Familie durch Wirtschaftskrisen und
Proletarisierung des Mittelstandes erschüttert,
so ist dadurch auch die ideologische Veranke-
rung des herrschenden Systems auf das stärkste
gefährdet. Mit dieser Frage werden wir uns
noch eingehend befassen müssen. Wir müssen
also dem Münchener nationalsozialistischen
Biologen und Rassenforscher Leng Glauben
schenken, wenn er auf einer Tagung der natio-
nalsozialistischen Gesellschaft „Deutscher
Staat" 1932 behauptete, die Familie sei Kern-
punkt der Kulturpolitik. Wir dürfen hinzufü-
gen, der reaktionären ebensowohl wie der re-
volutionären, denn diese Feststellungen haben
weittragende politische Konsequenzen.
146
IV. KAPITEL
Die Symbolik des Hakenkreuzes
Wir haben früher besprochen, warum der
Faschismus als ein Problem der Massen und
nicht allein als ein Problem der Persönlichkeit
Hitlers oder der objektiven Rolle der national-
sozialistischen Partei zu betrachten ist. Wir ha-
ben dargelegt, wie es kommen kann, dass die
proletarisierte Masse sich einer erzreaktionä-
ren Partei derart stürmisch zuwenden kann. Um
nun schrittweise und sicher zu den praktischen
Konsequenzen vorzudringen, die sich daraus
für die sexualpolitische Arbeit ergeben, ist es
zunächst notwendig, sich den Mitteln der Sym-
bolik zuzuwenden, mit denen die Nationalsozia-
listen die revolutionären Strukturen der Mas-
sen in die reaktionären Fesseln legen und deren
Mechanik ihnen nicht bewusst ist.
In der SA vereinigte der Nationalsozialismus
sehr bald zu einem grossen Teile dumpf revo-
lutionär gesinnte, aber gleichzeitig autoritär
eingestellte Arbeiter, zum grössten Teil Arbeits-
lose und Jugendliche ohne politische Erfah-
rung. Aus diesem Grunde ist die Propaganda
widerspruchsvoll, je nach der Schichte anders.
Das haben wir zum Teil bereits gezeigt. Nur in
der Handhabung des mystischen Fühlens der
Masse ist sie konsequent und eindeutig.
Aus Gesprächen mit nationalsozialistischen
Parteigängern und besonders Mitgliedern der
147
-
Die Symbolik des Hakenkreuzes
n£,> g K h V, i M eUtig J herVOr ' d3SS die "VOlutio-
SSLfc^^W dCS Nati ° n alsozialismus der
entscheidende Faktor in der Gewinnung dieser
Massen war. Man hörte NationalsJalhten
höT e SA d T SS Hi Ü er d3S Ka P ital vert ^te. Man
horte SA-Leute Hitler auf das schwerste dro-
hen, W en n er die Sache der „Revolution" ver-
se der H % M , a " x hÖrt - e V ° n S A - L ^ten, Hitler
sei der deutsche Lenin. Was von der Sozial-
demokratie und den liberalen Mittelparteien
zum Nat.ona Sozialismus überging, sind durch
wegs revolutionierte Massen, die früher unpo-
litisch oder politisch unklar waren. Was von
der kommunistischen Partei überlief, waren oft
proletarisch-revolutionär eingestellte Elemen-
te, die viele der widerspruchsvollen politischen
Massnahmen der KPD nicht zu erfassen ver-
mochten, zum Teil solche, denen das äussere
SarXr h'- *?*, ^ ÜerS ' der m "itärische
bÄSJ." Kraft ~ "gen u. , f. den
U " te J.. den symbolischen Mitteln der Prooa-
ganda fallt zumächst das Fahnensymbol auf
H^!t £1 *5? Heer vom Hakenkreuz
Hebt hoch die roten Fahnen,
Der deutschen Arbeit wollen wir
Den Weg zur Freiheit bahnen."
Dieser Text ist seinem Gefühlsgehalt nach
unzweideutig revolutionär. Die Nationalsozia-
listen benutzen auch bewusst kommunistische
Melodien, die sie mit anderen Texten singen
lassen. Dazu passen politische Formulierungen
wie man sie in den Zeitungen Hitlers zu hun-
gerten findet, etwa folgende:
Die Symbolik des Hakenkreuzes
a H ^St , politische Bürgertum ist eben im Begriff von
der Buhne der historischen Gestaltung abzutreten. An
seine Stelle rückt der bis heute unterdrückte Stand
des schaffenden Volkes der Faust und der Stirne, des
Arbeitertums, um seine geschichtliche Mission zu er-
füllen.
In der geschickt zusammengesetzten Flagge
kommt der subjektiv-affektive Charakter der
Ideologie der nationalsozialistischen Massen
völlig zur Geltung. Hitler schreibt über die
Flagge :
„Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer
Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozia-
len Gedanken unserer Bewegung, im Weiss den natio-
nalistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes
für den Sieg des arischen Menschen und zugleich auch
mit ihm den Sieg des Gedankes der schaffenden Arbeit,
die selbst ewig antisemitisch war und ewig antisemi-
tisch sein wird." („Kampf", S. 557).
Dass das Rot und das Weiss an die wider-
sprüchliche Struktur des kleinbürgerlichen Men-
schen anklingen muss, ergibt sich nach dem
früheren von selbst. Unklar ist bis jetzt die
Rolle, die das Hakenkreuz im Gefühlsleben
spielt. Warum ist dieses Symbol derart zur Pro-
vokation von dunklen Gefühlen geeignet? Hitler
sagt, es sei ein Symbol des Antisemitismus. Das
ist nun das Hakenkreuz erst sehr spät gewor-
den. Und im Übrigen bleibt die Frage nach dem
affektiven Gehalt des Antisemitismus bestehen.
Einen Teil konnten wir aus dem irrationalen
Gehalt der Rassetheorie als einer affektiv ab-
lehnenden Bewertung des Schmutzig-sexuell-
sinnlichen bereits erklären. Hier steht der Jude
149
Die Symbolik des Hakenkreuzes
und der Neger auf einer Stufe in der Vorstel-
lung des Nationalisten, des deutschen ebenso
wie des amerikanischen. Nach authentischen
Berichten spielt sich der Rassekampf in Ame-
rika gegen den Neger überwiegend auf dem
Boden der sexuellen Abwehr ab: der Neger ist
als das sinnliche Schwein aufgefasst, das weisse
Frauen vergewaltigt. Und Hitler schreibt über
die farbige Besatzung des Rheinlandes:
„Nur in Frankreich besteht heute mehr denn je eine
innige Übereinstimmung zwischen den Absichten der
Börse, den sie tragenden Juden und den Wünschen ei-
ner chauvinistisch eingestellten nationalen Staatskunst.
Allem gerade in dieser Tatsache liegt eine immense
Gefahr für Deutschland. Gerade aus diesem Grunde
» - j w * Frankreich d er weitaus furchtbarste
Feind. Dieses an sich immer mehr der Vernegerung
anheimfallende Volk bedeutet in seiner Bindung an die
Ziele der jüdischen Weltbeherrschung eine lauernde
Gefahr für den Bestand der weissen Rasse Europas.
Denn die Verpestung durch Negerblut am Rhein im
Herzen Europas entspricht ebenso sehr der sadistisch-
perversen Rachsucht dieses chauvinistischen Erbfein
des unseres Volkes, wie der eisig-kalten Überlegung
des Juden, auf diesem Wege die Bastardierung des
europaischen Kontinents im Mittelpunkte zu beginnen
und der weissen Rasse durch Infizierung mit niederem
Menschentum die Grundlagen zu einer selbstherrli
chen Existenz zu entziehen." (1. c . S. 704 705)
Wir müssen uns energisch darin üben, auf
das, was der Gegner sagt, genau zu hören und
es nicht als Blödsinn oder Schwindel abzutun.
Wir verstehen jetzt besser den Gefühlsgehalt
dieser Theorie, die wie ein Verfolgungswahn
anmutet, wenn man sie zusammen mit der Theo-
rie von der Vergiftung des Volkskörpers be-
trachtet. Auch das Hakenkreuz hat einen Ge-
150
Die Symbolik des Hakenkreuzes
fühlsgehalt, der an das tiefste Gefühlsleben zu
rühren geeignet ist, allerdings tragikomisch
ganz anders, als sichs Hitler träumen lässt.
Zunächst wurde das Hakenkreuz auch bei Se-
miten gefunden und zwar im Myrtenhof der Al-
hambra zu Granada. Herta Heinrich fand es an
der Synagogenruine von Edd-Dikke in Ost-
Jordanland am Genezarethsee. Hier hatte es
folgende Form: 1 )
un
Das Hakenkreuz wird oft mit einer Raute zu-
sammen gefunden, jenes als Symbol des männ-
lichen, dieses des weiblichen Prinzips. Percy
Gardner fand es bei den Griechen unter der Be-
zeichnung Hemera als Sonnensymbol, was wie-
der männliches Prinzip bedeutet? Löwenthal
beschreibt ein Hakenkreuz aus den 14. Jahrhun-
dert im Altartuch in Maria zur Wiese in Soest,
und zwar ist hier das Hakenkreuz mit Volva
und Doppelkreuz ausgestattet. Hier erscheint
das Hakenkreuz als Symbol des Gewitterhim-
mels, die Raute als Symbol der fruchtbaren
Erde. Smigorski fand das Hakenkreuz in Form
des indischen Svasri&a-Kreuzes als viergerich-
1 ) Herta Heinrich: Hakenkreuz, Vierklee und Gra-
natapfel. (Zschr. f. Sexualwissenschaft, 1930. S. 43).
2 ) Sämtliche Angaben nach Löwenthal, John: Zur
Hakenkreuzsymbolik. (Ztschrft. f. Sexualwissenschaft
1930, S. 44).
151
Die Symbolik des Hakenkreuzes
teter Blitz mit drei Punkten an jedem Schenkel
wie iolgt:
4
» 4 *
Lichtenberg fand Hakenkreuze mit einem
Kopf an der Stelle der drei Punkte. Das Haken-
kreuz ist also ursprünglich ein Sexualsymbol,
das im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutun-
gen annahm, unter anderem später auch das ei-
nes Mühlrades, also als Symbol der Arbeit. Da
Arbeit und Geschlechtlichkeit ursprünglich ge-
lunlsmassig dasselbe waren, erklärt sich der
*und von Bilmans und Pengerots auf der Mitra
des heiligen Thomas Beckett aus indogermani-
BcJrlf? '' dn Hakenkreuz mit folgender In-
„Heil dir Erde, der Menschen Mutter, sei du
wachsend in Gottes Umarmung, Frucht gefül-
let den Menschen zum Nutzen."
Hier ist die Fruchtbarkeit geschlechtlich
dargestellt als Geschlechtsakt der Mutter-Erde
mit Gott- Vater Altindische Lexikographen
nennen nach Zelemn sowohl Hahn wie auch
Wollüstling svastikas, d. h. Hakenkreuz, nach
dem Geschlechtstrieb.
Betrachten wir jetzt noch einmal die Haken-
kreuze auf voriger Seite, so enthüllen sie sich uns
als die Darstellung zweier ineinander geschlun-
gener menschlicher Gestalten, schematisiert
aber in der ursprünglichen Form deutlich als
152
Die Symbolik des Hakenkreuzes
-
solche zu erkennen. Das linke Hakenkreuz
stellt einen Geschlechtsakt in liegender, das an-
dere in stehender Stellung dar.
Diese Wirkung des Hakenkreuzes auf das
unbewusste Gefühlsleben ist natürlich nicht Ur-
sache, sondern blos mächtiges Hilfsmittel des
Erfolges der faschistischen Massenpropaganda.
Stichprobenhafte Versuche mit Personen ver-
schiedenen Alters, Geschlechts und sozialer
Stellung haben ergeben, dass nur wenige den
Sinn des Hakenkreuzes nicht erkennen; die
meisten erraten ihn bei längerer Betrachtung
früher oder später. Es ist also anzunehmen, dass
dieses Symbol, das zwei ineinandergeschlungene
Gestalten darstellt, auf tiefe, umbewusste
Schichten des Seelischen einen grossen Reiz
ausübt, der umso stärker ausfallen muss, je un-
befriedigter, unbewusst oder bewusst sexuell
sehnsüchtiger der Betreffende ist. Wird das Sym-
bol noch dazu als Sinnbild von Ehrenhaftigkeit
und Treue präsentiert, so trägt es auch den ab-
wehrenden Strebungen des moralischen Ich
Rechnung und kann umso leichter akzeptiert
werden. Er wäre durchaus falsch, aus diesen
Tatsachen etwa die Praxis abzuleiten, die Wir-
kung des Symbols durch laute, massenmässige
Enthüllung seines sexuellen Sinnes zu entwer-
ten, denn erstens wollen wir ja den Ge-
schlechtsakt nicht entwerten, zweitens aber
würden wir wahrscheinlich vorwiegend Ableh-
nung erfahren, weil sich die moralische Ver-
hüllung als Widerstand gegen die Annahme un-
serer Versuche auswirken würde. Der Weg der
sexualpolitischen Arbeit ist ein anderer.
153
V. KAPITEL
Die sexualökonomischen Voraus-
setzungen der bürgerlichen Familie
Da sich die privatwirtschaftliche Klassenge-
sellschaft mit entscheidender Hilfe der Familie
in Gestalt bestimmter massenindividueller
Strukturen reproduziert, muss die Familie von
der politischen Reaktion als die Grundlage des
„Staates, der Kultur und der Zivilisation" ange-
sprochen und verteidigt werden. Sie kann sich
m dieser Propaganda auf tiefe gefühlsmässige
Faktoren bei den Massen stützen. Dass die letzte
Grundlage jeder Gesellschaft die ihr zugrunde-
liegende Produktionsform, die der bürgerlichen
also der Privatbesitz an den Produktionsmitteln
ist, kann der reaktionäre Politiker weder aner-
kennen noch für seine Zwecke verwenden Denn
in der politischen Propaganda, bei der es sich
um massenpsychologische Wirkung handelt hat
man es nicht unmittelbar mit den ökonomischen
Grundlagen und Prozessen zu tun, sondern mit
ihrer psychischen Repräsentanz in den „Köpfen
der Menschen", das heisst mit den von den Pro-
duktionsverhältnissen bestimmten menschlichen
Strukturen. Dieser Gesichtspunkt diktiert be-
stimmte Verhaltungsweisen in der politischen
Propaganda und seine Vernachlässigung kann
zu massenpsychologischen Fehlern führen. Die
reolutionäre Sexualpolitik kann sich demnach
154
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
nicht mit dem Herausstellen der objektiven
Grundlagen der bürgerlichen Familie begnügen,
sie muss darüber hinaus, wenn sie massenpsy-
chologisch richtig vorgehen will, sich auf die
Grundlage einer genauen Kenntnis derjenigen
psychischen Prozesse stellen, mit deren Hilfe
sich der Produktionsprozess des Kapitals ver-
wirklicht, ideologisch reproduziert und konser-
viert.
Vom Standpunkt des historischen Materialis-
mus kann die Familie nicht als die Grundlage
des bürgerlichen Staates angesehen werden, son-
dern nur als eine seiner wichtigsten stützenden
Institutionen. Wohl aber müssen wir sie als die
zentrale ideologische Keimzelle ansprechen, das
heisst als die wichtigste Produktionsstätte des
bürgerlichen Menschen. Selbst aufgrund be-
stimmter Produktionsverhältnisse entstehend
und sich wandelnd, wird sie zur wesentlichsten
Institution der Konservierung des sie bedingen-
den Systems. Hier sind heute wie ehedem die
Aufstellungen von Morgan und Engels voll gül-
tig. Doch interessiert uns in diesem Zusammen-
hange nicht die Geschichte der Familie, sondern
die aktuelle sexualpolitisch wichtige Frage, wel-
che Gesichtspunkte sich die proletarische Sexu-
alpolitik zu eigen zu machen hat, um der reak-
tionären Sexual- und Kulturpolitik, in deren
Zentrum die Frage der Familie mit so viel Er-
folg gestellt ist, fruchtbar entgegenzutreten. Ei-
ne genaue Erörterung der subjektiven Auswir-
kungen und Grundlagen der bürgerlichen Fami-
lie ist umso notwendiger, als in dieser Frage
auch in revolutionären Kreisen grosse Unklar-
heit herrscht,
155
D. Sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
snr^ c e h b ^ gerHChe Fami " e enthält einen Wider-
El ' f S % en ge 1 " aUe Kenntni « für eine durch-
deut a u g n g n t t SeXUalp ° litik V ° n -leidender Be-
niflS 1 Erh ^. tun g der Familieninstitution gehört
nicht nur die wirtschaftliche Abhängigkeit der
Frau und der Kinder vom Mann und Vater Di"
i*f*** *« nur unter der Bedingung tt
die Unterdruckten erträglich, dass das Bewusst-
sem, ein geschlechtliches Wesen zu sein bei
Frauen UI?d Kindern so gründlich wie möglich
ÄS, 1 *" w i rd - Die Frau dar{ nicht ä
«Äff™ " Ur a/s G 'M""» «wiei-
Verhim^.1 3 ^ r " ng der M ««erschaft, ihre
Verhimmelung, die in so krassem Widerspruch
werktäX v ta ,u tät '. mit der die Mütt " d «
werden g H" °* eS *" Wirkl ^eit behandelt
werden, dienen im wesentlichen als Mittel in
den Frauen das geschlechtliche Bewüsstse n
nicht aufkommen, die gesetzte SexuaTverdrän"
gung nicht durchbrechen, die sexuelle T Antst
und das sexuelle Schuldgefühl nicht untergehen
zu lassen Die Frau als Sexualwesen, dazu „och
bejaht und anerkannt, würde den V7,t;
bruch der gesamten familiären IdTolo'gTeTedeT
ten. Die proletarische Sexualpolitik hat bisher"
den Fehler begangen, dass sie die Parole vom
„Recht der Frau auf den eigenen Körper" nicht
genügend konkretisiert, dass sie nicht eindeutig
und unmissverständlich die Frau als sexuelles
Wesen nannte und verteidigte, zumindest eben
so wie als Mutter. Sie hat fernerhin die Sexual-
politik überwiegend auf die Fortpflanzungs-
tunktion gestützt, statt die bürgerliche Einheit
von Sexualität und Fortpflanzung aufzuheben
156
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
Dadurch konnte sie der Sexualreaktion nicht
kräftig genug gegenübertreten.
Zur Stütze der Familie gehört die Ideologie
des „Segens des Kinderreichtums" nicht nur aus
den objektiven Zwecken des kriegerischen Im-
perialismus, sondern auch ganz wesenlich aus
der Notwendigkeit, die Sexualfunktion der Frau
gegenüber ihrer Gebärfunktion in den Schatten
zustellen. Die bürgerliche Gegenüberstellung
von „Mutter" und „Dirne", wie etwa beim bür-
gerlichen Philosophen Weininger, entspricht der
realen Gegensätzlichkeit von Geschlechtslust
und Fortpflanzung im bürgerlichen Menschen.
Der Geschlechtsakt um der Lust willen entwür-
digt nach dieser Auffassung die Frau und Mut-
ter, und Dirne ist, wer sie bejaht und danach
lebt. Die biologische Auffassung des Ge-
schlechtslebens in dem Sinne, Geschlechtlich-
keit und Fortpflanzung wären identisch, jen-
seits der Fortpflanzung gäbe es nichts, das zu
bejahen wäre, ist der wichtigste Grundzug der
bürgerlichen Sexualpolitik. Diese Auffassung
ist nicht weniger bürgerlich, wenn sie von Kom-
munisten, wie etwa Salkind und Stoliaiow, ver-
treten wird.
Damit die objektiven kriegsimperialistischen
Ziele des monopolistischen Kapitals mit Sicher-
heit erfüllt werden, ist eine Veränderung der
Frauen in dem Sinne unerlässlich, dass in ihnen
keinerlei Auflehnung gegen die ihnen aufgehals-
te Funktion, Gebärmaschine zu sein, aufkom-
men kann. Das heisst, die Funktion der Sexual-
befriedigung darf die der Fortpflanzung nicht
stören, und zudem würde eine sexualbewusste
Frau niemals willig den reaktionären Parolen
157
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie
folgen, die ihre Versklavung beabsichtigen Die-
ser Gegensatz von Sexualbef riedfgung und Fort-
pflanzung gilt nur für das kapitalistische Wirt-
schaftssystem nicht für den Sozialismus; es
kommt derauf an, unter welchen gesellschaftli-
chen Bedingungen sich die Frauen zum Gebären
bekennen sollen, unter günstigen, von der Ge-
sellschaft betreuten Verhältnissen oder unter
den Bedingungen des Kapitals, das keinen zu-
reichenden Mutterschutz und Säuglingsschutz
kennt Wenn also die Frauen ohne irgendwel-
chen Schutz der Gesellschaft, ohne selbst mit-
bestimmen zu können, ohne Gewähr für die Si-
cherheit der Aufzucht ihrer Kinder willig ge-
baren sollen, ohne selbst die Zahl der zu ge-
u ren A en n K / nder bestimmen ™ dürfen, willig,
ohne Auflehnung gebären sollen, muss die Mut-
terschaft im Gegensatz zur sexuellen Funktion
der Frau idealisiert werden
Wenn wir also die Tatsache begreifen wollen
dass die Partei Hitlers sich vorwiegend auf
Frauenstimmen stützte, ebenso wie das Zentrum
müssen wir ausser der objektiven Funktion fe
Frauenversklavung auch ihren psychologischen
Mechanismus begreifen. Und dieser Mechanis
mus ist die Gegenüberstellung von Frau als Ge
bärerin und Frau als Sexualwesen. Wir verste"
hen dann gründlicher Stellungnahmen des Fa-
schismus, wie etwa die folgender Art:
„Die Erhaltung der schon vorhandenen kinderrei-
chen Familie ist eine Angelegenheit des Sozialgefühls"
die Erhaltung der kinderreichen Familienform eine
solche biologischer Auffassung und völkischer Gesin
nung . Dle kinderreiche Familie ist nicht zu erhalten
wen sie hungert, sondern sie ist zu erhalten als hoch-
"tiger, unentbehrlicher Bestandteil des deutschen
158
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
Volkes. Hochwertig und unentbehrlich nicht nur, weil
sie allein die Erhaltung der Volkszahlen in der Zu-
kunft gewährleistet (objektive imperialistische Funk-
tion. — D. Autor), sondern weil Volkssittlichkeit und
Volkskultur in ihr die stärkste Stütze finden ... Die
Erhaltung der lebenden kinderreichen Familien ist mit
der Erhaltung des Typs der kinderreichen Familie ver-
quickt, weil diese beiden Probleme tatsächlich nicht
voneinander zu trennen sind ... Die Erhaltung der
kinderreichen Familienform ist eine Forderung staats-
und kulturpolitischer Notwendigkeit ... Diese Gesin-
nung widerspricht auch strikte der Aufhebung des § 218
und betrachtet empfangenes Leben als unantastbar.
Denn die Freigabe der Schwagerschaftsunterbrechung
widerspricht dem Sinn der Familie, deren Aufgabe
ja gerade die Erziehung des Nachwuchses ist und die-
se Freigabe würde endgültige Vernichtung der kinder-
reichen Familie überhaupt sein."
So schrieb der „Völkische Beobachter" am 14.
-10.-1931. Also auch in der Frage des Abtrei-
bungsparagraphen ist die bürgerliche* Familien-
politik der Schlüsselpunkt, weit wesentlicher als
die bisher von der proletarischen Sexualpolitik
in den Vordergrund geschobenen Faktoren des
Interesses an industrieller Reservearmee und
Kanonenfutter für den imperialistischen Krieg.
Das Argument der Reservearmee hat in den Jah-
ren der Wirtschaftskrise mit Erwerbslosenar-
meen von vielen Millionen in Deutschland, 1932
etwa 40 Millionen in der ganzen kapitalistischen
Welt, an Bedeutung fast völlig verloren. Wenn
die politische Reaktion uns immer wieder sagt,
die Aufrechterhaltung des Abtreibungsparagra-
phen sei notwendig im Interesse der Familie
und der sittlichen Ordnung, wenn der sozialde-
mokratische Sozialhygieniker Grothjan hier die
gleiche Linie bezog wie die Nationalsozialisten,
so müssen wir ihnen Glauben schenken, dass Fa-
159
1
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie
milie und Sittlichkeit entscheidend wichtige
Kräfte sind. Wir dürfen sie nicht als „ideell"
beiseiteschieben. Es geht um die Bindung der
Frauen an die Familie mithilfe der Unterdrü-
ckung ihrer sexuellen Bedürfnisse, es geht um
den Einfluss, den diese Frauen auf ihre Männer
im reaktionären Sinne ausüben, es geht um die
Sicherstellung der Wirkung, die die antibol-
schewistische Sexualpropaganda auf die Millio-
nen sexuell Unterdrückter und diese Unterdrük-
kung duldender Frauen hat. Man tut vom revo-
lutionären Standpunkt aus unrecht, der Reak-
tion nicht überall dorthin zu folgen, wo sie ihre
konterrevolutionäre Wirkung entfaltet. Man
muss sie dort schlagen, wo sie ihr System vertei-
digt. Das Interesse an der Familie als staatser-
haltender Institution steht also an erster Stelle
in allen Fragen der reaktionären Sexualpolitik.
Und es trifft zusammen mit dem gleichgerichte-
t en Interesse aller Schichten des Kleinbürger-
mZhJ%u ? X ! d A *u amilie die wirtschaftliche
Einheit bildet, oder besser, vor der Krise gebil-
det hat Von diesem Standpunkt sieht die fa-
schistische Ideologie Staat und Gesellschaft
^"^Ü? w P0litik * V ° n diesem durch die
alte Wirtschaftsweise des Kleinbürgertums be
stimmten Standpunkt ist auch die reaktionäre
Sexualwissenschaft beherrscht, wenn sie an den
Staat mit der Vorstellung, er sei ein „organi-
sches Ganzes" herantritt. Das Proletariat, für
das Familie und soziale Daseinsweise ausein-
anderfallen, in dem also die Familie nicht orga-
nisch wirtschaftlich verwurzelt ist, ist daher in
der Lage, das Wesen des Staates als einer Zwei-
neit von Klassen zu sehen, für seine Sexualwis-
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
senschaft und seine Sexualpolitik gilt nicht der
„biogolische" Standpunkt, der Staat sei ein or-
ganisches Ganzes. Sofern das Proletariat sich
dieser reaktionären Anschauung zugänglich er-
weist, beruht das auf dem Eindringen der klein-
bürgerlichen familiären Daseinsweise in die
Schichten der Industriearbeiterschaft. Und das
Kleinbauerntum und Kleinbürgertum wäre der
Einsicht seiner Zugehörigkeit zur Klasse der
Ausgebeuteten zugänglicher, .wenn nicht seine
familiäre Situation bis zu einem bestimmten
Stadium der kapitalistischen Wirtschaftsord-
nung organisch mit seiner wirtschaftlichen ver-
flochten wäre.
Wir sagen, bis zu einem bestimmten Stadium,
denn in der Weltkrise zeigte sich, dass sich mit
dem wirtschaftlichen Ruin der kleinen Wirt-
schaften dieser Zusammenhang von Familie und
Wirtschaft lockerte. Aber das Wesen der viel-
genannten Tradition des Kleinbürgertums, näm-
lich ihre familiäre Gebundenheit, wirkte sich
nachträglich noch aus. Es musste daher der fa-
schistischen Ideologie von der „kinderreichen
Familie" viel zugänglicher sein, als der kommu-
nistischen von der Geburtenregelung, vor allem
deshalb, weil die kommunistische Propaganda
keine Klarheit in diesen Fragen schuf und sie
nicht in vorderste Front stellte.
So eindeutig dieser Tatbestand ist, wir wür-
den fehlgehen, wenn wir ihn nicht im Zusam-
menhange mit anderen ihm widersprechenden
Tatbeständen beurteilen würden. Und wir wür-
den unausweichlich zu gar keiner oder zu einer
falschen sexualpolitischen Perspektive gelangen,
wenn wir diese Widersprüche im Leben des
161
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie
Kleinbürgers (und des Proletariats, soweit es
kleinbürgerlich ist) übersehen würden. Zunächst
ist der Widerspruch entscheidend zwischen dem
sexualmoralischen Denken und Fühlen des
Kleinburgers und seiner konkreten sexuellen
Daseinsweise. Ein Beispiel: Im Westen
Deutschlands gab es eine grosse Anzahl von
proletarischen Geburtenregelungsvereinen vor-
«5 e fr^. " sozialisti schen" Charakters. In der
Wolf-Kienle-Kampagne 1931 gab es Abstimmun-
gen über den Abtreibungsparagraphen, wobei
die gleichen Frauen, die Zentrum oder NSDAP
wählten, für die Abschaffung des Paragraphen
waren, während ihre Parteien dagegen Sturm
liefen. Diese Frauen stimmten für die sozialisti-
sche Parole, weil sie sich ihren Geschlechtsver-
kehr sichern wollten, aber gleichzeitig stimmten
sie für ihre Parteien, nicht weil sie ohne Kennt-
nis von deren bevölkerungspolitischen Absichten
waren sondern weil sie gleichzeitig, ohne sich
des Widerspruchs bewusst zu sein, erfüllt waren
von der reaktionären Ideologie der „reinen Mut-
terschaft des Gegensatzes von Mutterschaft
und Geschichtlichkeit, vor allem von der fami-
liären Ideologie. Diese Frauen wussten zwar
nichts von der soziologischen Rolle der Familie
im Kapitalismus, aber sie standen unter dem
Einfluss der antibolschewistischen Sexualpoli-
tik der politischen Reaktion; sie bejahten die
Geburtenregelung, aber sie wollten nicht das
System, das diese Geburtenregelung praktisch
für die Massen durchführen und auch ihre wirt-
schaftlichen Voraussetzungen schaffen kann.
Die Sexuelreaktion bediente sich ja auch aller
Mittel, die familiäre Bindung insbesondere der
162
D. sexualökonom; Voraussetz. d. bürgerl. Familie
Frauen für ihre Zwecke auszunützen. Ist einer
durchschnittlichen christlichen oder national-
gesinnten Arbeiter- oder Kleinbürgerfrau die
proletarische Familienpolitik unverständlich
um wieviel grösser musste dieses Unverständnis
werden wenn Propaganda folgender Art betrie-
ben wird, ohne dass eine entsprechende sexual-
politische Gegenpropaganda von revolutionärer
beite einsetzte.
Schon im Jahre 1918 gab die „Vereinigung zur
Bekämpfung des Bolschewismus" ein Plakat
heraus, das folgendermassen lautete:
„Deutsche Frauen I
Ahnt Ihr, womit Euch der Bolschewismus bedroht?
Der Bolschewismus will die Sozialisierung der Frauen-
ü aS T Eigentumsrecht auf Frauen zwischen 17 und
32 Jahren wird aufgehoben.
2. Alle Frauen sind Eigentum des Volkes
3. Die bisherigen Eigentümer behalten ausser der Rei-
he das Recht auf ihre Frauen.
4. Jeder Mann der ein Exemplar des Volkseigentums
tSSSäü' bSdarf dner ^"heinigun^'vCr
5. Der Mann hat kein Recht, eine Frau öfter als drei
mal wöchentlich und länger als drei Stunden fü"
sich in Anspruch zu nehmen.
k£L.! ver P flichte *, die sich widersetzenden
*rauen anzuzeigen.
7 ' flftf n ü ht u ZU I Arb eiterklasse gehörende Mann hat
rur das Kecht der Benutzung dieses Volkseigentums
monatlich 100 Rubel zu zahlen."
Die erste Regung der durchschnittlichen un-
politischen Frau ist eindeutig entsetzte Ableh-
nung, die Regung nahestehender Frauen aber
etwa folgender Art :
(** rief aus einer Arbeiterkorrespondenz):
„Ich gebe zu, da es nur einen Ausweg aus dem heu-
tigen Elend gibt für uns Werktätige, und das ist der
Sozialismus. Aber er muss in gewissen massigen Gren-
163
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
zen bleiben und nicht alles, was war, als schlecht und
unnötig verwerfen. Sonst wird das zu einer Verwilde-
rung der Sitten führen, die noch viel schrecklicher ist
als die heutige traurige materielle Lage. Und leider
wird vom Sozialismus ein sehr wichtiges, hohes Ideal
angegriffen: die Ehe. Man will da volle Freiheit, volle
Zugellosigkeit fordern, gewissermassen den Sexual-
bolschewismus. Jeder Mensch soll sich dann frei und
ohne Hemmung ausleben, austoben. Es soll nicht mehr
die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau geben
sondern man ist eben heute mit dem beisammen, mor-
gen mit jenem, wie es einem gerade die Laune eingibt
Das nennt man Freiheit, freie Liebe, neue Sexualmo-
ral. Aber diese schönen Namen können mich nicht
darüber hinwegtäuschen, dass hier grosse Gefahren
lauern Es werden die höchsten, edelsten Gefühle des
Menschen dadurch beschmutzt: die Liebe, die Treue,
die Aufopferung. Es ist ganz unmöglich, es ist natur-
widrig, dass ein Mann oder eine Frau zur gleichen Zeit
mehrere andere lieben kann. Die Folge davon würde
nur eine unabsehbare Verrohung sein, die die Kultur
vernichtet. Ich weiss ja nicht, wie diese Dinge in der
Sowjetunion aussehen, aber entweder sind die Russen
besondere Menschen oder sie haben diese absolute
Freiheit doch nicht erlaubt und es gibt dort auch ge-
wisse Zwangsmassnahmen. So schön also die so-
zialistischen Theorien sind, und so sehr ich in allen
wirtschaftlichen Fragen mit euch übereinstimme, in
der Sexualfrage komme ich nicht mit und dadurch
zweifle ich oft an der ganzen Sache."
Die revolutionäre Bewegung hatte bisher mit
ihrer Sexualpolitik deshalb keinen Erfolg, im
Verhältnis zu den Möglichkeiten einer konse-
quenten revolutionären Sexualpolitik, weil sie
gegen die erfolgreichen Versuche der Reaktion,
sich auf die sexualverdrängenden Mächte im
Bürgertum zu stützen, nicht mit den gleichen
Waffen reagierte. Hätte die Sexualreaktion
ebenso wie die proletarische Sexualreformbewe-
gung einzig und allein ihre bevölkerungspoliti-
164
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgert. Familie
sehen Thesen propagiert, sie hätte keine Katze
hinter dem Ofen hervorgelockt. Sie arbeitete je-
doch erfolgreich mit der Sexualangst insbeson-
dere der Frauen und weiblichen Jugendlichen,
sie verband geschickt die Durchsetzung der ob-
jektiven bevölkerungspolitischen Ziele des Ka-
pitals mit den affektiven familiären und sonsti-
gen moralischen Hemmungen der Bevölkerung,
und dies nicht nur in reinen Kleinbürgerkreisen.
Die Hunderttausende christlich organisierter
Arbeiter beweisen das.
Hier noch ein Beispiel für die Propaganda-
methode der Reaktion. 1 )
„In ihrem zerstörenden Feldzuge gegen die
ganze bürgerliche Welt hatten die Bolschewi-
ken von Anfang an ihr besonderes Augenmerk
auf die Familie, „diesen besonders starken Über-
rest des verfluchten, alten Regimes" gerichtet.
Die Vollversammlung des Komintern vom 10.
Juni 1924 erklärte schon: „Die Revolution ist
machtlos, so lange der Begriff Familie und Fa-
milienbeziehung bestehen." Infolge dieser Ein-
stellung entbrannte auch sofort ein heftiger Kampf
gegen die Familie. Bigamie und Polygamie sind
nicht verboten und somit erlaubt. Das Verhalten
der Bolschewiken zur Ehe wird durch folgende
Definition des Ehebündnisses gekennzeichnet,
die Professor Goichbarg vorgeschlagen hatte:
„Die Ehe ist ein Institut für bequemere und we-
niger gefährliche Befriedigung der sexuellen
Bedürfnisse." Wie weit der Zerfall der Familie
und E he unter den gegebenen Bedingungen
') („Welt vor dem Abgrund", „Der Einfluss des rus-
sischen Kulturbolschewismus auf die anderen Völker"
Deutscher Volkskalender, S. 47).
165
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
geht, beweist die Statistik der allgemeinen
Volkszählung 1927. Die „Istwestija" schreibt:
„In Moskau hat die Volkszählung zahlreiche
Fälle der Vielweiberei und Vielmännerei fest-
gestellt. Fälle, wo zwei, ja sogar drei Frauen
denselben Mann als ihren Ehegatten bezeichnen,
können als eine alltägliche Erscheinung angese-
hen werden." Man darf sich nicht wundern,
wenn der deutsche Professor Sellheim die Fa-
milienverhältnisse in Russland folgendermassen
schildert: „Es ist ein vollkommener Rückfall in
die Sexualordnung der grauen Vorzeit, aus der
sich die Ehe und eine brauchbare Sexualord-
nung im Laufe der Jahrtausende entwickelt
hat."
Das Ehe- und Familienleben wird auch durch
Verkündigungen der völligen Freiheit des ge-
schlechtlichen Verkehrs angegriffen. Die be-
kannte Kommunistin Smidowitsch stellte ein
Schema der sexuellen Moral auf,*) nach dem
sich besonders die Jugend beider Geschlechter
betätigt. Das Schema enthält etwa folgendes:
1. Jeder Student der Arbeiterfakultät, wenn
auch minderjährig, ist berechtigt und verpflich-
tet, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
2. Wenn ein Mann ein junges Mädchen be-
gehrt, sei es eine Studentin, eine Arbeiterin oder
sogar ein Mädchen im schulpflichtigen Alter, so
ist dieses Mädchen verpflichtet, sich dieser Be-
gierde zu fügen, da sie sonst als Bürgerstochter
angesehen wird, die nicht als echte Kommunis-
tin gelten kann.
J) Diese Bemerkungen der S. waren in Wirklich-
keit ironisch gemeint und wollten das Sexualleben der
Jugendlichen kritisieren.
166
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürge rl. Familie
Die,, Prawda" schreibt offen : „Zwischen Mann
und Frau gibt es bei uns nur sexuelle Beziehun-
gen, wir erkennen keine Liebe an, die Liebe ist
als etwas Psychologisches zu verachten, bei uns
ist nur die Physiologie existenzberechtigt". In-
folge dieser kommunistischen Einstellung ist je-
de Frau oder jedes Mädchen verpflichtet, den
sexuellen Trieb des Mannes zu befriedigen. Da
das ja nun doch nicht immer ganz freiwillig ge-
schieht, ist die Vergewaltigung von Frauen in
Sowjetrussland geradezu zu einer Plage gewor-
den."
Diese Lügen der Reaktion können nicht da-
durch ausser Funktion gesetzt werden, dass man
sie als Lügen entlarvt, gewiss auch nicht da-
durch, dass man sich ihrer durch Beteuerungen
erwehrt, man sei ebenso „sittlich" wie das Bür-
gertum, der Kommunismus zerstöre die Familie
und die Sitlichkeit nicht etc. Tatsache ist, dass
sich das Geschlechtsleben im Kommunismus ver-
ändert, dass sich die alte Sexualordnung auflöst.
Diese Tatsache darf man nicht ableugnen und
man kann auch die richtige politische Linie
nicht finden, wenn man im eigenen Lager aske-
tische Einstellungen zu diesen Fragen duldet
und sich auswirken lässt. Wir werden später
noch genau darauf einzugehen haben.
Die proletarische Sexualpolitik unterliess es,
die wirkliche Ordnung des Geschlechtslebens im
Sowjet-Staat dauernd zu erklären und zu be-
gründen, die Sexualangst der Frauen vor der
geschlechtlichen Freiheit zu begreifen und zu
bewältigen, vor allem aber in den eigenen Rei-
hen Klarheit zu schaffen durch konsequente und
dauernde Scheidung der bürgerlichen von den
167
D. sexualökonom. Voraussetz. d. bürgerl. Familie
proletarischen Moralauffassungen. Die Praxis
lehrt, dass jeder durchschnittliche Kleinbürger
der proletarischen Ordnung des Geschlechts-
lebens zustimmt, wenn man sie ihm genügend
gründlich erklärt.
Von den familiären Weltanschauungen der po-
litischen Reaktion, die ökonomisch durch die
wirtschaftliche Daseinsweise des Kleinbürger-
tums und ideologisch durch die kirchliche und
sonstige metaphysische Ideologie gehalten wird,
strahlt die antibolschewistische Bewegung aus.
Der Kern der Kulturpolitik der politischen Re-
aktion ist die Sexualfrage. Dementsprechend
muss der Kern der revolutionären Kulturpolitik
ebenfalls die Sexualfrage werden.
168
7
VI. KAPITEL
Die Kirche als internationale sexual-
politische Organisation des Kapitals
1. DAS INTERESSE AN DER KIRCHE
Wollen wir uns über die Aufgaben im sexual-
politischen Kampf jeweils klar werden, so müs-
sen wir genau die Angriffs- und Verteidigungs-
positionen der Bourgeoisie an der kulturpoliti-
schen Front beachten. Wir lehnen es ab, die my-
stischen Redensarten der Reaktion als ein poli-
tisches „Ablenkungsmanöver" abzutun. Wir sag-
ten: Wenn die Bourgeoisie mit einer bestimm-
ten ideellen Propaganda Erfolg hat, so kann es
nicht bloss eine Vernebelung sein, sondern in je-
dem Falle muss ein massenpsychologisches Pro-
blem vorliegen, muss etwas von uns noch Uner-
kanntes in den Massen vorgehen, das sie befä-
higt, entgegen ihren eigenen Interessen zu den-
ken und zu handeln. Die Frage ist entscheidend,
denn ohne dieses Verhalten der Massen wäre die
herrschende Klasse völlig machtlos; nur die Be-
reitschaft der Massen, diese Ideen aufzunehmen,
was wir den „massenpsychologischen Boden" der
Klassenherrschaft nennen könnten, macht die
Stärke der Bourgeoisie aus. Es ist daher drin-
gende Aufgabe, hier volles Verständnis zu er-
zielen.
Mit den Steigerungen des materiellen Drucks
auf die beherrschte Klasse pflegt sich immer
169
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
auch der moralische zu verstärken. Das kann
nur die Funktion haben, einer eventuellen Re-
bellion der Massen gegen den ökonomischen
Druck durch eine Steigerung ihrer ideologi-
schen und moralischen Abhängigkeit von der
herrschenden Ordnung vorzubeugen. Auf wel-
che Weise geschieht das?
Da die religiöse Verseuchung die wichtigste
massenpsychologische Massnahme ist, die den
Grund zur Aufnahme faschistischer Ideologie
in der Krise legt, kann eine Untersuchung der
faschistischen Ideologie auf das Verständnis
der psychologischen Wirkung der Religion nicht
verzichten.
Als im Frühjahr 1932 die Papenregierung nach
dem Sturze Brünings ans Ruder kam, war eine
ihrer ersten Massnahmen die Ankündigung der
Durchführung einer strengeren sittlich-christli-
chen Erziehung der Nation. Die Hitlerregie-
rung setzt heute dieses Programm verschärft
fort.i)
In einem Erlass, der die Erziehung der Ju-
gend betraf, hiess es:
i) Z. B. (Meldung aus Hamburg in August
1933):
„Konzentrationslager für „unmoralische" Wasser-
sportler. Hamburg. Die Hamburger Polizeibehörde hat
ihre Organe angewiesen, ein besonderes Auerenmerk
auf das Verhalten der Wassersportler zu richten, die
in vielen Fällen „die selbstverständlichen Grundsätze
der öffentlichen Moral unbeachtet Hessen". Die Poli-
zeibehörde gibt öffentlich bekannt, dass sie rücksichts-
los einschreiten und Kanoefahrer, die ihren Vorschrif-
ten zuwider handeln, in ein Konzentrationslager brin-
gen werde, damit sie dort Unterricht über Anstand
"nd Sitte erhalten."
170
i
Das Interesse an der Kirche
„Die Jugend wird ihrem schweren Schicksal und den
hohen Anforderungen der Zukunft nur dann gewachsen
sein, wenn sie beherrscht wird vom Volks- und Staats-
gedanken . . . das heisst aber Erziehung zur Verantwor-
tung und Opferfähigkeit gegenüber dem Ganzen.
Weichlichkeit und zu weit getriebene Rücksicht auf je-
de individuelle Neigung sind unangebracht gegenüber
einer Jugend, die vom Leben einmal hart angepackt
wird. Nur dann aber ist die Jugend für ihren Dienst
an Volk und Staat recht vorbereitet, wenn sie gelernt
hat, sachlich zu arbeiten, klar zu denken, ihre Pflicht
zu erfüllen und wenn sie auch daran gewöhnt worden
ist, sich in Zucht und Gehorsam den Ordnungen der
Erziehungsgemeinschaft einzufügen und sich willig ih-
rer Autorität unterzuordnen ... Die Erziehung zu ech-
ter Staatsgesinnung muss ergänzt und vertieft werden
durch eine deutsche Bildung, die sich auf die geschicht-
lich kulturelle Wertgemeinschaft des deutschen Vol-
kes gründet ... durch Versenkung in unser geschicht-
lich gewordenes Volkstum Die Erziehung zur
Staatsgesinnung und zum Volksbürgertum empfängt
ihre stärkste innerliche Kraft aus den Wahrheiten des
Christentums ... Treue und Verantwortung gegenüber
Volk und Vaterland haben ihre tiefste Verankerung im
christlichen Glauben. Deshalb wird es stets meine be-
sondere Pflicht sein, das Recht und die freie Entfal-
tung der christlichen Schule und die christliche Grund-
lage aller Erziehung zu sichern."
Wir müssen nun fragen, worin diese vom
Standpunkt des Kapitals mit Recht gepriesene
Stärke des christlichen Glaubens beruht. Wenn
die politische Reaktion der Ansicht ist, dass die
Erziehung zur „Staatsgesinnung" ihre stärkste
innere Kraft aus den „Wahrheiten des Chri-
stentums" bezieht, so hat sie hundertprozentig
recht. Ehe wir jedoch dies nachweisen, müssen
wir die Differenzen innerhalb des reaktionären
Lagers hinsichtlich der Auffassung des Chri-
stentums kurz zusammenfassen.
Der nationalsozialistische und der wilhelmini-
,
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
sehe Imperialismus unterscheiden sich in ihrer
massenpsychologischen Basis dadurch, dass der
Nationalsozialismus einen proletarisierten oder
in der Proletarisierung begriffenen Mittelstand,
das deutsche Imperium dagegen einen blühen-
den Mittelstand zur Massenbasis hatte. Das
Christentum des wilhelminischen Imperialismus
musste daher ein anderes sein als das Chri-
stentum des Nationalsozialismus; doch rütteln
die Abänderungen der Ideologie an den Grund-
lagen der christlichen Weltanschauung nicht im
mindesten, sie verschärfen vielmehr ihre Funk-
tion.
Der Nationalsozialismus lehnte zunächst, zu-
mindest in Gestalt seines bekannten Vertre-
ters Rosenberg, der dem rechten Flügel ange-
hört, das alte Testament als „jüdisch" ab. Eben-
so gilt der Internationalismus der römischen
Kirche als jüdisch. An die Stelle der interna-
tionalen Kirche soll die „deutsche nationale Kir-
che" treten. Nach der Machtergreifung erfolg-
te tatsächlich die Gleichschaltung der Kirche,
die ihren politischen Machtbereich einengte, ih-
ren ideologisch-moralischen dagegen sehr' er-
weiterte.
„Gewiss wird dereinst auch das deutsche Volk eine
Form finden für seine Gotteserkenntnis, sein Gotter-
leben, wie es sein nordischer Blutsteil verlangt. Ge-
wiss wird erst dann die Dreieinigkeit des Blutes, des
Glaubens und des Staates vollkommen sein. (Gottfried
Feder: Das Programm der NSDAP und seine welt-
anschaulichen Grundlagen, S. 49).
Eine Identifizierung des jüdischen Gottes mit
der heiligen Dreieinigkeit dürfe auf keinen Fall
erfolgen. Eine Verlegenheit ergab dabei nur der
172
i
Das Interesse an der Kirche
Tatbestand, dass Jesus selbst ein Jude war;
Stapel wusste rasch Rat: Da Jesus ein Gottes-
sohn sei, könne er nicht als Jude angesehen wer-
den. An die Stelle der Dogmen als jüdischer
Überlieferung sollte das „Erlebnis des eigenen
Gewissens" treten an die Stelle des Ablasses
der „Gedanke des persönlichen Ehrgefühls."
Der Glaube an eine christliche Begleitung
der Seelen nach dem Sterben wird als „Medizin-
mannentum der Südseevölker" abgelehnt. Eben-
so die jungfräuliche Empfängnis Marias. Dazu
meint Scharnagel:
„Er (Rosenberg) verwechselt das Dogma von der
unbefleckten Empfängnis der allerseligsten Jungfrau,
d. h. ihre Freiheit von der Erbsünde ... mit dem Dog-
ma von der jungfräulichen Geburt Jesu (,der empfan-
gen ist vom heiligen Geist') ..."
Wir werden noch sehr eingehend zu erörtern
haben, warum der Erfolg der Kirche so gross
werden musste, wenn sie sich zentral auf die
Lehre von der Erbsünde als einem Geschlechts-
akt um der Lust willen stützte (und nicht wie
angenommen wird auf eine Erbsünde im Sinne
eines Urvatermordes). Der Nationalsozialismus
behält das Motiv bei, wertet es nur mit Hilfe
einer anderen, seinen Zwecken entsprechenderen
Ideologie aus:
„Das Kruzifix ist das Gleichnis der Lehre vom ge-
opferten Lamm, ein Bild, welches uns den Nieder-
bruch aller Kräfte vors Gemüt führt und durch die
grauenhafte Darstellung des Schmerzes innerlich
gleichfalls niederdrückt, demütig macht, wie es die
herrschsüchtigen Kirchen bezwecken ...... Bitte deut-
sche Kirche wird nach und nach in den ihr überwiese-
nen Kirchen an Stelle der Kreuzigung den lehrenden
Feuergeist, den Helden im höchsten Sinne darstellen.
(Rosenberg: Mythus etc., S. 577).
173
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
Es handelt sich nur um einen Austausch der
Fesseln: An die Stelle des masochistischen, in-
ternationalen Christentums soll das sadistisch-
narzistische des Nationalismus treten. Nunmehr
geht es darum
„...die deutsche Nationalehre als obersten Masstab
des Wandeins anzuerkennen, um für sie zu leben (Hit-
ler: Kampf, S. 512) ... Er (der Staat) wird jeder reli-
giösen Überzeugung ungehindert Raum geben, er wird
bittenlehren verschiedener Form frei predigen lassen
unter der Bedingung, dass sie alle der Behauptung der
Wationalehre nicht hindernd im Wege stehen (Kampf,
o. 566).
Wir haben bereits gehört, dass sich die Ideo- K
logie der Nationalehre aus der familiären und
diese aus der sexualvereinenden Sexualordnung
ableitet. An der Eheinstitution rütteln weder
Christentum noch Nationalsozialismus; für je-
nes ist die Ehe, von der Zeugung abgesehen,
eine „volle, lebenslängliche Lebensgemein-
schaft", für den Nationalsozialisten eine biolo-
gische Rassenschutzinstitution. Ausserhalb der
Ehe gibt es für beide kein Geschlechtsleben.
Der Nationalsozialismus will ferner die Reli-
gion nicht auf historischer, sondern auf „aktuel-
ler" Basis erhalten. Diese Änderung lässt sich
aus dem Zerfall der christlichen Sexualmoral
erklären, dem die Berufung auf historische For-
derungen allein nicht mehr standhält.
„Der völkische Rassestaat muss einst seine tiefste
Verankerung noch in der Religion finden. Erst dann,
wenn der Gottesglaube nicht mehr mit einem bestimm-
ten Ereignis der Vergangenheit, sondern mit dem art-
gemässen Tun und Sein des Volkes und Staates, wie
auch des Einzelnen in immerwährendem Erleben im-
mer wieder aufs innigste verwoben sein wird, steht un-
174
Das Interesse an der Kirche
sere Welt aufs neue fest gegründet da." (Ludwig Haa-
se: Natsoz. Monatshefte, Jg. I., H. 5, S. 213).
Wir vergessen nicht: „Artgemässes Tun und
Sein" bedeutet „sittliches" Sein, d. h. praktische
Sexualverneinung.
Gerade an dem, was die Nationalsozialisten
sich von der Kirche zu unterscheiden bewog und
was sie mit ihr gemeinsam vertreten, lässt sich
das für die reaktionäre Funktion der Religion
Unwesentliche von dem eigentlich Wirksamen
unterscheiden. 1 )
*) Die Nationalsozialisten lehnten zwar das bayrische
Konkordat (15.-7.-1930) und das preussische Konkor-
dat (1.-7.-1929) ab. Es handelte sich bei der Ablehnung
jedoch nur um die Dotation 1931 im Betrag von
4,122,370 RM. Nicht angegriffen wurde die Steigerung
der Seelsorgeeinkommenergänzung in Bayern von 5,87
Mill. RM im Jahre 1914 auf 19,7 Mill. RM im Jahre
1931 (schweres Krisenjahr!). Die folgenden Angaben
über das bayrische Konkordat entnehmen wir einem
Artikel von Robert Boeck „Konkordate sehen dich
an": Laut Konkordat vom 25.-1.-1925 wurde der Kir-
che zugestanden:
1. Die Geistlichen sind Staatsbeamte.
2. Der Staat gibt zu, dass durch die Säkularisation
von 1817 (Enteignung von Kirchengütern) der Kirche
ein schweres Unrecht zugefügt wurde und stellt der
Kirche anheim, die Güter bzw. ihren Geldwert von 60
Millionen Goldmark zurückzufordern.
3. Der Staat muss fast 50 % der Erträgnisse der bay-
rischen Staatsforste aufwenden, um einen Teil der
Abgaben an die Kirche bezahlen zu können, hat also
die Forsteinnahmen gleichsam an die Kirche verpfän-
4. Die Kirche ist berechtigt, auf Grundlage der bür-
gerlichen Steuerlisten, Steuern (Kirchensteuer) für
sich zu erheben.
5. Die Kirche hat das Recht, neues Besitztum zu
175
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
Das Historische, die Dogmen, mancher hef-
tigst verteidigte Glaubenssatz wird, wie es sich
zeigt, bedeutungslos, wenn es gelingt, ihn in
seiner Funktion durch etwas anderes, ebenso
wirksames zu ersetzen. Der Nationalsozialismus
will ebenfalls das „religiöse Erleben", worauf
erwerben und als Eigentum zu haben, das unverletz-
lich ist und vom Staat geschützt wird.
6. Der Staat verpflichtet sich, den hohen kirchlichen
Würdenträgern „eine ihrer Würde und ihrem Stande
entsprechende Wohnung" anzuweisen und zu bezahlen.
7. Die Kirche, ihre Geistlichen und 28000 Mönche
geniessen unbeschränkte Freiheit in der Ausübung ih-
rer religiösen und industriellen (Bücher-, Bier- und
Schnapsfabrikation) Tätigkeiten.
8. An den Universitäten München und Würzburg
müssen je ein Professor der Philosophie und Geschich-
te angestellt werden, die Vertrauensleute der Kirche
sind und nur im kirchlichen Sinne lehren.
9. Der Staat garantiert den Religionsunterricht in
den Volksschulen, und dem Bischof oder seinen Beauf-
tragten steht das Recht zu, Misstände im religiös-öf-
fentlichen Leben der katholischen Schüler und ihre
nachteilige oder ungehörige (!) Beeinflussung bei den
staatlichen Behörden zu beanstanden und Abhilfe zu
verlangen.
Nach vorsichtiger Schätzung wurden der katholi-
schen Kirche in Bayern durch das Konkordat Werte:
d. h. bare Geldzuwendungen, Güterwerte, Grund- und
Gewerbesteuerfreiheit und eigene Einnahmen in der
Höhe von einer Milliarde Mark garantiert.
Der bayrische Staat zahlte an die katholische Kir-
che im Jahre 1916 13 Millionen Mark, 1929 28,468,400
Mark, 1931 26,050,250 Mark.
Der Dienst der Kirche für den Staat muss sich of-
fenbar lohnen. — Der Abschluss des Konkordats zwi-
schen dem deutschen Reich und dem Vatikan im Juli
1933 brachte keine grundsätzlich neuen, für die Mas-
senpsychologie entscheidenden Beziehungen zwischen
Kirche und Staat. Die privatv/irtschaftlichen Grund-
funktionen der Kirche blieben unangetastet.
176
Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus
allein es ihm ankommt; er will es nur anders
basieren. Was ist dieses „immerwährende Er-
leben"?
2. DER KAMPF GEGEN DEN „KULTUR-
BOLSCHEWISMUS"
Das nationalistische und familiäre Empfinden
ist auf das innigste verknüpft mit mehr oder min-
der dumpfen, mehr oder minder varstandesmäs-
sig eingekleideten religiösen Gefühlen. Die Lite-
ratur darüber ist grenzenlos. Eine akademische,
ins Detail gehende Kritik dieses Gebietes
kommt — vorläufig wenigstens — nicht in Frage.
Wir knüpfen an unser Hauptproblem an: Wenn
sich Nationalsozialismus und Kirche auf das my-
stische Denken und Empfinden der Massen
stützen, und zwar erfolgreich, so ist ein Kampf
dagegen nur dann aussichtsreich, wenn man das
Tempo der antireligiösen Propaganda derart zu
beschleunigen und zu intensivieren vermag, dass
diese die mystische Verseuchung der Massen,
um eine gute Parole der Revolution zu ge-
brauchen, „einholt und überholt". Es genügt
nicht, wenn die atheistische Bewegung in den
kapitalistischen Ländern zwar fortschreitet,
aber derart langsam, dass sie immer mehr hinter
der religiösen Verseuchung zurückbleibt. Und
dies ist leider der Fall. Der Grund hiefür kann
nur in einer unvollkommenen theoretischen Er-
fassung der Religion liegen. Die atheistische
Propaganda stützt sich vorwiegend darauf, die
objektive kapitalistische Funktion der Kirche
und die Missetaten der Kirchenfürsten und
-beamten zu enthüllen. Damit ist der Erfolg
12 177
.
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
nur bei einem relativ geringen und bereits von
selbst in die Nähe der revolutionären Front ge-
rückten Teil der Massen gegeben. Die überwie-
gende Mehrheit bleibt unangetastet. Das hat
seinen Grund darin, dass die atheistische Pro-
paganda nur an den Verstand der Massen, nicht
aber an ihr Gefühl appelliert. Wenn aber ir-
gendeiner religiös fühlt, prallt jede noch so
kunstvolle Entlarvung eines Kirchenfürsten an
ihm ab, macht ihm die genaueste Darlegung der
finanziellen Unterstützung der Kirche durch
den Ausbeuterstaat mit den Mitteln der Arbei-
tergroschen ebensowenig Eindruck wie die
Marx-Engelssche historische Analyse der Re-
ligion.
Die atheistische Bewegung versucht zwar
auch affektive Mittel anzuwenden. So standen
etwa die Jugendweihefeste der deutschen prole-
tarischen Freidenker im Dienste dieser Arbeit
Trotz alledem verfügten die christlichen Tu-
gendverbände etwa über 30 mal so viel Jugend-
liche wie die der kommunistischen Partei und
der Sozialdemokratie. Etwa \y 2 Millionen
christlicher Jugendlicher standen in den Tahren
1930—1932 etwa 50,000 kommunistische und
60,000 sozialistische gegenüber. Der National-
sozialismus verfügte seinen Angaben nach 1931
über etwa 40,000 Jugendliche. Detaillierte Zah-
len entnehmen wir der „Proletarischen Freiden-
kerstimme" von April 1932. Danach zählten:
Der kathol. Jungmännerbund Deutsch-
lands 386,879
Der Zentralverband kathol. Jungfrauen-
vereinigungen Deutschlands 800,000
178
Der kampi gegen den Kuitufbolsch
ewismüs
Der Verband kathol. Junggesellenvereine 93,000
Der Verband süddeutscher kath. weibl.
Jugendvereine ' 25 000
Der Verband kathol. Büchervereine
Bayerns 35220
Der Verband kath. Schüler d. höheren
Lehranst. „Neudeutschland'* 15,290
Kath. Jugendbund werktät. Mädchen
Deutschlands 80QQ
Keichsverband deutscher Windhorst-
bül } de 10,000
(Die Zahlen entstammen dem kleinen „Hand-
buch der Jugendverbände" 1931).
Wichtig ist die soziale Zusammensetzung
Beim katholischen Jungmännerverband Deutsch-
lands bestand folgendes Verhältnis:
Arbeiter 45,6%
Handwerker 21,6%
Landjugend 18*7%
Kaufleute 5,9%
Studierende 4,8%
Beamte 3^3%
Das proletarische Element bildet die über-
wiegende Mehrzahl. Die Alterszusammenset-
zung ergab 1929:
14—17 Jahre 51,0%
!7— 21 , 28,3%
21—25 , 13,5%
über 25 „ 7,1%
Also 4/ 5 d er Mitglieder im Alter der Ge-
schlechtsreife bzw. in der Nachpubertät.
Während nun die kommunistische Stellung-
nahme im Kampf um die Gesinnung dieser Ju-
gendlichen die Klassenzugehörigkeit gegen-
l 179
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
f*l de " Weltanschauungsfragen in den Vor-
dergrund rucken wollte, bezo| die katholische
Organisation ihre Stellung gerade in der kultu-
rellen und weltanschaulichen Front Dfc Kom
mumsten schieben: m "
„Die Klassenzugehörigkeit wird -sich k.: • . .
Die Führung der katholischen Jugend dage-
gen (in „Jungarbeiter- Nr. 17, 1931)7 g
tJ&Sü! . Erf ? s ?.Pff der Jungarbeiter und der Arbei
Partei. Wir begrls^s^
der kommunistischen Umsturzpartei schärfsten« g i'
gegentritt. Vor allem aber erwarten wir ** C ?- t_
deutsche Regierung dem Kam de KoIÄ dle
b g e e g n e g K net^ "* ■** S ^ «BWÄ
In den Berliner Prüf stellen zur Bewah
rung r der Jugend vor Schmutz und Schund
fungierten Vertreter aus 8 katholischen Oreani
sationen. In einem Autruf der Zentrumsjulend
vom Jahre 1932 hiess es: J"gena
„Wir verlangen, dass der Staat das christliche K«l
turgut mit allen Mitteln schützt gegen eine volksverl
giftende Schmutzpresse, Schundliteratur, gegen eine
SffiSÄ t? Nationale entwürdigende oder ver!
fälschende Filmproduktion ..."
Die Kirche verteidigt somit ihre kapitalisti-
180
Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus
sehe Funktion an einer anderen Stelle, als die
kommunistische Bewegung angreift.
Notverordnungen und Sparmaßnahme™ ' ' "^ fUf
zu zeigen, hiess es in der früher genannten
„Freidenkerstimme". Warum erwiesen sich, wie
die Erfahrung lehrt, die Massen der christli-
chen Jungarbeiter gegen diesen Angriff resi-
stent? Warum sahen sie nicht selbst die kapita-
listische Funktion der Kirche? Offenbar des-
halb, weil ihnen diese Funktion verhüllt ist, und
weil sie derart strukturiert wurden, dass sie
gläubig und kritikunfähig wurden. Es darf auch
nicht übersehen werden, dass die Kirchenver-
treter in den Organisationen gegen das Kapital
auftreten, sodass ein Gegensatz zwischen Kom-
munisten und Priestern in der Stellungnahme
dem Jugendlichen nicht unmittelbar zugänglich
ist Bloss auf einem Gebiete ist die Grenze
«™£ ^ 20ge " : , a . u/ dem d " Sexualität. Aber
fevoSfti SeS £ Cblet Hegt VÖIlig brach ' was die
revolutionäre Gegenarbeit anlangt.
^s genügt nicht, wenn festgestellt wird, dass
der kapitalistische Staat über Elternhaus, Kir-
cne und Schule zur Bindung der Jugend an sein
öystem und seine Ideenwelt nach Belieben ver-
fugen kann. Wir können im Kapitalismus an
diesen Institutionen nicht rütteln, weil sie mit
allen Machtmitteln des Staates geschützt sind-
ihre Aufhebung setzt die soziale Revolution vor-
aus. Andererseits ist eine Erschütterung ihrer
181
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
reaktionären Wirkungen eine der wesentlich-
sten Voraussetzungen der sozialen Revolution
also der Voraussetzung ihrer Aufhebung. Das
ist die Hauptaufgabe der roten Kulturfront. Um
sie zu erfüllen, ist die Kenntnis der Mittel und
Wege, mit deren Hilfe Elternhaus, Schule und
Kirche derart wirken können, ist die Auffin-
dung des psychologischen Prozesses, der in den
proletarischen Jugendlichen infolge dieser Ein-
wirkung platzgreift, von entscheidender Bedeu-
tung. Weder der allgemeine Begriff der
„Knechtung", noch der der „Verdummung" rei-
chen hier aus. Verdummung und Knechtung
sind ja bereits der Erfolg; es kommt aber auf
die Vorgänge an, die dazu führen, dass das ka-
pitalistische Interesse die gewünschten Erfolge
hat. 6
Welche Rolle dabei die Unterdrückung des
Sexuallebens der Jugend spielt, wurde in der
Schrift „Der sexuelle Kampf der Jugend" zu
zeigen versucht. Im Zusammenhang dieser
Schrift ist zu untersuchen, welches die Kern-
elemente des antibolschewistischen Kultur"
kampfes sind und auf welche gefühlsmässigen
Tatsachen sich die bolschewistische Kulturfront
im Gegensatz dazu zu stützen hat. Auch hier
müssen wir den Grundsatz verfolgen, ganz
nau auf das zu hören, was die Kulturreaktion
in den Vordergrund rückt, denn sie tut es nicht
beiläufig, auch nicht um abzulenken, sondern
weil es sich offenbar um zentrale Kampfgebiete
der marxistischen und der antimarxistischen
Weltanschauung und Politik handelt.
Wir müssen notgedrungen dem Kampf auf
weltanschaulichem und kulturellem Gebiet, des-
182
Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus
sen Zentrum die Sexualfrage ist, ausweichen,
solange wir nicht über die notwendigen Kennt-
nisse, die erforderliche Schulung verfügen,
diesen Kampf siegreich zu führen. Gelingt es
uns aber, einen festen Standort in der Kultur-
front zu gewinnen, so bekommen wir alle Mit-
tel in die Hand, dem wirtschaftspolitischen
Kampf die Wege zu ebnen. Denn es sei noch
einmal gesagt: Die Sexualhemmung versperrt
dem durchschnittlichen Jugendlichen den Weg
zur roten Front. Wir müssen es zuwege brin-
gen, der christlichen Front der moralischen
Bindung ihrer Anhänger mit entsprechenden
Mitteln zu begegnen. Dazu ist die Kenntnis ih-
rer weltanschaulichen Position dringend not-
wendig.
Wir greifen willkürlich eine der typischen
antibolschewistischen Schriften heraus, die vom
nationalsozialistischen Pfarrer Braumann „Der
Bolschewismus als Todfeind und Wegbereiter
der Religion" (1931). Wir könnten uns eben-
sogut an eine beliebige andere Schrift halten.
Die Argumente sind überall in der Hauptsache
die gleichen und auf abweichende Detailauffas-
sungen kommt es hierbei nicht an.
„Jede Religion ist die Befreiung von der Welt und
ihren Mächten durch die Verbindung mit der Gott-
heit. Deshalb wird der Bolschewismus die Menschen
nie ganz in Ketten schlagen können, solange etwas von
Religion in ihnen ist." (Braumann, S. 12).
Hier wird zwar die Funktion der Religion,
von den Nöten des Tages abzulenken, „von der
Welt zu befreien", also eine Auflehnung gegen
die wahren Verursachungen des Elends zu ver-
183
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
hindern, ganz klar ausgesprochen, aber mit
wissenschaftlichen Ergebnissen über die sozio-
logische Funktion der Religion kommen wir
in der propagandistischen Praxis nicht allzu
weit. Für die praktische antireligiöse Arbeit
kommen vor allem die eindrucksvollen Erfahrun-
gen in Frage, die man bei Diskussionen zwi-
schen atheistischen und gottgläubigen Jugend-
lichen macht. Sie weisen uns auch den Weg zum
Verständnis der psychologischen Auswirkung
der objektiven Funktion der Religion, also zu
ihrer subjektiven Seite, zur Ideologie und zum
religiösen Fühlen der Massenindividuen.
Eine kommunistische Jugendgruppe hatte ei-
nen protestantischen Pfarrer zu einer Diskus-
sion über die Wirtschaftskrise eingeladen. Er
erschien, gefolgt und beschützt von etwa 20
christlichen Jugendlichen im Alter zwischen 18
und 25 Jahren. Sein Referat enthielt im we-
sentlichen folgende Stellungnahmen, wobei der
Sprung von zum Teil richtiger Tatsachenfest-
stellung in die Mystik das für uns wichtigste
Ergebnis war. Die Ursachen der Not, so führte
er aus, seien der Krieg und der Youngplan. Der
Weltkrieg wäre ein Ausdruck der Verderbtheit
der Menschen und ihrer Niedertracht, ein Un-
recht und eine Sünde gewesen. Auch die Aus-
beutung durch die Kapitalisten sei eine grosse
Sünde. Wir sehen schon an dieser typischen
Stellungnahme, wie schwer es die antireligiöse
Propaganda hat, den Einfluss eines Pfarrers
ausser Funktion zusetzen, wenn er selbst sich
antikapitalistisch einstellt und derart dem anti-
kapitalistischen Fühlen der christlichen Jugend
entgegenkommt. Kapitalismus und Sozialismus
184
Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus
seien in wesentlichen dasselbe, auch der Sozia-
lismus in der Sowjetunion sei eine Art Kapita-
lismus, der sozialistische Aufbau bringe Nach-
teile für die einen Klassen ebenso wie der Ka-
pitalismus für die anderen.. Man müsse jedem
Kapitalismus „in die Fresse hauen" ; der Kampf
des Bolschewismus gegen die Religion sei ein
Verbrechen, die Religion sei nicht schuld am
Elend, sondern nur die Tatsache, das der Ka-
pitalismus die Religion falsch benütze. (Der
Pfarrer war entschieden fortschrittlich).
Welche Konsequenzen folgen daraus? Da die
Menschen schlecht und sündhaft seien, lasse
sich die Not überhaupt nicht beseitigen, man
müsse sie ertragen, sich dreinfinden. Auch der
Kapitalist fühle sich nicht wohl. Die innere
Not, die die wesentlichste Not sei, werde auch
nach dem dritten Fünfjahresplan der Sowjet-
union nicht verschwinden.
Einige kommunistische Jugendliche versuch-
ten, ihren Standpunkt zu vertreten: Es komme
nicht auf den einzelnen Kapitalisten, sondern
auf das System an. Es komme darauf an, ob die
Mehrheit oder eine früher gutlebende ver-
schwindende Minderheit unterdrückt werde. Die
Auskunft, die Not zu ertragen, bedeute nur eine
Verlängerung des Elends und eine Hilfe für
das Kapital. Und so weiter. Am Schluss einigte
man sich darüber, dass eine Überbrückung der
Gegensätze nicht möglich sei, dass niemand
mit anderer Überzeugung wegginge, als er ge-
kommen war. Die jugendlichen Begleiter des
Pfarrers hingen an den Lippen ihres Führers;
sie schienen ebenso materiell niedergedrückt,
proletarisch zu leben wie die kommunistischen,
185
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis, d.' Kapitals
und doch pflichtete jeder einzelne dem Stand-
punkt bei, dass gegen die Not kein Kraut ge-
wachsen sei, dass man sich damit abfinden und
auf Gott vertrauen müsse.
Nach Schluss der Aussprache fragte ich einige
kommunistische Jugendliche, warum sie denn
nicht auf die Hauptfrage der Kirche, die ju-
gendliche Enthaltsamkeit und den Kulturbol-
schewismus eingegangen wären. Das wäre zu
gefährlich und zu schwer, meinten sie, aber das
würde wie eine Bombe wirken und es sei nicht
üblich, in politischen Diskussionen darüber zu
sprechen.
Einige Zeit vorher fand in einem westlichen
Bezirk Berlins eine Massenversammlung statt, an
der Vertreter der Kirche und solche der kom-
munistischen Partei ihren Standpunkt darleg-
ten. Gut die Hälfte von den 1800 Besuchern wa-
ren Christen und Kleinbürger. Als Hauptrefe-
rent fasste ich die kommunistische Stellung
zum Abtreibungsparagraphen in einigen Fragen
zusammen :
1. Die Kirche behauptet, dass die Anwendung
von Empfängnisverhütungsmitteln gegen die
Natur sei wie jede Behinderung der natürlichen
Fortpflanzung. Wenn die Natur so streng und
weise ist, warum hat sie dann einen Sexualappa-
rat geschaffen, der nicht nur so oft zum Ge-
schlechtsverkehr drängt, wie man Kinder zeu-
gen will, sondern durchschnittlich 2 — 3000 mal
im Leben?
2. Die anwesenden Vertreter der Kirche soll-
ten offen zugeben, ob sie Geschlechtsbefriedi-
gung nur dann herbeiführen, wenn sie Kinder
186
Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus
zeugen wollen. (Es waren protestantische
Priester).
3. Warum hat Gott im Geschlechtsapparat
zweierlei Drüsen geschaffen, eine für die
Sexualerregung und eine für die Fortpflan-
zung?
4. Warum entwickeln schon die Kleinkinder
eine Sexualität, lange bevor die Fortpflan-
zungsfunktion einsetzt?
Die verlegenen Antworten der kirchlichen
Vertreter lösten Stürme von Gelächter aus. Als
ich dann klarzumachen versuchte, welche Rolle
die Verleugnung der Lustfunktion durch die
Kirche und die bürgerliche Wissenschaft im
Rahmen des kapitalistischen Systems spielt,
dass die Unterdrückung der sexuellen Befriedi-
gung eben zur Demut und allgemeinen Ent-
sagung auch auf materiellem Gebiet führen soll,
hatte ich den ganzen Saal auf meiner Seite. Die
Kirchenvertreter waren geschlagen.
Reichliche Erfahrung in Massenversammlungen
lehrt, dass die Gewinnung der ungeschulten Zu-
hörer in dem Masse steigt, in dem man die po-
litisch-reaktionäre Rolle der Religion im Zu-
sammenhang mit der Unterdrückung des sexu-
ellen Lebens behandelt, je eindeutiger und di-
rekter man das Recht auf sexuelle Befriedigung
medizinisch und politisch darlegt. Dieser Tat-
bestand erfordert eine ausführliche Begrün-
dung.
187
:
i
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
3) DER APPELL AN DAS RELIGIÖSE
GEFÜHL
Der Bolschewismus sei, so heisst es in der an-
tibolschewistischen Propaganda, „konsequenter
Hasser jeder Religion", besonders der „inner-
lich wertvollen". Infolge seines Materialismus
kenne der Bolschewismus nur materielle Güter,
er habe daher nur Interesse, materielle Güter zu
erzeugen. Für geistige Werte und seelische Gü-
ter habe er nicht das geringste Verständnis.
Was sind nun diese geistigen Werte und see-
lischen Güter? Treue und Glauben werden oft
genannt, im übrigen verschwimmt aber die
Phraseologie in einem unbestimmten Begriff
der „Individualität".
„Weil der Bolschewismus alles Individuelle ertöten
will, zerstört er die Familie, die dem Menschen im-
mer ein individuelles Gepräge gibt. Deshalb hasst er
alles nationale Streben. Alle Völker sollen möglichst
gleichartig werden und ihm gefügig sein ... Alle Be-
mühungen, das persönliche Eigenleben zu ertöten
würden aber vergeblich sein, solange in dem Menschen
noch etwas von Religion lebt, weil in der Religion
die personliche Freiheit von der äusseren Welt immer
wieder durchbricht."
Der politische Reaktionär setzt also eine in-
nige Verbindung von Familie, Nation und Reli-
gion voraus, den Tatbestand also, der bisher von
der marxistischen Forschung völlig vernachläs-
sigt wurde. Zunächst bestätigt sich in der For-
mulierung, dass die Religion die Freiheit von
der äusseren Welt bedeute, die psychoanalyti-
sche Feststellung, dass die Religion eine phanta-
sierte Ersatzbefriedigung für wirkliche Befrie-
digungen biete; das passt völlig zur Marxschen
188
Der Appell an das religiöse Gefühl
These, dass Religion auf die Massen wie Opium
wirke. Es handelt sich hier um mehr als um ein
blosses Gleichnis. Wir werden nachzuweisen ha-
ben, dass das religiösen Erleben wirklich die
gleichen Prozesse im psychischen Apparat in
Gang setzt wie eine entsprechende Dosis Opi-
um, dass es sich um Vorgänge im Sexualapparat
handelt, die rauschähnliche Zustände bedingen.
Doch zunächst müssen wir uns über die Bezie-
hungen von religiösem und familiärem Empfin-
den genauer unterrichten. Braumann schreibt in
der für die reaktionäre Ideologie typischen
Weise :
„Der Bolschewismus hat aber noch einen andern
Weg zur Vernichtung der Religion, nämlich durch sy-
stematische Zerstörung des Ehe- und Familienlebens.
Er weiss sehr gut, dass gerade aus der Familie die
grossen Kräfte des religiösen Lebens hervorquellen.
Deshalb wird Eheschliessung und Ehescheidung in ei-
nem Masse erleichtert, dass die russische Ehe an freie
Liebe heranreicht."
Im Hinweis auf die kulturzerstörende Wir-
kung der sowjetrussischen Fünftagewoche heisst
es:
„Das dient sowohl zur Zerstörung des Familien-
lebens wie der Religion ... Am bedenklichsten sind
die Verwüstungen, die der Bolschewismus auf sexuel-
lem Gebiete anrichtet. Durch seine Zerstörung des
Ehe- und Familienlebens fördert er zuchtlose Aus-
schweifung jeglicher Art bis zum widernatürlichen
Verkehr von Geschwistern, Eltern und Kindern. (Das
bezieht sich auf die Aufhebung der Bestrafung des
Inzests in der S. U.). Der Bolschewismus kennt über-
haupt keine sittlichen Hemmungen."
In der sowjetistischen Literatur wird oft ver-
sucht, statt solchen Stellungnahmen der politi-
189
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
sehen Reaktion mit genauer Analyse der histori-
schen Prozesse auf dem Gebiete der Sexualkul-
tur zu begegnen, sich dahin zu verteidigen, dass
es gar nicht wahr sei, dass das sexuelle Leben
in der SU unsittlich sei, dass sich die Ehen doch
wieder festigen und ähnliches mehr. Solche Ver-
teidigungsversuche sind nicht nur politisch un-
wirksam, sie entsprechen auch nicht den Tatbe-
ständen. Das sexuelle Leben in der SU ist vom
christlichen Standpunkt in der Tat unsittlich,
und von einer Festigung der Ehen kann nicht
gesprochen werden, weil die Eheinstitution im
Sinne der bürgerlichen und christlichen Auffas-
sung in der Tat aufgelöst ist. In der Sowjetuni-
on herrscht gegenwärtig formal-rechtlich und
praktisch die Paarungsehe. Der Bolschewismus
zerstört also die bürgerliche Ehe und Familie
und er vernichtet die bürgerliche Sittlichkeit.
Es kommt nur darauf an, nicht nur die Notwen-
digkeit dieses Prozesses auf das genauste nach-
zuweisen, sondern insbesondere den Massen der
Bevölkerung ihren Widerspruch zu Bewusst-
sein zu bringen, dass sie nämlich im geheimen
genau das gleiche mit allen Kräften herbeiseh-
nen, was der Bolschewismus in Wirklichkeit
durchsetzt, während sie gleichzeitig der christ-
lichen Ideologie zustimmen. Um aber diese Auf-
gabe zu erfüllen, ist theoretische Klarheit über
die Zusammenhänge zwischen Familie, Religion
und Sexualität notwendig.
Wir haben früher gezeigt, dass das nationali-
stische Empfinden eine direkte Fortsetzung des
familiären ist. Jetzt müssen wir noch nachwei-
sen, dass auch das religiöse Fühlen eine Quelle
nationalistischer Ideologie ist, dass also fami-
190
■
Der Appell an das religiöse Gefühl
liäre und religiöse Einstellungen die massen-
psychologischen Grundelemente des Nationalis-
mus sind. So bestätigt sich massenpsychologisch,
dass die christliche Erziehung die Wegbereite-
rin des Faschismus wird, wenn eine wirtschaftli-
che Erschütterung die Massen in Bewegung
bringt.
Leitet sich das Nationalgefühl aus der Mut-
terbindung (Heimatgefühl) ab, so das religiöse
Empfinden aus der sexuellen Atmosphäre, die
mit dieser familiären Bindung untrennbar ver-
bunden ist. Die familiäre Bindung setzt die
Hemmung der sexuellen Sinnlichkeit voraus.
Dieser sinnlichen Hemmung sind ausnahmslos
sämtliche Kinder der privatwirtschaftlichen Ge-
sellschaft, insbesondere die Mädchen ausgesetzt.
Keine noch so laute und „frei" scheinende se-
xuelle Betätigung kann den Kundigen über diese
tief sitzende Hemmung hinwegtäuschen; mehr,
viele krankhafte Äusserungen im späteren Ge-
schlechtsleben, wie wahllose Partnerwahl, se-
xuelle Unrast, Neigung zu Ausschweifungen etc.
leiten sich gerade aus der Hemmung der sinn-
lichen Erlebnisfähigkeit her. Das selbstver-
ständliche Resultat dieser zu jeder bürgerlichen
Erziehung spezifisch gehörenden Hemmung des
sinnlichen Erlebens („orgastische Impotenz")
durch unbewusste Schuldgefühle und sexuelle
Angst, ist eine unaustilgbare, chronisch und in
den meisten Fällen unbewusst wirkende se-
xuelle Sehnsucht, die regelmässig mit körper-
lichen Spannungsgefühlen in der Herz- und
Zwerchfellgegend, dem Hauptsitz gehemmter
sexueller Erregung, einhergeht. Dass der Volks-
mund das Empfinden der Sehnsucht in der
191
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
Brust lokalisiert, hat seinen berechtigten phy-
siologischen Sinn.
Die ständige Spannung im psychophysischen
Apparat bildet die Grundlage zunächst von
Tagträumerei beim Kleinkind und Puberilen,
die sich besonders leicht in mystisches, senti-
mentales und religiöses Empfinden umsetzen
und fortsetzen kann, weil die Atmosphäre des
bürgerlichen Menschen davon durchtränkt ist.
Beim durchschnittlichen Kinde jeder gesell-
schaftlichen Schichte wird so eine Struktur
hergestellt, die mystische Einflüsse des Natio-
nalismus, der Religion, des Aberglaubens jeder
Art geradezu aufsaugen muss. Das Schauer-
märchen in früher Kindheit, die Detektivro-
mane später, die mysteriöse kirchliche Atmos-
phäre sind nur Stufen zur Entfaltung des
Anklingens der psychischen Apparatur bei mi-
litärischen und vaterländischen Weihen. Es ist
für die Beurteilung der Wirkung des gesell-
schaftlich produzierten Mystizismus und der
Aufnahmefähigkeit der psychischen Apparatur
nicht wesentlich, ob die Persönlichkeit an der
Oberfläche unmystisch, rauh oder sogar brutal
erscheint. Auf die Prozesse in der Tiefe der
Person kommt es an. Die Sentimentalität und
Gottesfürchtigkeit eines Matuschka, Haarmann,
Kürten steht nicht nur in einem Widerspruch,
sondern auch in einer engen Beziehung zu ihrer
tierischen Grausamkeit. Dem Kenner der Tie-
fenstruktur erscheinen diese Gegensätze nur als
zusammengehörige Elemente, die ein und der-
selben Quelle ihren Ursprung verdanken: Der
durch die sexuelle Hemmung erzeugten vegeta-
tiven Sehnsucht, der der naturgemäss vorge-
192
Der Appell an das religiöse Gefühl
zeichnete Weg zur Erfüllung versperrt ist und
die daher so leicht einerseits der muskulären
Entladung fähig wird, andererseits entsprechend
dem gleichzeitig entstehenden Schuldgefühl in
mystisch-religiöses Erleben ausstrahlen kann.
Dass der Kindermörder Kürten sexualgestört
war, wurde zwar durch die Aussagen seiner
Frau klar,ohne aber unsern klinisch-psychiatri-
schen „Sachverständigen" aufzufallen. Die Ge-
paartheit von Brutalität und religiösem Emp-
finden ist durchschnittlich überall dort anzu-
treffen, wo die normale sinnliche Erlebnisfähig-
keit gestört ist. Bei den Inquisitoren des Mittel-
alters, beim grausamen und religiösen Philipp
II. von Spanien nicht minder als bei irgend
einem Massenmörder unserer Zeit. Wo nicht
eine hysterische Erkrankung die unausgegliche-
ne Erregung in ängstlicher Ohnmacht des psy-
chischen Apparats, oder eine Zwangsneurose
die gleiche Erregung in sinnlosen und grotesken
psychischen Symptomen erstickt, bietet die Rea-
lität der patriarchalischen und christlichen Ord-
nung genügend Gelegenheit zu einer Abfuhr,
die wegen der sozialen Rationalisierung solcher
Verhaltungsweisen das pathologische verwischt. 1 )
Es würde sich lohnen auf die Soziologie der
verschiedenen religiösen Sekten in Amerika,
die buddhistische Ideologie in Indien, die ver-
schiedenen theosophischen und anthroposophi-
l ) Morphinisten sind regelmässig in normaler Weise
befriedigungsunfähig; ihre Erregungen versuchen sie
daher künstlich zu bannen, was nie dauernd gelingt.
Gewöhnlich sind sie sadistisch, mystisch, eitel, homo-
sexuell und von verzehrender Angst gequält, die sie
durch brutales Verhalten abzubauen versuchen.
13 193
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
sehen Strömungen sowie die mystischen Kreise
aller Art als gesellschaftlich bedeutsamer Er-
scheinungen patriarchalischer Sexualökonomie
genau einzugehn. Hier genüge die Feststellung,
dass diese gesellschaftlichen Gruppierungen
mystischer Kreise bloss Konzentrationen von
Tatbeständen sind, die wir in mehr diffuser,
weniger greifbarer, aber deshalb nicht weniger
deutlicher Art in allen Schichten der Bevölke-
rung finden. Zwischen dem Grade des mystisch-
sentimental-religiösen Empfindens und dem
Grade der durchschnittlichen Störung des sinn-
lichen Erlebens gibt es eine bestimmte Bezie-
hung. Bei Beobachtung des Verhaltens der
vorwiegend proletarischen und kleinbürgerli-
chen Zuhörer einer kitschigen Operette lernt
man für diese Probleme mehr als in hundert
Handbüchern der Sexualwissenschaft, selbst sol-
chen von Scheinsozialisten. So verschieden die
Inhalte und Richtungen dieses religiös-mysti-
schen Erlebens und so mannigfaltig sie sind, so
allgemeingültig, unvariabel und typisch ist
ihre sexualökonomische Grundlage. Man ver-
gleiche zur Probe der Richtigkeit dieser Fest-
stellung das wirklichkeitsnahe, unsentimentale,
lebenskräftige Erleben der Mitglieder proleta-
rischer Nacktkulturvereine mit dem sentimen-
talen, künstlich-naturschwärmerischen, mysti-
schen der bürgerlichen und man wird leicht
feststellen, dass diese die sexuelle Sinnlichkeit
in Gegensatz zur Nacktheit bringen, jene dage-
gen den wirklichen Sinn der Nacktkultur er-
fassen und oft danach leben, weshalb sie ja
auch von der politischen Reaktion verfolgt wer-
den. Die proletarischen Nacktkulturvereine
194
Das Ziel des KulturbolschewLsmus etc.
begingen nur den schweren Fehler, für die ge-
sunde sexuelle Sinnlichkeit nicht offen und
unumwunden einzutreten und zu kämpfen, son-
dern an dessen Stelle wie Koch 1932 an die
kapitalistischen Richter zu appellieren. Sie ver-
hüllten verschämt den eigentlichen Sinn der
Nacktkultur, die eine Rebellion der unterdrück-
ten sexuellen Bedürfnisse gegen die heutige
Sexualordnung darstellt, und brachen damit dem
Ganzen die Spitze ab, nicht zu reden von der
kleinbürgerlichen Prüderie, die sich darin aus-
druckt.
Wir können hier noch nicht auf den nahelie-
genden Einwand eingehen, dass ja auch der
sexualokonomisch lebende mutterrechtliche Pri-
mitive mystisch fühle. Es bedarf eines sehr aus-
führlichen Nachweises, dass es sich beim mut-
terrechtlichen und beim vaterrechtlichen Men-
schen um Grundverschiedenes handelt. Dieser
Nachweis kann vor allem daran geführt wer-
den, dass sich die Stellung der Religion zur
Sexualität im Patriarchat veränderte, dass sie
nachher ebenso zentral sexualfeindlich ist, wie
sie ursprünglich im wesentlichen eine Religion
der Sexualität war.
4) DAS ZIEL DES KULTURBOLSCHE-
WISMUS IM LICHTE DER REAKTION.
Der Kommunismus konzentriert gegenwärtig
alle seine Kräfte auf die Beseitigung der wirt-
schaftlichen Grundlagen des menschlichen Lei-
dens. Indem er von diesen Leiden ausgeht und
ihren Urgrund, die ökonomischen Widersprüche
195
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
des kapitalistischen Wirtschaftssystems erfasst,
verdunkelt die erstrangige Notwendigkeit der
ökonomischen Umwälzung der gesellschaftlichen
Ordnung seine weiteren Ziele und Absichten
Wahrend der Kommunist oft genötigt ist, die
Lösung oder auch nur die Diskussion an 'sich
sehr dringender Fragen aufzuschieben, bis die
dringendste Aufgabe, die Schaffung der Vor-
aussetzungen für die Lösung dieser Fragen,
erfüllt ist, kämpft der Reaktionär aufs schärfste
gerade gegen die durch die nächstliegenden
vorbereitenden Aufgaben verdunkelten Endziele
des Kommunismus.
„Der Kulturbolschewismus will die Zersetzung un-
serer bisherigen Kultur und ihre Neuformung in dem
Sinne, dass sie rein dem Erdenglück der Menschen
dient ..."
schreibt Kurt Hütten in seiner Kampfschrift
„Kulturbolschewismus" (Verlag des evane
Volksbundes, 1931). Will man nun selbst eine
klare Stellung in der Kulturfrage beziehen so
muss man zuerst entscheiden, ob die politische
Reaktion mit ihren Vorwürfen etwas trifft
was die bolschewistische Kulturrevolution wirk-
lich beabsichtigt, oder ob sie aus demagogischen
Gründen Ziele unterschiebt, die keineswegs im
Zielbereich des Kommunismus liegen. Im ersten
Fall ist eine Verteidigung und scharfe Klärung
der historischen Notwendigkeit dieser Ziele
unerlässlich. Im zweiten Fall genügt der Nach-
weis der politischen Hintergründe der Unter-
schiebung, also eine Ableugnung dessen, was die
Reaktion dem Kommunismus zumutet.
Wie schätzt nun die politische Reaktion selbst
196
Das Ziel des Kulturbolschewismus etc.
den Gegensatz von irdischem Glück und Reli-
gion ein? Kurt Hütten schreibt:
„Zunächst einmal: Der erbittertste Kampf des Kul-
turbolschewismus gilt der Religion. Denn die Reli-
gion, so lange sie lebendig ist, bildet das stärkste
Bollwerk gegen seine Ziele ... Sie stellt das ganze
menschliche Leben unter etwas aussermenschlicb.es
eine ewige Autorität. Sie fordert Entsagung, Opfer,
Zurückstellung eigener Wünsche. Sie umwittert das
menschliche Leben mit Verantwortung, Schuld, Ge-
richt, Ewigkeit ... Sie hemmt ein schrankenloses Sich-
ausleben der menschlichen Triebe." „Kulturrevolu-
tion ist kulturelle Revolution des Menschen, ist die
Unterjochung aller Lebensgebiete unter den Glücks-
gedanken."
Der Reaktionär erkennt nicht die ökonomi-
schen Widersprüche, deren Lösung zu einer
Milderung oder Beseitigung des materiellen
Leidens führt. Er fühlt bloss die Gefahr für die
psychische Verankerung des herrschenden Wirt-
schaftssystems •(= „Kultur") ; diese Gefahr sieht
er aber derzeit besser und tiefer, als der heutige
Revolutionär, weil dieser, wie schon gesagt,
seine Kräfte und Einsichten zuwächst auf die
Änderung der Wirtschaftsordnung konzentriert
hat. Der Reaktionär erkennt die Gefahr, die der
Familie und der bürgerlichen Sittlichkeit von
der Revolution her droht, wo der durchschnitt-
liche Revolutionär noch recht weit von der
Ahnung der Konsequenzen der Revolution für
Familie und Sittlichkeit, ja sehr oft in dieser
Hinsicht brav kleinbürgerlich ist. Der Reak-
tionär vertritt Heroismus, Leidenerdulden, Ent-
behrungertragen absolut, ewig, und er vertritt
solcherweise die Interessen des Kapitals, ob er
will oder nicht. Dazu braucht er aber Religion,
197
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
d. h. im Kern sexuelle Entsagung. Daher be-
deutet Gluck für ihn im wesentlichen sexuelle
Befriedigung und er hat mit diesem Urteil
recht. Auch der Revolutionär fordert viel Ent-
sagung, Pflicht, Verzicht, weil die Glücksmög-
lichkeit erst erkämpft werden muss. In der
praktischen Massenarbeit vergisst er darüber oft
5? i r Und manchmal gern — das eigentliche
-ßiel, das nicht Arbeit ist (der Kommunismus
bringt fortschreitende Herabsetzung der Ar-
beitszeit) sondern das sexuelle Spiel und Leben
in allen seinen Formen vom grob Sinnlichen bis
zu den höchsten Sublimationen der Sexualität;
die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des
Lebens, aber im Kommunismus schrumpft sie
personell und zeitlich zusammen, um maschinell
und räumlich zu wachsen. Das ist das Wesen
der sozialistischen Rationalisierung der Arbeit
im Gegensatz zur kapitalistischen.
Sätze wie die folgenden finden sich in vielen
christlichen und reaktionären Schriften, wenn
auch nicht immer so klar formuliert wie hei
Kurt Hütten:
•
„Der Kulturbolschewismus ist nicht von gestern und
heute. Es liegt ihm ein Streben zugrunde, das von Ur
zeiten an in der menschlichen Brust angelegt ist- Die
Sehnsucht nach Glück. Es ist das urewige Heimweh
nach dem Paradies auf Erden An die Stelle der
Religion des Glaubens tritt die Religion der Lust."
Wir fragen dagegen: warum kein Glück auf
Erden, warum nicht die Lust als Inhalt des
Lebens?
Man versuche eine Massenabstimmung über
diese Frage!
198
Das Ziel des Kulturbolschewismus etc.
Der Reaktionär erkennt (wenn auch ideali-
stisch verzerrt) aber noch weit mehr, auch den
Zusammenhang der religiösen Ideologie mit der
Ehe- und Familieninstitution.
„Um dieser Verantwortlichkeit (für die Folgen des
Genusses) zu genügen, hat die menschliche Gesell-
schaft die Einrichtung der Ehe geschaffen, die als
lebenslängliche Gemeinschaft den schützenden Rahmen
für die Geschlechtsbeziehung darstellen soll."
Und gleich darauf folgt das gesamte Register
an „Kulturwerten*', die im Gefüge der Ideologie
zusammengehören wie die Teile einer Ma-
schine :
„Die Ehe als Bindung, die Familie als Forderung,
das Vaterland als Selbstwert, die Moral als Autori-
tät, die Religion als Verpflichtung aus der Ewigkeit
heraus."
Der Reaktionär christlicher oder faschisti-
scher Prägung verurteilt die bürgerliche Form
der sexuellen Lust (nicht ohne ihr dennoch
selbst zu verfallen), weil sie ihn provoziert und
abstösst zugleich. Er kann in sich selbst den
Widerspruch zwischen sexuellen Anforderun-
gen und moralischen Hemmungen nicht lösen.
Der Revolutionär verneint, sofern er sexualideo-
logisch klar ist, diese bürgerliche Lust, weil sie
nicht seine Lust ist, nicht die Sexualität der
Zukunft, sondern die Lust des Widerspruchs
zwischen Moral und Trieb, die Lust der Aus-
beutergesellschaft, erniedrigte, schmutzige,
kranke Lust. Er begeht nur, wenn er unklar ist,
den Fehler, beim Verdammen der bürgerlichen
Lust stehen zu bleiben, statt ihr seine eigene
199
D. Kirche als intern, sexualpol. Organis. d. Kapitals
er° S i^ e ..? exU f de ° lo g ie entgegenzusetzen. Ist
er sich über das Ziel der Lebensgestaltung im
Kommunismus infolge seiner eigenen bürger-
lichen Hemmungen nicht im klaren, so verleue-
r ; e P r, er /i e T l! berhau P t . wird Asket und ver-
liert dadurch alle Möglichkeiten an der Tu-
gend.i) Der Zerfall der bürgerlichen Lebens-
formen im Sexuellen setzt schon vor der Re-
volution die sexuelle Rebellion frei. Aber sie
bleibt zunächst bürgerliche sexuelle Rebellion
J,° r u. er T, man M her Revol "ti°när und oft mit Recht
tlieht. Es gilt aber, sie revolutionär umzugestal-
ten, zur proletarischen Sexualrevolution weiter-
zufuhren, nicht anders wie sonst aus den Er-
schütterungen des bürgerlichen Lebens die Zu-
kunft des Sozialismus geboren wird.
■?.'
*) In dem sonst vorbildlichen Sowjetfilm „Der We?
ins Leben wird (in der Waldschenkenscene) nicht der
sdfer ^ A- hts ^ orm ,. d " verlotterten bürgerlichen Men-
den A d e Gesc A hle . chtsfo "" des Kommunismus, son-
SexLll Ki Se ' Antisexualität, gegenübergestellt. Das
das is P nnrr m w r i J l gen i wird völli & ausgeschaltet;
a *s ist politisch falsch und verwirrt, statt zu lösen.
200
VII. KAPITEL
Die Voraussetzungen der sexualpoliti-
schen Praxis im antireligiösen Kampf
In einer Massenversammlung in Berlin im Ja-
nuar 1933 stellte der Nationalsozialist Otto
Strasser an seinen Gegner, den Kommunisten
Wittfogel eine Frage, die durch ihre Richtig-
keit verblüffte und dem Zuhörer, der materialis-
tisch überzeugt war, das Empfinden gab, dass
ihre theoretische und praktische Beantwortung
von der kirchlichen Hierarchie als Botschaft
ihres Unterganges empfunden werden musste.
Er warf den Marxisten vor, dass sie die Be-
deutung des Seelischen und des Religiösen un-
terschätzten. Wenn die Religion, so meinte er,
nach Marx nur die Blume an der Kette der
Ausbeutung der arbeitenden Menschheit wäre,
M>,T • n u Ch I. VerStanden werden > mit welchen
Mitteln sich die Religion seit Jahrtausenden,
die christliche im besonderen seit zwei Jahr-
tausenden fast unverändert halten konnte, zu-
mal Sie im Beginne mehr Opfer für ihren
Bestand gefordert hätte, als alle Revolutionen
zusammengenommen. Die Frage blieb unbeant-
wortet, fügt sich aber den Ausführungen dieser
Schrift restlos ein. Man musste sich sagen, dass
die Frage berechtigt war, aber nicht als Ein-
wand gegen die materialistische Geschichts-
auffassung, sondern als eine Mahnung des me-
taphysischen Gegners, sich Rechenschaft dar-
201
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
über zu geben, ob die materialistische Welt-
anschauung die Religion und die Mittel ihrer
Verankerung auch vielseitig und tief genug er-
fasst hatte. Die Antwort musste verneinend
lauten: Die materialistische Lehre hatte es
bisher nicht vermocht, den mächtigen Gefühls-
gehalt der Religion materialistisch zu begreifen
und dementsprechende Praxis zu entwickeln,
obgleich ihr die Vertreter der Kirche die Lösung
der Frage und die praktische Antwort in Schrif-
ten und Predigten fast restlos ausgehändigt
hatten. Der sexualökonomische Charakter der
religiösen Ideologie und Gefühlswelt liegt offen
zutage; er wurde vom Freidenkertum mit fast
der gleichen Gründlichkeit übersehen wie die
offen zutagetretende Sexualität des Kindes von
den berühmtesten Pädagogen. Es ist klar, dass
hier die Religion über ein noch unentdecktes
Bollwerk verfügt, das sie mit allen ihr zu Ge-
bote stehenden Mitteln gegen den Kulturbol-
schewismus verfocht, noch ehe dieser daran
dachte, dass es derartiges gibt.
1. VERANKERUNG DER RELIGION
DURCH SEXUELLE ANGST
Die sexualfeindliche Religion, also die Reli-
gion im strengsten Sinne des Wortes, ist ein
Produkt der patriarchalischen Organisation. Da-
bei ist das Sohn-Vater-Verhältnis, das wir in
jeder patriarchalischen Religion vorfinden und
auf das die bisherige psychoanalytische Reli-
gionsforschung das ausschliessliche Gewicht
gelegt hat, nur notwendiger gesellschaftlich be-
202
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
stimmter Inhalt des religiösen Erlebens; dieses
Erleben selbst geht aber hervor aus der Sexual-
unterdrückung des Patriarchats, die seine ener-
getische Grundlage schafft. Der Dienst, in den
die Religion im Laufe der Zeit sich stellt, die
Beziehung des Gehorsams und der Entsagung
der Autorität gegenüber, ist selbst sekundäre
Funktion der Religion, wenn sie auch später
zur Hauptfunktion im Sinne der Interessen der
herrschenden Klasse wird. Sie kann sich als
historisch jüngere, sekundär bestimmten Zwek-
ken dienende Funktion auf eine unerschütter-
liche Basis stützen: auf die durch die Sexual-
unterdrückung im Sinne des religiösen statt des
sexuellen Erlebens veränderte Struktur des pa-
triarchalischen Menschen. Mit Rücksicht auf
diese lebendige Quelle der religiösen Einstel-
lung ist leicht verständlich, dass zur inhaltli-
chen Achse jeder religiösen Dogmengebung die
Verneinung der Fleischeslust wird, was an den
zwei Religionen des Christentums und des
Buddhismus besonders klar zum Ausdruck
kommt.
a . VERANKERUNG IN DER KINDHEIT
„Lieber Gott, nun schlaf ich ein,
Schicke mir ein Engelein.
Vater, lass die Augen Dein,
Über meinem Bette sein.
Hab ich Unrecht heut getan.
Sieh es, lieber Goot. nicht an.
Vater, hab* mit mir Geduld
Und vergib mir meine Schuld.
Alle Menschen gross und klein
Mögen Dir befohlen sein."
So lautet eines der vielen typischen Gebete,
die die Kinder vor dem Einschlafen aufzusagen
203
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
haben. Achtlos geht man an den Inhalten solcher
Sprüche vorbei. Dennoch enthält er alles in
konzentrierter Form, was Inhalt und Gefühls-
gehalt der Religion ausmacht: in der ersten
Strophe Bitte um Schutz, in der zweiten Wie-
derholung dieser Bitte direkt an den Vater; in
der dritten Bitte um Verzeihung für eine be-
gangene Schuld; Gott- Vater möchte es nicht
ansehen; worauf bezieht sich das Schuldgefühl?
Worauf die Bitte, Vater möge es nicht ansehen?
Im weiten Kreise der verbotenen Taten steht
die Schuld des Spiels mit den Geschlechtsorga-
nen zentral.
Das Verbot der Berührung der Geschlechts-
organe wäre unwirksam, wenn es nicht durch
die Vorstellung gestützt würde, dass Gott alles
sieht und dass man dabei auch „brav" sein
müsse, wenn die Eltern sich entfernen. Wer
diesen Zusammenhang,obwohl er ihn an den
eigenen Kindern oft geübt hat, als psychoanaly-
tische Phantasie abtun will, wird vielleicht
durch folgende eindrucksvolle Begebenheit
überzeugt werden, dass die Verankerung der
Gottvorstellung mithilfe sexueller Antrst *>r
folgt. ß er '
Ein Mädchen von etwa sieben Jahren, das be-
wusst völlig gottlos erzogen wurde, entwickelte
eines Tages einen Zwang zu beten ; Zwang des-
halb, weil sie sich selbst dagegen sträubte und
es als ihrem Wissen widersprechend ampfand.
Die Entstehungsgeschichte des Betenmüssens
ist folgende : Das Kind pflegte täglich vor dem
Schlafengehen zu onanieren. Eines Tages hatte
sie ungewohnterweise Angst davor ; statt dessen
empfand sie den Impuls, vor dem Einschlafen
204
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
vor ihrem Bettchen niederzuknien und ein dem
obigen ähnliches Gebet herzusagen. „Wenn ich
bete, so bekomme ich keine Angst". Die Angst
war an dem Tage aufgetreten, an dem sie sich
die Onanie zum ersten Male versagt hatte. Wa-
rum diese Selbstver sagung? Sie erzählte ihrem
Vater, der ihr volles Vertrauen besass, dass sie
einige Monate früher in einem Ferienheim ein bö-
ses Erlebnis gehabt hatte. Sie hatte wie die mei-
sten Kinder in einem Busch mit einem Jungen
Geschlechtsverkehr gespielt („Vater und Mutter
gespielt"), nun sei ein anderer Junge plötzlich
dazugekommen und hätte ihnen „pfui" zugeru-
fen. Obwohl sie von den Eltern dahin unterrich-
tet war, dass solche Spiele nichts böses seien,
schämte sie sich und onanierte statt dessen vor
dem Schlafengehen. Eines Abends, es war kurz
vor dem Auftreten des Betzwanges, war sie mit
einigen anderen Kindern aus einem politischen
Gruppenabend nach Hause gegangen. Auf dem
Wege sangen sie kommunistische Lieder. Da
begegnete ihnen eine alte Frau, die sie später
der Hexe aus Hansel und Gretel ähnlich emp-
fand. Diese rief ihnen zu: „Ihr gottlose Bande,
der Teufel soll Euch holen!" An dem Abend
dachte sie, als sie wieder onanieren wollte, zum
ersten Male, es könnte vielleicht doch einen
Gott geben, der das sieht und bestraft. Sie hatte
die Drohung der alten Frau unbewusst mit dem
Erlebnis mit dem Jungen verknüpft. Nun be-
gann sie auch gegen die Onanie anzukämpfen,
entwickelte Angst und zur Bändigung der
Angst den Betzwang. Das Beten war an die
Stelle der sexuellen Befriedigung getreten. Trotz-
dem wich die Angst nicht vollkommen, sie be-
205
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
gann allmählich nächtliche Schreckvorstellungen
zu entwickeln Sie fürchtete sich nunmehr vor
einem überirdischen Wesen, das sie für ihre
2*2 X SChUW StrafCn k ° nnte ' sie «P**M
sich daher seiner Obhut, was im Grunde eine
Stutzung ihres Abwehrkampfes gegen die Ver-
suchung zu onanieren bedeutete
Dieser Prozess ist nicht etwa als individuelle
Erscheinung zu bewerten, sondern ist der typi-
sche Vorgang der Verankerung der Gottesvor-
stellung in der überwiegenden Mehrheit der
Kinder der christlichen Kulturkreise. Der glei-
chen Funktion dienen, wie die analytische Mär-
chenforschung ergeben hat, die Märchen vom
lypus „Hansel und Gretel", in denen die Ona-
niebestrafung in verhüllter, jedoch dem Unbe-
wussten des Kindes eindeutiger Weise ange-
droht wird. Auf die Einzelheiten der Entste-
hung des mystischen Denkens der Kinder aus
solchen Märchenerzählungen und seine Bezie
nung zur Sexualhemmung kann hier nicht einge
gangen werden. Die Psychoanalyse lässt in
keinem behandelten oder untersuchten Falle
einen Zweifel darüber, dass sich das religiöse
Empfinden an der Onanieangst als zentralem
Punkt des allgemeinen Schuldgefühls entwik-
kelt. Es ist umso unverständlicher, wie dieser
Tatbestand von der bisherigen analytischen
Forschung übersehen werden konnte. In der
Gottvorstellung erscheint das eigene Gewissen
die verinnerlichte Mahnung oder Drohung der
Altern und Erzieher objektiviert. Das ist be-
kanntes Gut der wissenschaftlichen Forschung-
weniger klar ist, dass der Glaube und die Got-
tesangst energetisch sexuelle Erregung sind, die
206
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
ihr Ziel und ihren Inhalt gewechselt haben. Das
religiöse Empfinden wäre demnach dasselbe wie
das sexuelle, nur mit anderen psychischen In-
halten: Von hier ergibt sich ein gerader Weg
zum Verständnis der Wiederkehr des sexuellen
Erlebens in mancher asketischen Übung, wie
etwa in dem Wahn mancher Nonnen, die Braut
Christi zu sein, der wahrscheinlich selten zur
genitalen Bewusstheit sich entwickelt und daher
andere sexuelle Bahnen, etwa masochistisches
Martyrium beschreiten muss. Die Zurückfüh-
rung solcher religiöser Einstellungen auf die
Elternbeziehung gibt nur den typischen Inhalt
wieder, erklärt jedoch nicht das Erleben selbst.
Kehren wir zu unserem Kinde zurück. Das
Betenmüssen schwand wieder, als das Mädchen
sich über den Ursprung ihrer Angst ins klare
kam und machte wieder schuldgefühlsfreier
Onanie Platz. So unscheinbar dieser Tatbestand
scheinen mag, die Konsequenzen daraus für die
Sexualpolitik gegenüber der religiösen Verseu-
chung unserer Jugend sind gross. Einige Mo-
nate nach dem Schwinden des Betzwanges
schrieb die Kleine aus einer Ferienkolonie an
ihren Vater:
„Lieber Karli, hier ist ein Kornfeld und am Rand
davon haben wir unser Spital (natürlich nur in Spiel).
Da spielen wir immer Doktor (wir sind fünf Mädels).
Wenn einem von uns etwas am Lulu wehtut, so geht
er dorthin, denn dort haben wir Salben und Creme,
Watte. Das alles haben wir uns stiebitzt."
Das ist sexueller Kulturbolschewismus, un-
zweifelhaft. Und die Kultur? Das Mädchen
lernt in gleichem Schritt in einer Klasse mit
durchschnittlich 1 — 2 Jahre älteren Kindern
207
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
;
t
t
■
i
und die Lehrer bestätigen ihren Fleiss und ihre
Begabung. Politisch und im allgemeinen Wissen
sowie in regem Interesse für die Wirklichkeit f
überragt sie ihre Altersgenossen weit. S
b. VERANKERUNG DER RELIGION IM
JUGENDALTER
Wir haben an dem Beispiel des kleinen Mäd-
chens zu zeigen versucht, wie sich typischer-
weise schon im Kleinkinde die religiöse Angst
verankert. Wir konnten daran sehen, dass die
Sexualangst die zentrale Vermittlerrolle bei der
Verankerung der privatwirtschaftlichen Gesell-
schaftsordnung in der Struktur der Kinder die-
ser Gesellschaft spielt. Nun müssen wir diese
Funktion der Sexualangst eine Strecke weit in
die Zeit der Pubertät verfolgen. Nehmen wir
eine der typischen christlichen Flugschriften
vor und versuchen wir, uns daran zu orientie-
ren:
LANDEN ODER STRANDEN?
Nietzsche: Schlamm ruht auf dem Grunde ihrer Seele
»v.*. * r n ? J- ehe ,V wenn der Schlamm Geist hat
Kirkegaard: Ist die Vernunft allein getauft bleiben
die Leidenschaften Heiden ' be °
Zwei Felsen sind in das Leben eines jeden Mannes
gestellt, an denen er landet oder strandet, an denen
er sich aufrichtet oder zerschellt: Gott und — das
andere Geschlecht. Unzählige junge Männer stranden
oder scheitern im Leben, nicht, weil sie zu wenig ge-
lernt haben, sondern weil sie nicht zur Klarheit kom-
men über Gott und — weil sie nicht fertig werden
mit dem Trieb, der den Menschen unnennbares Glück
aber auch abgrundtiefes Elend bringen kann- dem
Geschlechtstrieb.
<*riS S * gibt so viele ' die kommen nie zum Vollmen-
stenen 11 "* 7*l 1 * 1 * T. er der Herrschaf t des Trieblebens
cnen. An sich sind ja starke Triebe noch kein Grund
208
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
EfcZSfi Sie be ^ eUten im G ^enteil Reichtum und
SÄ^22S? W ?¥ SlC ermö g Ji chen grosse, starke Liebe
Ser We°ckrnf Arbeit -- ^ L t istun g sf ähigkeit. Sie sind
der tÄk • 5 U emer TT Starken Persönlichkeit. Aber
zur SÄ d ZU ? Un o r l Cht ^«^ sich ^Ibst und
ihn Ä *£**? d | n u Scl } ö P f er, wenn der Mensch
LrS,f ■ i™ e ? r m , Zu - Cht behält ' sondern die Herr-
h,rr,rh, Verll f rt / nd , Sein ^ Sklave wird ' Im Menschen
herrscht entweder das Geistige oder das Triebhafte,
d. i. das Tierische. Beides verträgt sich nicht mi-
teinander. Riesengrass tritt daher vor jeden denken-
den Mann einmal die Frage: Willst du den eigentli-
chen Sinn deines Lebens erkennen, nämlich zu leuch-
ten, oder willst du in der Weissglut deiner unbe-
herrschten Triebe verbrennen?
Willst du als Tier oder als Geistesmensch dein Le-
ben verbringen?
Der Prozess des Mannwerdens, um den es sich hier
handelt, ist das Problem des Herdfeuers. Beherrscht
und gebändigt, erleuchtet und wärmt die Kraft des
Feuers den Raum, aber wehe, wenn das Feuer aus dem
Herd herausschlägt! Wehe, wenn der sexuelle Trieb
den ganzen Mann so beherrscht, dass der Trieb zum
Herrn alles Denkens, Tuns und Treibens wird!
Unsere Zeit ist krank. In früheren Zeiten verlangte
man, dass der Eros in Zucht und Verantwortung ge-
halten wurde Heute meint man, dass der moderne
Mensch der Zucht nicht mehr dedürfe. Man übersieht
aoer dabei dass der heutige Grosstadtmensch viel
7n7£ S tV nd Wlll ensschwächer ist und daher mehr
Zucht haben muss.
Und nun blick' einmal um dich: Nicht der Geist
nerrscht in unserem Vaterlande, die Oberhand haben
die ungezügelten Triebe und in unserer Jungmänner-
welt vor allem der zuchtlose Geschlechtstrieb, der in
Unsittlichkeit ausartet. In Fabrik und Kontor, auf der
Buhne und im öffentlichen Leben regiert der Geist
der Halbwelt, herrscht vielfach die Zote. Und wieviel
frohe Jugendlust geht zugrunde in den Pesthöllen der
Grosstadt, den Tingeltangels und Nachtcafes, den
Spiellokalen und den schlechten Kinos! Der heutige
junge Mann hält sich für besonders klug, wenn er der
Theorie des Auslebens huldigt. In Wahrheit trifft auf
14
209
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
ihn das Wort Goethes zu, das er im „Faust" den
Mephisto sprechen lässt:
„Er nennt's Vernunft und braucht's allein,
Um tierischer als jedes Tier zu sein." —
Zwei Dinge sind es, die den Prozess des Mannwer-
dens sehr erschweren: Die Weltstadt mit ihren abnor-
men Verhältnissen und der Dämon in uns. Der junge
Mann, der zum erstenmal, vielleicht aus wohlbehüte-
tem Elternhause allein nach der Weltstadt kommt,
sieht sich umgeben von einer Fülle neuer Eindrücke.
Standiger Lärm, aufregende Bilder, schwüle Lektüre,
oft wenig Möglichkeit zur Bewegung in guter Luft,
Alkohol, Kino, Theater und überall, wo er hinsieht, auf-
reizende Kleidermoden auf sexuelle Wirkung berech-
net — wer kann einem solch konzentrierten Angriff
standhalten? Und auf die Versuchung von aussen ant-
wortet der Dämon von innen nur zu gern mit einem
Ja. Denn Nietzsche hat recht, „es ruht Schlamm auf
dem Grunde der Seele", bei allen Menschen, „bellen
die wilden Hunde im Keller" und warten darauf, frei-
gelassen zu werden.
Viele geraten unter die Diktatur der Unsittlichkeit,
weil sie nicht zur rechten Zeit über die Gefahren auf-
geklärt wurden. Solche werden dankbar sein für ein
offenes Wort der Warnung und des Rates, das ihnen
ein Entrinnen oder eine Umkehr ermöglicht.
Die Unsittlichkeit tritt an die meisten zuerst in der
Form der Selbstbefleckung heran. Es ist wissenschaft-
lich festgestellt, dass oft in erschreckend frühem Al-
ter damit begonnen wird. Die Folgen dieser schlim-
men Gewohnheit sind zwar oft übertrieben worden.
Doch muss das Urteil bedeutender Ärzte jeden ernst
stimmen. Professor, Dr. Härtung, viele Jahre Primar-
arzt der dermatologischen Abteilung des Allerheili-
gen-Hospitals in Breslau, äussert sich dazu wie folgt:
„Es ist kein Zweifel, dass ein stärkeres Nachgeben ge-
genüber dem Hange zur Selbstbefleckung den Körper
in schwerster Weise schädigt, und dass sich gerade
im späteren Leben aus dem Betrieb dieses Lasters
Störungen in Form von allgemeiner Nervosität, gei-
stiger Arbeitsunfähigkeit und körperlicher Erschlaf-
fung herausbilden."
Besonders betont er noch, dass der Mensch, welcher
210
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
Selbstbefleckung treibt, in dem Bewusstsein etwas
Unreines zu tun, auch seine Selbstachtung und seine
ZTÄr »"? verhert ; Das ständige Bewusstsein einer
Sri uSSV Un i - VOr anderen zu y erbergenden
Heimlichkeit erniedrigt ihn sittlich vor sich selbst. Er
?«♦*/"£ diejenigen jungen Leute, die diesem
Laster frohnen, schlaff und weichlich werden, die Ar-
SSÄV^ffi und dass allerlei nervöse r««u-
stande ihr Gedächtnis und ihre Leistungsfähigkeit
schwachen Andere bedeutende Ärzte, die darüber ge-
schrieben haben, stimmen dem Gesagten bei
Die Selbstbefleckung verschlechtert aber nicht nur
das Blut, sie beseitigt seelische Kräfte und Hemmun-
gen, die tur das Mannwerden notwendig sind sie
nimmt der Seele die Geschlossenheit, sie wirkt, wenn
sie zur dauernden Gewohnheit wird, wie ein fressen-
der Wurm.
Viel schlimmer sind aber die Folgen der Unsittlich-
keit mit dem anderen Geschlecht. Es ist doch nicht
von ungefähr, dass die furchtbarste Geissei der
Menschheit — die Geschlechtskrankheiten — eine
frolge dieser Übertretung ist. Erstaunlich ist nur, wie
unglaublich töricht auch sonst klug sein wollende Leu-
te auf diesem Gebiet sind.
Universitätsprofessor Dr. Paul Lazarus, Berlin
zeichnet ein erschütterndes Bild von der tiefen seeli-
S5S, ü" d n kÖr Ef rli , ch ? n Erkr *nkung unseres Volkes
durch die Geschlechtskrankheiten.
ten^rähW /S v U ,! S , al8 r einer der erfolgreichsten To-
tengräber der Volkskraft bezeichnet werden.
i„« tut- 6r Tr 'PP er > den törichterweise viele
!S2£ r t nn S5 , sehr leicht nehmen, ist eine ernste und
gefährliche Erkrankung. Und schon die Tatsache, dass
es der ärztlichen Wissenschaft nicht möglich ist, sie
mit Sicherheit zu heilen, sollte alle Leichtfertigkeit
bannen.
Professor Dr. Binswanger sagt über die Geschlechts-
krankheiten: „Es ist bemerkenswert, dass scheinbar
ganz leichte Fälle von Ansteckungen zu solchen
schweren Leiden führen, dass oft viele Jahre zwischen
der ursprünglichen Ansteckung und dem Ausbruche
eines unheilbaren Nervenleidens liegen und dass von
der heute so überaus häufigen Krankheit, welche im
211
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
Laienmund als Gehirnerweichung bezeichnet wird,
sicherlich über 60 % auf eine früher stattgehabte
geschlechtliche Ansteckung zurückzuführen sind."
Ist es nicht ein bis ins Innerste erschütternder Ge-
danke, dass durch eine solche Jugendsünde die, welche
uns einmal am nächsten stehen — Weib und Kind — ,
in jammervolles Siechtum hineinkommen können?
Aber ich muss noch eine Verirrung erwähnen, die
heute viel starker auftritt, als mancher meint: die
Homosexualität. Vorweg sei gleich gesagt: wir wollen
stets herzliches Mitgefühl und Verständnis allen ent-
gegenbringen, die auf diesem Gebiet durch Veranlagung
oder Vererbung einen stillen, oft verzweifelten Kampf
um ihre Reinheit führen. Heil allen, die hier Siege
erringen, weil sie den Kampf mit Gott führen! Aber
wie Jesus den einzelnen Sünder liebte und jedem half,
der sich helfen lassen wollte, der Sünde selbst aber
mit heiligem Ernst entgegentrat, so müssen auch wir
den volks- und jugendverderbenden Erscheinungen der
Homosexualität entgegentreten. Es gab ja schon ein-
mal eine Zeit, in der die Welt zu ertrinken drohte in
der Flut der Perversität. Nur das Evangelium war
damals imstande, die in der Fäulnis dieser widerlichen
Unzuchtssünden versinkende Kultur zu überwinden
und ein Neues heraufzuführen. Von den Sklaven und
Opfern dieser Sünden schrieb Paulus an die Römer*
„Die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch
. . . und sind gegeneinander entbrannt in ihrer Begier
de und haben Mann mit Mann Schande betrieben -I
Darum hat sie auch Gott dahingegeben" (Rom 1) n*
Homosexualität ist das Kainszeichen einer ' bis ins
Mark kranken, gott- und seelenlosen Kultur Sie ist
eine Folge der herrschenden Welt- und Lebensan
schauung, deren höchstes Ziel Genussucht ist Mit
Recht sagt Professor Foerster in seiner Sexualethik-
„Wo der geistige Heroismus lächerlich gemacht und
das natürliche Ausleben verherrlicht wird, dort be-
kommt auch alles Perverse, Dämonische und Gemeine
den Mut, ans Licht zu kommen, ja, es verhöhnt das
Gesunde als eine Erkrankung und macht sich selbst
zum Masstab des Lebens."
Es kommen heute Dinge aus der Tiefe, die der
Mensch in seiner geheimsten Verkommenheit sich
212
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
nicht zu gestehen wagt. Es werden noch ganz andere
Dinge zum Vorschein kommen, und dann wird man be-
FvinJlr nur T ein e grosse geistige Macht — das
Evangelium von Jesus Christus - hier allein helfen
Manche werden aber Einwendungen gegen das Ge-
SftÄft?" MHande . lt CS Sich hi * r nicht '" «0 sagst
du vielleicht um einen Naturtrieb, der befriedigt
werden muss?" - Bei entfesselter Leidenschaft han!
delt es sich nicht um etwas Natürliches, sondern um
etwas höchst Unnatürliches. In fast allen Fällen ht
erst durch eigene oder durch die Schuld anderer die
böse Luft vorbereitet, entbrannt und grossgezogen
worden. Sieh einen Trinker oder einen Morphium-
a U ii i! g f n F L J st sein foi "twährendes Verlangen nach
Alkohol oder Morphium etwa natürlich? Dies Verlan-
gen ist nur durch häufige Hingabe an das Laster
künstlich grossgezogen worden. Der Trieb, der von
Gott in uns gelegt ist für die Ehe zur Erhaltung des
Menschengeschlechts, ist an und für sich gut und nicht
allzuschwer zu zügeln. Tausende von Männern be-
herrschen ihn in rechter Weise mit Erfolg.
„Aber ist es denn nicht schädlich für den reifen
Mann^ wenn er sich dieser Dinge enthält?" Professor
Dr. Härtung, den wir wieder anführen möchten, sagt
darauf wörtlich: „Ich antworte Ihnen klipp und klar:
Nein, dem ist nicht so. Der Mann, der Ihnen jemals
f,l S f g J ..\ i ass bei gesunden Männern aus Keuschheit
Jltzl rUCk H ltung im ™*eren Sinne eine Schädigung
entstehen konnte, hat Sie auf schlimmste Irrwege
mngewiesen, und wenn er wirklich durchdacht hat,
was er Ihnen gesagt hat, so ist er ein unwissender
oder schlechter Mensch gewesen"
Dringend ist zu warnen vor dem Gebrauch von
Praventivmitteln. Der einzig wirkliche Schutz ist
Enthaltsamkeit bis zur Ehe.
Ich habe versucht, dir die Folgen der Unsittlichkeit
offen und wahrheitsgemäss vor Augen zu führen.
Daraus siehst du das Verderben für Leib und Geist
dessen, der sich mit dieser Sünde abgibt. Dazu kommt
jedoch noch das Unheil, das aus diesem Laster für
die Seele entsteht. Ich bezeuge dir mit heiligem
Ernst: Die Unzucht ist ein Verbrechen gegen Gott.
213
r
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
Sie raubt unbedingt den Frieden des Herzens und lässt
keinen zur rechten Freude und Ruhe kommen. Gottes
Wort sagt: „Wer auf sein Fleisch säet, der wird vom
Fleisch das Verderben ernten" fGal. 6, 8).
Der Geist der Halbwelt zieht dort mit unabwend-
barer Notwendigkeit ein, wo der Zusammenhang mit
der Überwelt verlorengeht.
Für alle aber, welche nicht Opfer der Unsittlichkeit
sein oder bleiben wollen, füge ich noch einige Worte
des Rates und der Aufmunterung hinzu. Es muss zu
einem völligen Bruch mit der Sünde der Unsittlich-
keit in Gedanken, Worten und Taten kommen. Das ist
das erste, was diejenigen beachten müssen, die nicht
ihre Sklaven werden wollen. Selbstverständlich dürfen
die Stätten der Verführung und Sünde nicht mehr auf-
gesucht, ja. es muss, soweit dies möglich ist, alles
gemieden werden, was der Verführung irgendwie Vor-
schub leisten könnte. So ist der Umgang und Verkehr
mit unsittlichen Kameraden usw. unbedingt zu meiden;
ebenso das Lesen schlüpfriger Bücher und Ansehen
gemeiner Bilder und der Besuch zweideutiger Vor-
stellungen. Dafür musst du dir guten Umgang suchen,
durch den du gehalten und gehoben wirst. Empfehlens-
wert ist alles, was den Körper abhärtet und den
Kampf gegen die Unsittlichkeit erleichtert, wie Tur-
nen, Sport, Schwimmen, Fusswanderungen, Aufstehen
sofort nach dem Erwachen. Massigkeit im Genuss von
Speisen und vor allem von Getränken. Alkohol ist zu
meiden. Das alles genügt aber noch nicht; denn viele
müssen immer wieder, auch wenn sie diese Ratschläge
befolgen, die schmerzliche Erfahrung machen, dass
der entfesselte Trieb viel zu stark ist.
Wo finden wir die Festigkeit, die zum Widerstand
notwendig ist. wo die Kraft zum Sieg, den wir brau-
chen, wenn wir nicht unser Bestes, unsere Persönlich-
keit verlieren sollen? Wenn die Versuchung in glühen-
dem Reiz an uns herantritt, wenn das lodernde Feuer
der Sinnenlust jäh aufschlägt, zeigt es sich, dass blos-
se Aufklärung allein nicht hilft. Kraft, lebendige
Kraft haben wir nötig, um unsere Triebe zu meistern
und die unreinen Mächte in uns und ausser uns zu
überwinden. Nur einer gibt uns diese Kraft: Jesus.
Er hat uns durch seinen blutigen Opfertod nicht nur
214
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
Vergebung erwirkt, so dass wir Frieden finden kön-
nen unter den Anklagen unseres Gewissens, er ist uns
auch selbst durch seinen Geist die lebendige Kraft
eines neuen, reinen Lebens. Durch ihn kann auch ein
im Sündendienst gelähmter Wille wieder fest werden
und zur Freiheit und zum Leben erstehen und sich in
den schweren Kämpfen mit der Sünde siegreich be-
währen.
Wer zur wirklichen Freiheit gelangen will, der
komme zum lebendigen Heiland, der der Sünde die
Macht genommen und für jeden reichlich Kraft und
Hilfe hat. Das ist keine christliche Theorie, sondern
eine Tatsache, die viele stark angefochtene junge
Männer ausprobiert haben und täglich erfahren. Wenn
irgend möglich, vertraue dich auch einem ernsten
Christen und wahren Freunde an, der dir raten und
mit dir kämpfen kann. Denn einen Kampf wird es ge-
ben, aber einen Kampf mit Aussicht auf Sieg.
Und nun lass mich zum Schluss an dich selbst die
persönliche Frage richten: Wie steht es um dich, mein
Freund, und was willst du mit dieser Warnung ma-
chen?
Willst du, um leichtfertigen und gewissenlosen
Menschen zu gefallen, dich zugrunde richten lassen,
oder dich reinen, edlen Männern anschliessen, deren
Umgang dein Inneres erhebt und deinen Willen zum
Kampf gegen alles Unreine stählt? Willst du ein
Mensch sein, der durch seine Worte, sein Beispiel
und Wesen ein Fluch ist für sich und andere, oder
möchtest du immer mehr ein Mann werden, der ein
Segen ist für seine Mitmenschen?
Willst du um einiger Augenblicke flüchtiger Lust
willen an Leib, Charakter und Seele — zeitlich und
ewig — zugrunde gehen, oder dich retten lassen, so-
lange es noch Zeit ist?
Bitte, sei aufrichtig in der Beantwortung dieser
Fragen und habe den Mut, zu tun, was Gott deinem
Gewissen klargemacht hat!
Wähle ehrlich! Halbwelt oder Überwelt? Tier oder
Geistesmensch?
Stranden oder Landen?
In dieser Flugschrift wird der Jugendliche
vor die Alternative gestellt: Gott oder die Se-
215
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
xualität. Das „Vollmenschentum" erschöpft sich
zwar nicht in der Asexualität, aber diese ist sei-
ne erste Voraussetzung. Die Gegenüberstellung
von „Tier" und „Geistesmensch" orientiert sich
an der Gegenüberstellung von „sexuell" und
„geistig"; es ist die gleiche Antithese, die in
stets gleichbleibender Weise, wie wir andernorts
an Beispielen belegen werden, die Grundlage
der gesamten bürgerlichen und theosophischen
Moralphilosophie bildet. Sie blieb bisher un-
angreifbar, weil ihre Grundlage, die Sexualver-
neinung, die realen Widersprüchen im Leben
des bürgerlichen Menschen entspricht, nicht
angetastet wurde.
Der durchschnittliche Jugendliche, auch der
aus proletarischen Kreisen, steht, von früher
Kindheit an durch das Elternhaus darauf vor-
bereitet, in dem scharfen Konflikt zwischen
Sexualanspruch und Versagung. Ein Flugblatt
yon der Art des oben wieder gegebenen drängt
ihn m die Richtung der Erledigung des Kon-
fliktes im Sinne der Kirche, ohne freilich die
Schwierigkeit dabei aus der Welt zu schaffen.
Die Kirche hilft sich in der Schwierigkeit da-
durch, dass sie die Onanie zwar offiziell streng
verdammt, in der Beichte jedoch durch periodi-
sche Absolution dem Jugendlichen diesen Aus-
weg im Grunde praktisch nicht versperrt Sie
gerät aber dabei in eine andere Schwierigkeit,
die für die Sexualpolitik von grösster Wichtig-
keit ist. Die Kirche kann ihre Massenbasis nur
durch zweierlei Taktik erhalten: erstens indem
sie die Massen durch Sexualangst an sich bin-
det, zweitens aber auch, indem sie ihre anti-
kapitalistische Geste aufrecht erhält. Sie verur-
216
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
teilt das Grosstadtleben mit seinen Gelegen-
heiten zur Verführung Jugendlicher, weil sie
gegen die revolutionäre sexuelle Kraft an-
kämpfen muss, die durch das grosstädtische Le-
ben der Jugend und des Proletariats geweckt
werden könnte und durch die Lockerung der
sexuellen Fesseln in der imperialistischen Pha-
se auch tatsächlich geweckt wird. Auf der an-
deren Seite ist das sexuelle Leben der Massen
in den Grosstädten, gekennzeichnet durch den
brennenden Widerspruch zwischen hoher sexu-
eller Bedürftigkeit und minimaler materieller
und psychischer Befriedigungsmöglichkeit (ne-
benbei die wichtigste Bedürfnisbasis vieler
Zweige der kapitalistischen Produktion, z. B.
Film etc.). Dieser Widerspruch ist prinzipiell
von keiner anderen Art als der, dass der Kapi-
talismus auf der einen Seite die gleiche Familie
mit allen Mitteln verteidigt, die er auf der an-
deren durch seine wirtschaftlichen Krisen und
seine Sexualökonomie zerstört. Die Kenntnis
solcher Widersprüche ist für die praktische
frexualpolitik von grosser Bedeutung, denn sie
eröffnet breite Möglichkeiten, den ideologischen
Apparat der Bourgeoisie an einer seiner wun-
desten Stellen zu treffen.
Wo soll der Jugendliche die geeignete Kraft
zur Niederringung seiner genitalen Sinnlichkeit
suchen? Im Glauben an Jesus! Und der Jugend-
liche findet tatsächlich in diesem Glauben eine
mächtige Kraft gegen seine Sexualität. Auf-
grund welcher Mechanismen? Der Gottesglau-
ben, der selbst in früher Kindheit anlässlich der
ersten sexuellen Regungen aufgenommen wur-
de, versetzt in einen Zustand sexueller Erre-
217
p
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
gung, der nicht nur einen Ersatz für die sinn-
liche Genitalbefriedigung bildet, sondern viel-
mehr derart ist, dass dadurch tatsächlich die
normale, reife Sexualstrebung gelähmt wird.
Der Jugendliche muss sich nämlich, um das
Gebot der Kirche zu verwirklichen, in eine pas-
siv-homosexuelle Triebrichtung begeben bzw.
die entsprechenden Anlagen hierzu voll ent-
wickeln; die passive Homosexualität ist trieb-
energetisch der wirksamste Widerpart der
phallischen männlichen Sexualität, denn sie
ersetzt die Aktivität und Agression durch Pas-
sivität und masochistische Haltungen, also ge-
rade diejenigen, die die massenstrukturelle Ba-
sis der christlichen wie jeder patriarchalischen
Religion bestimmen. Das bedeutet aber gleich-
zeitig auch Setzung von Neigung zu kritikloser
Gefolgschaft, Autoritätsgläubigkeit und An-
passungsfähigkeit an die Institution der Ehe.
Die Kirche spielt also in Wirklichkeit, indem
sie die revolutionäre genitale Kraft niederrin-
gen will, eine andere sexuelle Triebkraft gegen
sie aus. Sie bedient sich selbst sexueller Me-
chanismen zur Durchsetzung ihrer Ziele. Diese
von ihr teils in Gang gesetzten, teils zur Blüte
gebrachten nichtgenitalen sexuellen Regungen
bestimmen dann die Massenpsychologie der
kirchlichen Anhängerschaft: moralischer (sehr
oft auch deutlich körperlicher) Masochismus
und passive Homosexualität. Es ist daher un-
vollständig, zum Teil sogar falsch, wenn die
Religion und ihre Macht aus der infantilen
Vaterbindung erklärt wird. Sie bezieht ihre
Macht aus der genitalen Sexualeinschränkung,
die erst sekundär zur Regression auf die Linie
218
v
"----"-
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
der passiven und masochistischen Homosexuali-
tät drängt. Sie basiert sich also triebdynamisch
auf doppelte Weise : durch Erzeugung von geni-
taler Angst und Ersatz der Genitalität durch
infantile, für den Jugendlichen nicht mehr nor-
male Triebrichtungen, die ihre Kraft aus der
versagten Genitalität beziehen. Für die sexual-
politische Arbeit unter christlichen Jugend-
lichen halten wir vorläufig fest, dass im Kampfe
gegen die Religion, wenn er mit geeigneten
Mitteln geführt werden soll, der genitale An-
spruch der Jugendlichen gegen den passiv-
homosexuellen ausgespielt werden kann und
muss. Diese massenpsychologische Aufgabe
deckt sich vollkommen mit den objektiven Ent-
wicklungslinien des Kommunismus auf sexual-
politischem Gebiet: Aufhebung der genitalen
Versagungen und Bejahung des genitalen Ge-
schlechtslebens der Jugendlichen.
Mit der Aufdeckung dieser Mechanismen der
religiösen Verseuchung der Massen ist aber die
Frage nicht erschöpft. Eine besondere Stellung
nimmt dabei der Manenkult ein. Wir bringen
wieder eine typische Flugschrift zur Orientie-
rung:
Marienverehrung und der Jungmann.
Von Dr. theol. Gerhard Kremer.
Echte, katholische Jugendfrömmigkeit wird stets
dem Marienideal aufrichtig zugetan sein. Es ist nicht
so, als ob Marienverehrung einer starken und warmen
Christusfrömmigkeit Eintrag täte, im Gegenteil, wahre
Marienverehrung muss zu Christus und sittlicher Le-
benshaltung hinführen. Wir wollen das Marienideal
für die sittliche und religiöse Erziehung unserer Ju-
gend nicht entbehren.
Jugend ist Zeit des Werdens, des äusseren und inne-
219
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
ren Kampfes. Es erwachen die Leidenschaften, es ist
ein Garen und Ringen im Menschen, ein stürmisches
Drangen und Wachsen. In dieser Jugendnot muss ein
Ideal vor der Jugend stehen, stark und machtvoll, ein
lichtes, helles Ideal, das selbst nicht berührt wird von
dem Drangen und Gären, sondern das die wankenden
Herzen emporreissen kann, das durch seinen Glanz das
Unendle und Gemeine überstrahlt und den schwanken-
den Sinn nach oben zieht. Dieses Ideal soll dem jun-
gen Menschen Maria sein, in der sich eine alles über-
strahlende Reinheit und Schönheit verkörpert.
„Man sagt, es gibt Frauen, die durch ihre Gegenwart
erziehen, da ihr Benehmen schon niedrige Gedanken
verscheucht, kein zu freies Wort über die Lippen lässt.
So eine edle Frau ist vor allem Maria. Ein junger Rit-
ter, der sich ihrem Dienst geweiht, der überzeugt ist,
dass ihr Blick auf ihm ruht, ist zu einer Gemeinheit
nicht fähig. Sollte er aber doch, ihrer Gegenwart ver-
gessend, fallen, so wird die Erinnerung an sie brennen-
den Seelenschmerz bewirken und dem Edelsinn wieder
zur Herrschaft verhelfen." (P. Schiigen S. J.)
Maria steht vor dem Jungmann als unerreichte An-
mut, Hoheit und Würde, wie sie in Natur. Kunst und
Menschenwelt nicht zu finden ist. Warum haben die
Kunstler und Maler immer wieder der Madonna ihr
Können und Schaffen geweiht? Weil sie in ihr die er-
habenste Schönheit und Würde erblickten. Das ist eine
Wurde und Schönheit die nie enttäuschen wird Da
steht eine Herrin und Konigin vor dem Jungmann der
zu dienen, vor der zu bestehen höchste Ehre sein muss
Da ist die hehre Frau und Seelenbraut, der du dich
hingeben kannst mit der ganzen aufquellenden Liebes
kraft deines jugendlichen Herzens, ohne Entwürdigung
und Entweihung zu fürchten." °
Das Marienideal soll den jungen Menschen begei-
stern; zumal in einer Zeit, die es liebt, das Strahlende
zu schwärzen und das Erhabene in den Kot zu ziehen
soll das Marienideal vor ihm aufleuchten als Rettung
und Kraft. In ihm soll der junge Mann begreifen, dass
es doch etwas Grosses und Erhabenes ist um seelische
Schönheit und Keuschheit. In ihm soll er die Kraft fin-
aen den Weg aufwärts zu gehen, auch wenn alle ande-
c n m den Niederungen ihr Bestes verlieren. Das Ma-
220
—
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
rienideal soll den Schwankenden zur Besinnung rufen,
den Strauchelnden wieder aufrichten und stark machen,
ja es soll gar den Gefallenen ergreifen, damit er mit
neuem Mut sich aufrafft. Maria ist der Meeresstern, der
in der dunklen Nacht der Leidenschaft dem jungen
Menschen aufleuchten will; der dann, wenn alles in
ihm erschüttert zu sein scheint, doch wieder das Edle
in ihm wachruft. Durchschweif' ich Berg' und Auen. -
In unverstand'ner Qual. - Von Unserer Lieben Frauen.
- Das Kirchlein steht im Tal. - Berührt mein Fuss die
Schwelle, - So sänftigt sich mein Blut: - Und denk ich
dein, Maria, - So ist schon alles gut." (Fr. W. Weber.)
Ihr Jungmänner, die ihr idealen Sinn habt und um
heilige Tugend einen Ringkampf führet, schauet auf zu
eurer Herrin und Königin. Wie kann ein junger Mann
zu ihr aufschauen, ohne mit heiligem Idealismus erfüllt
zu sein? Wie kann er sie im Ave Maria grüssen, ohne
Sehnsucht nach starker Keuschheit in sich zu tragen?
Wie kann er die herrlichen Marienlieder singen, ohne
den Mut zum Kampfe in sich zu fühlen? Wie könnte
ein Jungmann, der das Marienideal erfasst hat, hin-
gehen und an Frauenunschuld zum Räuber werden?
Wie kann er sie Mutter und Königin nennen und dann
an weiblicher Würdelosigkeit Geschmack gewinnen?
Ja, das Marienideal ist, wenn es nur ernst genommen
wird, für den jungen Mann ein starker Antrieb und ein
mächtiger Uufruf zur Keuschheit und Männlichkeit.
»»Auf ^ sie schauend, ihr Bild im Herzen tragend, musst
du nicht rein werden, so schwer du auch zu ringen
hast?'
Für die sittliche Haltung des jungen Mannes ent-
scheidend ist seine Stellung zum Mädchen, zur Frau.
„Beim Ritterschlage musste einst der Ritter geloben,
die wehrlosen Frauen zu beschützen. Das war die Zeit,
die die Dome baute zu Ehren der Himmelskönigin."
(P. Gemmel S. J.) Es besteht ein innerer Zusammen-
hang zwischen Marienminne und wahrer Ritterlichkeit
gegenüber dem Frauengeschlecht. Der Mann, der vom
Marienideal ergriffen ist, trägt naturnotwendig jenen
ritterlichen Schlag in sich, der hervorgeht aus ehr-
furchtsvoller Hochachtung vor weiblicher Würde und
Hoheit. Darum verpflichtete der Ritterschlag des Mit-
telalters den jungen Mann wie zum heiligen Minne-
221
1
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
dienst so auch zum Schutze der Frauenehre. Die Sym-
bole dieses Rittertums sind nicht mehr; aber schUm-
mer ist, dass in der mannlichen Jugend mehr und mTtr
die scheue Ehrfurcht vor der piau erstTrbTundeTnem
£ Ä ^"''Btoubrittertum gewichen ist. Schutt
e und schirmte ernst der Ritter in Panzer und Waf-
fenrustung schwache Weiblichkeit und Unschuld so
soll und muss der echte Mann heute sich innerHch der
Männ^chL^r^ UnS l huld ^ ls Schu ^ner fühlen. Solide
ehesten fSS^JSr *?***! Herzens ^el werden sich am
ehesten und schönsten dem weiblichen Geschlecht ge-
genüber offenbaren. Wohl dem jungen Manne, der sei-
WnMA ^ dens 5j la j t l , mit diesem Panzer umgeben hat!
Wohl dem Madchen, das die Liebe eines solchen jun-
gen Mannes gefunden hat! „Tue keinem Mädchen ein
Leid an und bedenke, dass auch deine Mutter ein Mäd-
chen gewesen ist!"
Der Jungmann von heute ist der Mann und Gatte
von morgen Wie wird der Gatte und Mann Frauentum
und Frauenehre schützen können, wenn der Jungmann
und Bräutigam Liebe und Brautzeit entweiht hat«
Brautzeit soll sein Zeit heiliger unentweihter Liebe
Wieviel Menschenschicksale würden glücklicher sein*
wenn das Marienideal in unserer Jungmännerwelt le-
bendig wäre. Wieviel Leid und Weh brauchte nicht zu
sein, wenn nicht junge Männer ein freventliches Spiel
trieben mit der Liebe einer Mädchenseele. O, ihr LI
gen Menschen lasst das helle Licht des Marienid ea Ts
undTallt hineinleuchten > *"»* ^r nicht strauchelt
Das Marienideal kann unserer männlichen Jugend
viel bedeuten. Gerade darum haben wir in unseren Tu
gendveremen und Kongregationen das Marienbanner"
entfaltet. O dass ich unsere katholische männliche
Jugend um dieses Banner scharen wollte! CKath K-,v
chenblatt, Nr. 18, 3.-5.-1931). V Klr "
Der Marienkultus wird zur Durchsetzung der
Keuschheit herangezogen, und — das muss klar
erkannt werden — mit grossem Erfolg Wir
müssen wieder nach dem psychologischen Me-
lanismus fragen, der diesen Absichten der Kir-
222
,,
Die Verankerung der Religion durch sexuelle Angst
che die Erfolge sichert. Es ist wieder nicht so
sehr ein Problem der objektiven, soziologischen
Rolle der Religion, als ein Problem der Psycho-
logie der dieser Rolle unterworfenen Massen
von Jugendlichen. Es geht dabei wieder um die
Niederringung der genitalen Triebkräfte. Mobi-
lisiert der Jesuskult die passivhomosexuellen
Kräfte gegen die Genitalität, so der Marienkult
wieder sexuelle Kräfte, diesmal aus der genita-
len heterosexuellen Sphäre selbst. „Tue keinem
Mädchen ein Leid an und bedenke, dass auch
deine Mutter ein Mädchen war." Die Mutter
Gottes übernimmt also im Gefühlsleben des
christlichen Jugendlichen die Rolle seiner eige-
nen Mutter, und er wendet ihr automatisch, nur
noch bestärkt durch derartige Einflüsse der Kir-
che die ganze Liebe zu, die er seinerzeit für sei-
ne Mutter hatte, die ganze starke Liebe seiner
ersten genitalen Wünsche. Das Inzestverbot, das
durch die Kastrationsdrohung sanktioniert wur-
de, spaltete nun seine Genitalität in genitale Sinn-
lichkeit und Zärtlichkeit der gleichen sexuellen
Sphäre. Die Sinnlichkeit musste verdrängt wer-
den und ihre Energie verschärfte die zärtliche
Strebung, gestaltete sie zu einer schwer lösba-
ren Bindungsfähigkeit, die einhergeht mit einer
heftigen Abwehr nicht nur des Inzestwunsches,
sondern jeder genitalen sinnlichen Beziehung
zu einer Frau. Die ganze lebendige Kraft und
grosse Liebe, die der gesunde, areligiöse junge
Mann im genitalen Erleben mit der Geliebten
aufbringt, stützt beim Religiösen nach der Ver-
drängung der genitalen Sinnlichkeit (die, wie
wir früher zeigten, auch noch anders gebunden
wird) den religiösen Marienkult. Aus diesen
223
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
Quellen bezieht die Religion weitere Kräfte, die
deshalb nicht zu unterschätzen sind, weil es un-
befriedigte und genitale Kräfte sind. Sie erklä-
ren uns auch die jahrtausendealte Macht der
Kirche über die Menschen und damit zugleich
die Hemmungen, die der Kulturbildung in den
Massen entgegenwirkten.
2. GESUNDES UND NEUROTISCHES
SELBSTGEFÜHL
Für den sexuell vollwertigen, sexualökono-
misch organisierten jungen Menschen bedeutet
das sinnliche Erleben mit einer Frau erfüllende
Bindung, Erhöhung des Partners, Austilgung
jeder Art irgendwie angelegter Erniedrigungs-
tendenzen gegenüber der sich sexuell gebenden
Frau. Nach der Verdrängung der genitalen Sinn-
lichkeit können sich nur mehr die psychischen
Abwehrkräfte auswirken, Ekel und Abscheu vor
der genitalen Sinnlichkeit ; diese Abwehrkräfte
beziehen ihre Energie aus mehreren Quellen.
Zunächst ist die abwehrende Kraft zumindest
ebenso stark wie die abgewehrte, durch die Ver-
drängung und Unbefriedigtheit gesteigerte ge-
nitale Begehrlichkeit, an der durch die Unbe-
wusstheit des Verlangens nicht im geringsten
gerüttelt wird. Dazu kommt die Rechtfertigung
des Abscheus vor dem Geschlechtsverkehr durch
die tatsächliche Verrohung des Liebeslebens
beim bürgerlichen Menschen. Dieses verrohte
Liebesleben gilt dann als Vorbild des Liebes-
lebens überhaupt. Die Moral schafft also zuerst
das, worauf sie sich dann zur Rechtfertigung
224
-
Gesundes und neurotisches Selbstgefühl
ihres Bestandes („das Sexuelle ist asozial") be-
ruft. Als dritte affektive Quelle wirkt die sadis-
tische Auffassung des Geschlechtslebens mit, die
die Kinder aller patriarchalischen Kulturkreise
in der frühen Kindheit erwerben. Da jede Hem-
mung der genitalen Befriedigung die sadisti-
schen Impulse hochtreibt, infolgedessen die ge-
samte Sexualstruktur sadistisch wird; da ferner
ein teilweiser oder vollständiger Ersatz der ge-
nitalen Ansprüche durch anale in den meisten
Fällen statthat, klingt die kirchliche Parole von
der Erniedrigung und Brutalisierung der Frau
durch den Geschlechtsverkehr an die Struktur
der Jugendlichen an und gewinnt erst auf diese
Weise ihre grosse Bedeutung. Der Jugendliche
hat ja, noch ehe -er auf kirchliche Parolen stiess,
aus eigenem Erleben die sadistisch-anale Auf-
fassung des Geschlechtsverkehrs ausgebildet.
Auch hier bestätigt sich also aufs neue, dass die
moralischen Abwehrmächte der Menschen die
Macht und Gewalt der Instanzen der politischen
Reaktion begründen. Der Zusammenhang des
religiösen Empfindens mit der sexuellen „Sitt-
lichkeit" beginnt nun klarer zu werden. Welche
Inhalte immer religiöses Erleben haben mag, es
ist im wesentlichen das Negativ des sexuellen
Strebens, im wesentlichen Sexualabwehr, aber
mithilfe nichtgenitaler sexueller Erregungen.
Der Unterschied des sexuellen zum religiösen
Empfinden ist, dass dieses die Wahrnehmung
der Erregung als sexueller nicht zulässt und dass
die Entspannung ausfällt, auch dort, wo es sich
um die sogenannte religiöse Exstase handelt.
In der Wahrnehmung der sexuellen Lust und
der Endlust selbst gesperrt, muss die religiöse
*» 225
D. Voraussetz. d. sexualpol. Praxis etc.
Erregung eine dauernde Veränderung der psy-
chischen Apparatur herbeiführen. Nicht nur dass
das reale Sexualerleben selbst als erniedrigend
erlebt wird, es kann auch nie zu einem Voll-
erleben kommen. Die Abwehr des sinnlichen Be-
gehrens muss im Ich-Ideal gefühlsbetonte Vor-
stellungen von ethischer Reinheit und Vollkom-
menheit einbauen. Was die gesunde Sinnlich-
keit und Befriedigungsfähigkeit an Selbstgefühl
vermittelt, ergibt sich beim religiösen und my-
stischen Menschen aus diesen Abwehrformatio-
nen. Wie beim nationalistischen Empfinden
wird auch beim religiösen das Selbstgefühl aus
diesen Abwehrhaltungen geschöpft. Es unter-
scheidet sich jedoch vom genital basierten
Selbstgefühl schon äusserlich durch seinen zur
Schau getragenen Charakter, durch den Man-
gel an Natürlichkeit im Auftreten, durch die tie-
fenpsychologisch leicht festeilbare Unterbau-
ung durch ein sexuelles Minderwertigkeitsge-
fühl, das zur Kompensation mithilfe entlehnter
tugendvoller Eigenschaften drängt. Das erklärt
warum der christlich oder national „sittlich" er-
zogene Mensch den Phrasen der politischen Re-
aktion wie „Ehre", „Reinheit" etc. so leicht zu-
gänglich ist.
226
VIII. KAPITEL
Einige Fragen der sexualpolitischen
Praxis
1. THEORIE UND PRAXIS
Die bürgerliche akademische Forschung for-
dert die Trennung von Sein und Sollen, Erken-
nen und Handeln. Sie dünkt sich daher „unpo-
litisch", der Politik disparat. Die Wissenschaft
der Logik behauptet sogar, dass sich aus dem
Sein niemals das Sollen ableiten lasse. Wir er-
kennen darin eine Beschränkung, die den Zweck
hat, sich ungestört akademischer Forschung hin-
geben zu können, ohne auch die Konsequenzen,
die jeder ernsthaften wissenschaftlichen Ein-
sicht innewohnen, ziehen zu müssen, Konsequen-
zen, die regelmässig fortschrittlich, sehr oft um-
stürzlerisch sind. Für uns geht die Bildung
theoretischer Ansichten nicht nur aus den Not-
wendigkeiten des lebendigen Lebens, aus dem
Zwange, praktische Probleme unseres Daseins
zu lösen, hervor, führt die theoretische Ansicht
nicht nur zu neuem, besserem, angepassterem
Handeln und Bewältigen der praktischen Auf-
gaben; mehr, eine Theorie gewinnt für uns nur
dann Wert, wenn sie sich in der Praxis und durch
sie bestätigt. Alles andere überlassen wir den
Jongleuren des Geistes, den Hütern der bür-
gerlichen „Werte"ordnung. Wir haben vor al-
lem den Grundfehler der bürgerlichen Religi-
onsforschung zu überwinden, die in akademi-
schen Darlegungen stecken bleibt und uns daher
227
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
keinen Ausweg zeigen kann. Wir sind mit
vielen bürgerlichen Forschern der gleichen
Meinung, dass die Religion in allen ihren For-
men geistige Nacht und Beschränktheit bedeu-
tet. Wir wissen, dass die Religion im Verlaufe
des historischen Prozesses zu einem Machtin-
strument der herrschenden Klasse geworden ist ;
auch darin sind wir mit manchem bürgerlichen
Forscher einig. Wir unterscheiden uns nur von
ihnen durch den ernsthaften Willen, den Kampf
gegen Religion und Aberglauben erfolgreich zu
führen, unsere Theorie harte Praxis werden zu
lassen. Wurden in Kampf zwischen Materialis-
mus und Theismus alle Möglichkeiten von er-
stem ausgeschöpft? Wir müssen die Frage ver-
neinen. Vom letztem gewiss. Doch zunächst
wollen wir in einem kurzen Überblick Orien-
tierung gewinnen.
2. DER BISHERIGE KAMPF GEGEN
DIE RELIGION
In der Entwicklung der Religion und des
Kampfes gegen sie lassen sich ohne Verpflich-
tung vier Phasen unterscheiden. Die erste ist
gekennzeichnet durch Mangel jeder wissen-
schaftlichen Anschauung der Dinge, an deren
Stelle die animistischen und mystischen An-
schauungen herrschen. Der Primitive hat den
Drang, vor allem um sein Leben zu sichern, Na-
turerscheinungen zu erklären und dadurch auch
seine Angst vor dem Unverständlichen zu über-
winden. Er sucht Schutz vor den überwältigen-
den Mächten der Natur. Beides leisten ihm
228
•
Der bisherige Kampf gegen die Religion
subjektiv, nicht objektiv, die Mystik, der Aber-
glaube und die animistische Anschauung der
natürlichen Vorgänge, seine inneren, seelischen
eingeschlossen. Er glaubt etwa die Fruchtbar-
keit des Bodens durch Aufstellen von Phallus-
skulpturen zu heben oder Dürre durch Urinie-
ren zu beseitigen. Diese Situation bleibt in den
Grundzügen unverändert bei allen Völkern der
Erde, bis am Ausgang des Mittelalters die ural-
ten Ansätze zu wissenschaftlicher Erfassung
der Natur in voller Abhängigkeit von einigen
technischen Entdeckungen einen ernsten, aller
Mystik und Religion gefährlich werdenden Cha-
rakter annehmen. Im Prozess der grossen bür-
gerlichen Revolution entbrennt ein heisser
Kampf gegen die Religion, für die Aufklärung:
Der Zeitpunkt naht heran, in dem die Wissen-
schaft die Religion in Bezug auf Erklärung der
Natur, die aufblühende Technik im besonderen
hinsichtlich des menschlichen Schutzbedürfnis-
ses ersetzen könnte (zweite Phase). Aber das
Bürgertum schwenkt, nunmehr an der Macht,
um und schafft einen Widerspruch des Kultur-
prozesses, indem es auf der einen Seite die wis-
senschaftliche Forschung mit allen Mitteln för-
dert, weil sie ihm die wirtschaftliche Ausbeute
stützt, auf der anderen Seite dagegen macht
es die Religion zur wichtigsten ideologischen
Macht zur Unterdrückung der Millionenarmeen
der Lohnempfänger (dritte Phase). Dieser Wi-
derspruch findet seinen tragikomischen Aus-
druck etwa in wissenschaftlichen Filmen, z. B.
„Natur und Liebe", in dem jeder Abschnitt
zwei Aufschriften trägt: „Die Erde entwickelte
Sich in Millionen Jahren infolge mechanischer
229
•
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
und chemischer kosmischer Prozesse" oder so
ähnlich, und darunter: „Am ersten Tage schuf
Gott Himmel und Erde". Und im Parkett sitzen
hohe Gelehrte, Astronomen und Chemiker, und
sehen sich diese friedliche Eintracht still-
schweigend an, in der Überzeugung, dass die „Re-
ligion ja auch ihre guten Seiten habe", lebendige
Darstellungen der Trennung von Theorie und
Praxis. Die zielbewusste Fernhaltung der Er-
gebnisse der Wissenschaft von den Massen der
Bevölkerung und Affenprozesse wie in der USA
fördern Demut, Kritiklosigkeit, freiwillige Ent-
sagung und Hoffnung auf Glück im Jenseits,
Autoritätsglauben, Anerkennung der Heilig-
keit des Privateigentums und der Ewigkeit und
Unantastbarkeit der vaterrechtlichen Familie
Das Proletariat und Teile des ihm nahestehen-
den Kleinbürgertums schaffen die Freidenker-
bewegung, die das liberale Bürgertum gewähren
lässt, so lange sie gewisse Grenzen nicht über-
schreitet. Aber das Freidenkertum arbeitet mit
unzulänglichen Mitteln, nur mit intelektuellen
Argumenten, während die Kirche die Hilfe des
staatlichen Machtapparates geniesst und sich
massenpsychologisch auf die gef ühlmässig mäch-
tigste Kraft, die Sexualangst und Sexualver-
drängung stützt. Dieser grossen Macht im Ge-
fühlsbereiche ist keine entsprechende Kraft von
gefühlsmässigem Gewicht entgegengesetzt. So-
weit das Freidenkertum Sexualpolitik betreibt,
ist sie wieder intellektualistisch oder auf die
Fragen der Bevölkerungspolitik eingeschränkt,
im besten Falle bezieht es die Forderung nach
wirtschaftlicher Gleichberechtigung der Frau
ei n, was sich aber gegen die Mächte der Re-
230
Der bisherige Kampf gegen die Religion
ligion massenmässig nicht auswirken kann, weil
für die meisten Frauen die Vorstellung der wirt-
schaftlichen Gleichberechtigung durch Sexual-
angst, d. h. durch Angst vor der sogenannten
sexuellen Freiheit, die bei wirtschaftlicher
Gleichstellung mitgegeben ist, unbewusst ge-
fühlsmässig gebremst ist.
Die Schwierigkeiten in der Bewältigung
dieser unerkannten gefühlsmässigen Tatbestän-
de zwingen die revolutionäre Freidenkerbewe-
gung nur mehr mit der Enthüllung der Klas-
senfunktion der Religion und der Kirche zu
opieren, die sogenannte „Weltanschauungsfra-
ge" dagegen in den Hintergrund zu rücken, weil
man damit oft das Gegenteil des Beabsichtigten
erzielte, ein Standpunkt, der gewiss für diese
Phase des Kampfes, in dem der Religion keine
entsprechende gefühlsmässige Macht entgegen-
gesetzt werden kann, restlos gilt.
Die russische Revolution hebt den Kampf ge-
gen die Religion auf ein ungleich höheres Ni-
veau (viert e Phase) 1). Der Machtapparat steht
., !? b ite L atU - T z „ ur ReIi gionsfrage in der 'S. U. Schule
und Kirche in Sowjetrussland, Süddeutsche Arbeiter-
Zeitung vom 26.-9.-1927 ; Kirche und Staat in der Sow-
jetrepublik, Stepanow. Jhrb. f. P. u W. 23—24. Kirche
und Staat, Jaroslawski, Jhrb. 1925—26. Die Freidenker-
bewegung in Russland, v. Muzak, „Der Freidenker",
Nr. 6. Das Verhältnis von Kirche und Staat im neuen
Russland. v. Jakoby Weimar, Neue Bahnen 1928. —
Lenin, W. I.: über die Religion, Bd. IV, der kleinen
Lenin-Bibl. Verl. f. Lit. u. Pol. — Elgers, A.: Die
Kulturrevolution in der Sowjetunion, Verlagsanstalt
proletarischer Freidenker 1931. — Kurella, A.: Die
sozialistische Kulturrevolution im 5- Jahresplan, Inter-
nationaler Arbeiterverlag. — Feodorow: Antireligiöse
Propaganda im Dorf. — Wogan: Sozialistischer Auf-
bau des Dorfes und die Religion. —
231
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
nicht mehr der Bourgeoisie und der Kirche,
sondern den Exekutivkomitees der Sowjets zur
Verfügung. Die antireligiöse Bewegung erhält
ein festes Fundament, die sozialistische Neu-
ordnung der Wirtschaft. Jetzt wird erstmalig
im Massenmasstabe der Ersatz der Religion
durch Naturwissenschaft, der Ersatz des das Ge-
fühl des Schutzes bietenden Aberglaubens durch
die aufblühende Technik, die Zerstörung der
Religion durch gesellschaftswissenschaftliche
Erklärung der Funktion der Religion selbst
möglich. Der Kampf gegen die Religion erfolgt
in der USSR im wesentlichen in dreifacher
Weise: Durch Entzug der wirtschaflichen
Basis, also direkt wirtschaftlich, durch antire-
ligiöse Propaganda, also direkt ideologisch, und
durch Hebung des kulturellen Niveaus der Mil-
lionenmassen, also indirekt ideologisch.
Die gewaltige Bedeutung des staatlichen
Machtapparates für die Existenz der Kirche
geht aus einigen Zahlen hervor, die die Zu-
stände im alten Russland beleuchten. Die rus-
sische Kirche besass 1905 2.611.000 Desjatinen
Grund und Boden, d. s. ca. 2 Millionen Hektar.
1903 gehörten in Moskau den Pfarrkirchen 908
Häuser, den Klöstern 146. Die jährlichen Be-
züge der Metropoliten betrugen in Kiew 84.000
Rubel, in Petersburg 259.000 Rubel, in Moskau
81.000 Rubel, in Nishni-Nowgorod 307.000 Ru-
bel. Die Naturaleinnahmen und Gebühren für
jede einzelne kirchliche Handlung sind nicht
abzuschätzen. 200.000 Personen standen auf
Kosten von Massensteuern im Dienste der Kir-
ceh. Das Troitzkij-Lawra Kloster, das von
durchschnittlich 100.000 Wallfahrern jährlich
232
»
Der bisherige Kampf gegen die Religion
besucht wurde, verfügte über Kirchengeräte im
Werte von etwa 650 Millionen Rubel. Wie die
ökonomische Macht der Kirche in den kapitali-
stischen Ländern beschaffen ist, wird sich erst
nach der Machtergreifung durch die Arbeiter-
und Bauernräte erfassen lassen. Sie ist gewiss
nicht geringer als im alten Russland.
Auf ihre wirtschaftliche Macht gestützt
konnte die Kirche ihre ideologische entspre-
chend ausüben. Dass alle Schulen konfessionell,
der Kontrolle und Herrschaft der Priesterschaft
unterworfen waren, versteht sich von selbst. Der
erste Artikel der Verfassung des zaristischen
Russland lautete: „Der Herrscher aller Reussen
ist selbstherrschender und unumschränkter Mo-
narch und Gott selbst befiehlt freiwillige Un-
terordnung unter seine Regierungsgewalt." Wir
wissen bereits, was Gott darstellt, auf welche
kindlichen Gefühle im Menschen sich derartige
Machtsprüche stützen können. Derzeit baut
Hitler in Deutschland die Kirche in ganz der
gleichen Weise um, erweitert er ihre Machtvoll-
kommenheit, verleiht er ihr die üblen Rechte,
in den Schulen die Kindergemüter für die Auf-
nahme der reaktionären Ideologien reif zu ma-
chen. Die „Versittlichung" steht in vorderster
Kampffront des das Vermächtnis des allerhöch-
sten Gottes vollziehenden Hitler. Kehren wir
zum gründlich entlarvten alten Russland zurück.
An den geistlichen Seminaren und Akademien
gab es spezielle Lehrstühle für den Kampf ge-
gen den Sozialismus. Am 9. Januar 1905 erschien
ein Aufruf der Geistlichkeit der die revoltieren-
den Arbeiter beschuldigte, von den Japanern
bestochen zu sein. Die Februarrevolution 1917
233
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
brachte nur geringe Änderungen; alle Kirchen
wurden gleichgestellt, aber die lange erwartete
Trennung von Kirche und Staat blieb aus, das
Oberhaupt der Kirchenverwaltung wurde der
Grossgrundbesitzer Fürst Lwow. In einer Kir-
chenversammlung im Oktober 1917 wurden die
Bolschewiken in Bann getan, der Patriarch Ti-
chon erklärte ihnen den Krieg.
Die Sowjetregierung erliess am 23. Januar
1918 ein Dekret folgenden Inhaltes:
„Hinsichtlich der Religion begnügt sich die RKP
nicht mit der bereits dekretierten Trennung der Kir-
che von Staat und Schule,d. h. mit Massnahmen, die
auch auf dem Programm der bürgerlichen Demokratie
stehen, ohne dass sie infolge der zahlreichen faktischen
Zusammenhänge zwischen Kapital und religiöser Pro-
paganda irgendwo in der Welt rigoros bis zu Ende
durchgeführt worden wäre.
Die RKP ist der Überzeugung, dass nur die Ver-
wirklichung der Planmässigkeit und Bewusstheit im
gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben
der Massen das völlige Absterben der religiösen Vor-
urteile nach sich ziehen wird. Die Partei beabsichtigt
die völlige Beseitigung aller Zusammenhänge zwischen
den Ausbeuterklassen und der Organisation der religio
sen Propaganda: sie organisiert eine umfassende wis
senschafthch aufklarende und antireligiöse Propaean
da, wodurch sie faktisch zur Befreiung der schaffen
den Massen von den religiösen Vorurteilen beiträgt
Hierbei muss sorgfältig vermieden werden, die Gefüh-
le der Gläubigen zu kränken, was nur zu einer Verstär-
kung des religiösen Fanatismus führt. —
Danach sind auf dem Territorium der Republik lo-
kale Verordnungen, durch die die Freiheit des Gewis-
sens beschränkt oder aber Privilegien für Angehörige
eines bestimmten Glaubensbekenntnisses geschaffen
würden, unzulässig (§ 2 des Dekrets).
Jeder Staatsbürger kann sich zu einer beliebigen
Religion oder auch zu keiner bekennen; alle früheren
™ It: .zusammenhängenden Rechtsbeschränkungen sind
234
Der bisherige Kampf gegen die Religion
Aus allen offiziellen Akten ist jeder Hinweis auf
die religiösen Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit
eines Staatsbürgers zu entfernen (§ 3 des Dekrets).
Die Tätigkeit der staatlichen und sonstigen öffent-
lich-rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen
vollzieht sich ohne jegliche religiösen Gebräuche und
Zeremonien (§ 4).
Die freie Ausübung der religiösen Gebräuche wird
gewahrleistet, sofern sie keine Störung der öffentli-
chen Ordnung mit sich bringt und nicht von Anschlä-
gen auf die Rechte von Staatsbürgern der Sowjetunion
begleitet ist. Die lokalen Behörden sind befugt, in sol-
chen Fällen alle Massnahmen der öffentlichen Ruhe
und Ordnung zu treffen. (§ 5).
Niemand kann sich unter Berufung auf seine reli-
giösen Anschauungen seinen staatsbürgerlichen Pflich-
ten entziehen.
Ausnahmen hiervon sind nur aufgrund einer Ent-
scheidung des Volksgerichtes in jedem einzelnen Falle
zulässig und unter der Bedingung, dass die eine staats-
bürgerliche Pflicht durch eine andere ersetzt wird.
(§ 6).
Der religiöse Eid ist abgeschafft. Nötigenfalls wird
eine feierliche Erklärung abgegeben. (§ 7).
Die Zivilstandsakten werden ausschliesslich von den
Zollbehörden und zwar von den Registrierabteilungen
Mir Eheschliessungen und Geburten geführt (§ 8).
Die Schule ist von der Kirche getrennt.
Die Propagierung religiöser Glaubensbekenntnisse
'st an samtlichen staatlichen und öffentlichen sowie
privaten Unterrichtsanstalten wo Gegenstände der All-
gemeinbildung gelehrt werden, untersagt (§ 9).
Alle kirchlichen und religiösen Gesellschaften unter-
legen den allgemeinen Bestimmungen über private
Gesellschaften und Verbände und geniessen keinerlei
Vergünstigungen und Subsidien weder seitens des Staa-
tes, noch der autonomen lokalen Selbstverwaltungs-
organe (§ 10).
Die Zwangseintreibungen von Umlagen zugunsten
der kirchlichen und religiösen Gesellschaften, sowie
Zwangs- und Strafmassnahmen dieser Gesellschaften
gegen ihre Mitglieder sind unzulässig (§ 11).
Die kirchlichen und religiösen Gesellschaften besit-
235
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
"ich? d i re er Rl?t igen - tUmS - reCht '- des S lei ^en besitzen sie
An die T> R « cht e einer juristischen Person (§ 12)
Aller Besitz der kirchlichen und religiösen Gesell
*ur den Gottesdienst bestimmte Baulichkeiten und
Gegenstande werden aufgrund besonderer Verfügungen
der lokalen oder zentralen Behörden den £2253?
den religiösen Gesellschaften zur unenteelSichen S
nutzung überlassen (§ 13) ""entgeltlichen Be-
Geistliche, Mönche und Nonnen haben weder akti
Schon am 18. Dezember 1917 wurde die Füh-
rung der Zivilstandsakten den Sowjetämtern
übergeben. Beim Volkskommissariat für Justiz
wurde eine Liquidationsabteilung gegründet, die
mit der Liquidation des Kirchenbesitzes begann
im Troitzkij-Lawrakloster wurde z. B. eine
Akademie für die elektrotechnische Abteilung
der Roten Armee und ein pädagogisches Tech-
nikum errichtet. Auf den Territorien der Klö-
ster wurden Arbeiterkartelle und Kommunen
eingerichtet, die Kirchen verwandelten sich all
mählich in Arbeiterklubs und Leseräume Die
antireligiöse Propaganda setzte mit der Ent
larvung des direkten Volksbetruges durch die
kirchliche Hierarchie ein. Der heilige Brunnen
in der Sergiuskirche entpuppte sich als simple
Pumpe, die Stirn manches Heiligen, die küssen
zu dürfen sogar Geld kostete, war nicht anderes
als ein geschickt arrangiertes Stück Leder Die
Wirkung dieser Entlarvung im Angesicht mas-
senhaft versammelter Menschen wirkte prompt
und radikal. Dass die Gottlosenpropaganda Stadt
und Land mit Millionen von aufklärenden Bro-
■bfe? i. Und Zeitun S en überschwemmte, ver-
geht sich von selbst. Die Errichtung von anti-
236
*
Sexuelle Bewusstheit contra Mystik
religiösen naturwissenschaftlichen Museen er-
möglichte die Gegenüberstellung von wissen-
schaftlicher und abergläubischer Weltbetrach-
tung.
Trotz alledem hörte ich in Moskau 1929, dass
die einzig organisierten und festgefügten kon-
terrevolutionären Gruppen die religiösen Sek-
ten wären. Die Beziehung des religiösen Sekten-
wesens zum Geschlechtsleben der Sektenmit-
glieder wie auch zur Sexualstruktur der Gesell-
schaft, die in der S. U. theoretisch und praktisch
schwer vernachlässigt, weil unterschätzt ist, was
sich bereits schädlich ausgewirkt hat, führt zu
unserem Thema zurück.
3. SEXUELLE BEWUSSTHEIT CONTRA
MYSTIK
Die Zerstörung der wirtschaftlichen Basis der
Macht der Kirche ist in den kapitalistischen Län-
dern nicht möglich, und auch nach der Revolution
bedeutet sie nur die Beseitigung der wichtigsten
Hilfsmittel der Kirche. An ihrer ideologischen
Macht, die sich auf die entgegenkommenden Ge-
fühle und abergläubischen Strukturen der durch-
schnittlichen Massenindividuen stützt, rührt
diese Massnahme nicht. Daher setzte die Sow-
jetmacht mit der ideologischen Beeinflussung
ein. Die naturwissenschaftliche Aufklärung und
Entlarvung der Religion setzt aber blos eine,
allerdings sehr mächtige, intellektuelle Kraft
neben die religiösen Gefühle und überlässt im
Übrigen alles dem Kampf zwischen Intellekt
und mystischem Empfinden im Menschen. Dieser
237
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
Kampf gelingt nur bei bereits auf anderer Ba-
sis reifenden Persönlichkeiten. Dass er auch bei
solchen versagen kann, zeigt sich an den nicht
seltenen Fällen, wo selbst klare Materialisten
ihren religiösen Empfindungen fa T der £
™M e h l Foim - nachgeben > etwa &£*
vZt S? USSe "' Der gewiegte Kirche «-
W £5nnT„ ♦ u! US Cln Ar S u «^nt für sich
zu gewinnen trachten und behaupten, das be-
weise eben die Ewigkeit und Unausrottbarst
rt h, re i lgl ° Se , n ? Ühlens - Er hat tr °**dem Un-
U~rL T?~?? S ^ WeiSt nur ' dass zwar d ^ re-
ligiösen Fühlen die Macht des Intellekts ge-
genübergestellt ist, dass aber seine Quellen
5ȣ T angetas , tet wurd en- Der Schluss ist
gültig, dass dem religiösen Empfinden der Bo-
den restlos entzogen wäre, wenn nicht nur die
soziale Macht der Kirche beseitigt und dem re-
ligiösen Empfinden eine intellektuelle Kraft
gegenübergestellt, sondern darüber hinaus die
Gefühle, die das religiöse Empfinden speisen
Bahn bew r; f gemacht WÜrden und *nen f refe
Bahn geschaffen wäre. Da die unwiderlegbare
psychoanalytische Erfahrung besäet da« h
religiöse Empfinden gehemnfter SelualS ent
springt dass in gehemmter Sexualerregung dfe
Quelle der religiösen Erregung zu suchen lst
so folgt daraus der zwingende Schluss dass'
klares sexuelles Bewusstsein und natürliche
Ordnung des sexuellen Lebens das Ende des
mystischen Empt indes jeder Art sein muss, dass
also die natürliche Geschlechtlichkeit der Tod
imm? ' , ReIi ^" i«. Wenn die Kirche, wo
hT? 'J e ka . nn ' den bisexuellen Kampf führt
'hn , n das Zentrum ihrer Dogmen und in den
Sexuelle Bewusstheit contra Mystik
Vordergrund der Massenbeeinflussung stellt, so
gibt sie dieser Auffassung damit nur recht.
Ich versuchte die sehr komplizierten Tatbe-
stände zunächst auf die einfachste Formel zu
bringen, wenn ich sagte, sexuelle Bewusstheit
sei das Ende der Religion. Wir werden bald
wahrnehmen, dass, so einfach diese Formel auch
ist, ihre wirkliche Grundlage und die Bedin-
gungen ihrer praktischen Durchführung äusserst
kompliziert sind und den ganzen uns zur Ver-
fügung stehenden wissenschaftlichen Apparat
und die tiefste Überzeugung von der Notwen-
digkeit des unerbittlichsten antireligiösen
Kampfes erfordern, wenn man mit entsprechen-
den Mitteln dem raffinierten ideologischen Ap-
parat der Kirche begegnen will. Doch das
schliessliche Resultat wird einmal die grosse
Mühe lohnen.
Um die Schwierigkeiten richtig abzuschätzen,
die der praktischen Durchführung dieser ein-
fachen Formel entgegenstehen, müssen einige
grundsätzliche Tatbestände in der psychischen
Organisation des bürgerlichen oder durch die
bürgerliche Erziehung gegangenen Menschen
grundlich erfasst werden. Wenn einige proleta-
rische Organisationen im katholischen Westen
Deutschlands den sexualpolitischen Kampf ge-
gen die religiöse Verseuchung ablehnten, weil
sie angeblich Misserfolge damit gehabt hatten,
so spricht das nicht gegen meine Aufstellung,
sondern bezeugt nur die Ängstlichkeit, eigene
Sexualscheu und sexualpolitische Unerfahren-
heit derer, die es unternahmen, vor allem aber
den Mangel an Geduld und Gründlichkeit, sich
der komplizierten Sachlage anzupassen, sie zu
239
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
verstehen und zu meistern. Wenn ich einer
christlichen Frau, die sich in sexuellen Nöten
befindet, einfach sagen werde, dass sie sexuell
leide und nur durch sexuelles Glück ihr seeli-
sches Leiden lösen könne, so wird sie mich wahr-
scheinlich und mit Recht vor die Türe setzen.
Wir haben die Schwierigkeit vor uns, dass nicht
nur jeder einzelne Widersprüche in sich trägt,
die man begreifen muss, sondern dass auch die
Frage praktisch in verschiedenen Gegenden und
Ländern verschieden liegt, also verschieden zu
lösen ist. Fraglos wird mit wachsender sexual-
politischer Praxis die Grösse der Hindernisse
kleiner werden, aber einzig und allein die Praxis
kann diese Schwierigkeiten beseitigen. Man
muss nur einig darüber sein, dass unsere Grund-
formel richtig ist, und man muss die Schwierig-
keiten in ihrem Wesen selbst begreifen. Wenn
die Religion die Menschheit seit Jahrtausenden
beherrscht, so darf sie von uns Anfängern for-
dern, dass wir sie auch nicht unterschätzen, sie
richtig erfassen und uns klüger, raffinierter
wissender erweisen als ihre Vertreter.
4. DIE INDIVIDUELLE ENTWURZE-
LUNG DES RELIGIÖSEN GEFÜHLS
Aus dem richtigen Verständnis der Verankerung
der Religiosität und der Möglichkeiten, sie zu
entwurzeln, das wir beim einzelnen bürgerlichen
Menschen durch die psychoanalytische Klinik
erlangen, lassen sich auch Richtlinien für die
Massenbeeinflussung gewinnen. Die Erfahrun-
gen über die Veränderungen, die an religiösen
240
D. indiv. Entwurzelung d. relig. Gefühls
oder in einer anderen Weise mystischen Men-
schen im Verlaufe einer psychoanalytischen Be-
handlung vor sich gehen, sind von entscheiden-
der Bedeutung, nicht deshalb, weil sie sich auf
die Massenbeeinflussung einfach übertragen
Hessen, sondern weil sie uns die Widersprüche,
Kräfte und Gegenkräfte beim Durchschnittsin-
dividuum enthüllen.
Ich habe bereits geschildert, welche unbe-
wussten Vorgänge die religiösen Vorstellungen
und Gefühle verankern. Versuchen wir nur},
den Prozess der Entwurzelung der Religiosität
in den Grundzügen zu verfolgen.
Die religiöse Einstellung wirkt sich zunächst
typischerweise als mächtigster Widerstand ge-
gen die Aufdeckung des unbewussten Seelen-
lebens, im besonderen der verdrängten sexuel-
len Ansprüche aus. Es ist bezeichnend, dass die
religiöse Abwehr weniger den praegenitalen
kindlichen, als den genitalen Triebregungen gilt,
zentral der kindlichen Onanie, an die gewöhn-
lich jede bewusste Erinnerung erloschen ist.
Der Kranke klammert sich an seine asketischen,
moralischen und religiösen Anschauungen, ver-
schärft seine Ideologie vom unüberbrückbaren
Gegensatz des „Moralischen" zum „Tierischen",
d. h. Natürlichen-sexuellen, wehrt sich gegen
den Analytiker, der nicht anderes tut, als ihm
das Bewusstsein seiner Sexualität nahezubrin-
gen, mithilfe moralischer Herabsetzung, des
Vorwurfs des Unverständnisses für „seelische
Werte" und „groben, niedrigen Materialismus".
Kurz, wer die Argumentation der Kirchenver-
treter und Faschisten in der politischen und
der Charakterologen und „Geisteswissenschaft-
16 241
i
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
ler" in der naturwissenschaftlichen Diskussion
kennt, dem klingt das alles wohlbekannt, es ist
ein und dasselbe. Es ist kennzeichnend, dass
sich die Gottesfürchtigkeit und die moralische
Abwehr sofort verstärken, wenn es der Analyse
gelingt, ein Stück Sexualverdrängung aufzulok-
kern. Nähert man sich insbesondere dem Kon-
flikt, der aus der kindlichen Onanieangst quillt,
drängt infolgedessen der genitale Sexualan-
spruch zur Aktivität in erhöhtem Masse, dann
pflegt ein Schwanken zwischen intellektueller
Einsicht und Hinneigen zur sexuellen Bejahung
einerseits und heftigster moralischer Abwehr
andererseits das Bild zu beherrschen, bis der
völlige Durchbruch der genitalen Ansprüche
und ihre Einverleibung in die übrige Person
gelingt. In dem gleichen Masse, in dem die
Angst vor der Sexualität bzw. dem alten elter-
lichen Sexualverbot schwindet, vermindert sich
auch die religiöse Gläubigkeit. Was ist vor sich
gegangen? Vorher hatte sich der Kranke unbe-
wusst des Gottesglaubens bedient, um die sexu-
ellen Wünsche in der Verdrängung zu erhalten.
Sein Ich war zu schwach, zu ängstlich, der
eigenen Sexualität zu sehr entfremdet, um die
mächtigen natürlichen Kräfte aus eigenem zu
beherrschen und zu regulieren. Im Gegenteil, je
mehr er sich seiner Sexualität erwehrte, desto
stärker wurden die Ansprüche und dement-
sprechend mussten auch die moralischen und
religiösen Hemmungen ausgebaut werden. Im
Verlaufe der Behandlung erstarkte dieses Ich,
die kindlichen Abhängigkeiten von Eltern und
Erziehern wurden gelöst, es erkannte die Na-
türlichkeit der verdrängten Sexualität, lernte
242
D. indiv. Entwurzelung d. relig. Gefühls
unterscheiden, was daran kindlich, derzeit un-
brauchbar, und was der Erwachsenheit und den
Forderungen des wirklichen Lebens entspricht.
Der christliche Jüngling wird etwa bald er-
kennen, dass seine intensiven exhibition istischen
und perversen Neigungen teils einer Rückkehr
zu uralten kindlichen Formen der Sexualität,
teils, ihrer Intensität und Unbeherrschbarkeit
nach, der Hemmung der genitalen Sexualität
entsprechen, er wird auch erkennen, dass seine
mehr oder minder unterdrückten genitalen
Wünsche nach Vereinigung mit einem Weibe
durchaus mit seinem Alter und seiner natür-
lichen Organisation in Einklang sind, dass ihre
Befriedigung nicht nur möglich, sondern sogar
notwendig sind. Er braucht nunmehr die Stütze
des Glaubens an einen allmächtigen Gott und
der moralischen Hemmung nicht mehr. Er wird
Herr im eigenen Hause und lernt, seinen sexuel-
len Haushalt selbst zu regulieren. Dazu kommt,
dass die Analyse von der kindlich-hörigen Ab-
hängigkeit von der Autorität des Vaters und
der Personen, die ihn ersetzen, befreit, indem
sie die Bindung an ihn durch die Ich-Erstar-
kung lost, sodass die Gottesbindung, die eine
Fortsetzung der Vaterbindung ist, ihre Kraft
einbüsst. Führt schliesslich die Analyse dazu,
dass der Betreffende ein normales, befriedigen-
des Liebesleben aufnimmt, dann verliert die Re-
ligion ihren letzten Halt. Studierende Theolo-
gen etwa geraten dann in nicht geringe Schwie-
rigkeiten, denn eine überzeugungsvolle Fort-
setzung des Berufes, dessen gesundheitliche
Segnungen am eigenen Leibe verspürt wurden,
ist unmöglich geworden. Vielen bleibt nur übrig]
243
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
an die Stelle des Priestertums die antireligiöse
Religionsforschung zu setzen.
Diese Vorgänge am religiösen Menschen wird
nur derjenige Analytiker nicht bestätigen kön-
nen, der entweder die Genitalstörung seiner Pa-
tienten theoretisch und praktisch nicht begreift
oder aber wie etwa ein bekannter psychoanaly-
tischer Pfarrer der Ansicht ist, dass man die
Sonde der Psychoanalyse nur so tief ins Unbe-
wusste senken dürfe, wie es die Ethik erlaubt.
Mit derlei „unpolitischer", „objektiver" Wissen-
schaft wollen wir ebensowenig zu tun haben wie
etwa mit der, die zwar die revolutionären Kon-
sequenzen der Psychoanalyse als „Politik" aufs
eifrigste bekämpft, selbst aber als Konsequenz
etwa den Rat für Mütter zieht, die Erektionen
der kleinen Knaben durch Übungen im Verhal-
ten des Atems zu bekämpfen. Fraglich ist in sol-
chen tragikomischen Schlussfolgerungen nicht
ihre Herkunft, sondern der Prozess im Wissen-
schaftler, der sie vor seinem Gewissen bestehen
lässt und ihn zum Priester macht, ohne ihn je-
doch vor der politischen Reaktion zu rehabili-
tieren. Er benahm sich nur wie die deutschen
SPD-Abgeordneten, die das Deutschlandlied bei
der letzten Parlamentsitzung begeistert-flehend
mitsangen und trotzdem „als Sozialisten" ins
Konzentrationslager kamen.
Es ist genau festzuhalten, dass unser Ergeb-
nis nicht durch Diskussionen über Dasein oder
Nichtdasein Gottes erzielt wird, sondern einzig
und allein durch Behebung der sexuellen Ver-
drängungen und Lösung der kindlichen Bin-
dungen an die Eltern. Die Zerstörung der Re-
ligion im Analysanden liegt auch garnicht in
244
D. indiv. Entwurzelung d. relig. Gefühls
der Absicht des Therapeuten, er behandelt sie
nur wie jede andere psychische Tatsache, die
als Stütze der Sexualverdrängung fungiert und
die sexuellen Energien aufzehrt. Der analyti-
sche Prozess besteht also nicht darin, dass der
religiösen Weltanschauung des Analysanden eine
materialistische, antireligiöse entgegengesetzt
wird; das wird absichtlich vermieden, denn es
würde an der Tatsache nichts ändern; er be-
steht vielmehr darin, dass die religiöse Einstel-
lung als antisexuelle Kraft entlarvt und die sie
speisenden Kräfte anders untergebracht wer-
den. Der Mensch, der vorher übertrieben mora-
lisch in der Ideologie, dagegen pervers, lüstern
und neurotisch verzerrt in der Wirklichkeit
war, verliert diesen Widerspruch und mit der
Moral auch die sexuelle Dissozialität und Un-
moral im sexualökonomischen Sinne. An die
Stelle der unzulänglichen moralischen und reli-
giösen Hemmung tritt die sexualökonomische
Regelung der sexuellen Bedürfnisse.
Die Kirche hat also von ihrem Standpunkt
durchaus Recht, wenn sie, um sich zu erhalten
und in den Menschen zu reproduzieren, so scharf
gegen die Sexualität auftritt. Sie irrt nur in
einer ihrer Voraussetzungen und in ihrer wich-
tigsten Rechfertigung: Ihre Moral schafft erst
dasjenige Triebleben, zu dessen sittlichen Be-
herrschung sie sich berufen ausgibt, und der
Wegfall dieser Moral ist die Vorbedingung des
Wegfalls dessen, was zu beseitigen sie vergeb-
lich sich bemüht. Das ist die unerbittliche
Tragik der Moral und Religion jeder Art, denn
die Aufdeckung der sexualökonomischen Pro-
245
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
zesse, die die Religion speisen, bedeutet ihr
praktisches Ende.
Sexuelle Bewusstheit und religiöses Empfin-
den können nebeneinander nicht bestehen. Sexu-
alität und religiöses Empfinden ist energetisch
dasselbe, solange erste verdrängt ist und sich
vom Bewusstsein unkontrolliert in religiöse Er-
regung umsetzen kann. (Wir sprachen hier
selbstverständlich vom echten religiösen Erle-
ben und nicht von der gemachten Religiosität,
die Erwerbszwecken dient.)
Aus diesen analytischen Tatbeständen ergeben
sich zwangsläufig einige Konsequenzen für die
Massenpraxis, die wir darlegen werden, nachdem
wir einige naheliegende Einwände erledigt ha-
ben.
5. EINWÄNDE UND DIE PRAXIS DER
SEXUALPOLITIK
In der sexualpolitischen Praxis ist man daran
gewöhnt, dass die beruflichen Wirtschaftspoli-
tiker als Gegner der sogenannten „Überspitzung
und Übertreibung der Sexualfrage" auftreten
und bei den geringsten Schwierigkeiten, die sich
naturnotwendig auf diesem neuen Gebiete erge-
ben, sofort das Ganze erledigen. Diesen Geg-
nern der Sexualpolitik überhaupt ist zunächst
zu sagen, dass die Eifersucht unbegründet ist.
Die sexualpolitische Kulturfront bedeutet kei-
nen Eingriff in ihre eigene Domäne der Wirt-
schafts- und Staatspolitik, auch keine Ein-
schränkung ihres Arbeitsgebietes, sondern zielt
auf die Erfassung eines bisher völlig vernach-
246
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
lässigten, aber äusserst wichtigen Gebietes des
Kulturprozesses. Der sexualpolitische Kampf ist
ein Teil des gesamten Kampfes der Klasse der
Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen die
Klasse der Ausbeuter und Unterdrücker. Wie
wichtig dieser Kampf ist, welchen Platz und
Raum er innerhalb der Arbeiterbewegung ein-
zunehmen hat, dies gegenwärtig am Schreibtisch
zu entscheiden, hiesse scholastische Diskutiere-
rei betreiben. In der bisherigen Diskussion um
Rolle und Bedeutung der Sexualpolitik pflegte
man, statt durch die Praxis sich seine Ein-
schätzungen zu holen, eine Rivalität zwischen
Wirtschafts- und Sexualpolitik zu konstruieren.
Auf solche Diskussionen darf keine Zeit ver-
schwendet werden. Wenn alle Fachbearbeiter der
verschiedenen Gebiete alles herausschlagen wer-
den, was zur Niederringung des Kapitalismus
notwendig ist,- wenn jeder sein Gebiet restlos
beherrschen wird, dann werden sich alle Diskus-
sionen über Rang und Rolle erübrigen, dann
wird sich die objektive Bedeutung der einzelnen
Fragen von selbst ergeben. Wichtig ist nur, an
der Grundauffassung festzuhalten, dass die
Wirtschaftsform auch die Sexualform bestimmt
und dass ohne Änderung der wirtschaftlichen
und politischen Formen des menschlichen Seins
die sexuellen nicht geändert werden können.
Es gibt einen öden Einwand, die Sexualpoli-
tik, die sich aus der psychoanalytischen Sexual-
theorie herleite, sei „individualistisch", für den
Klassenkampf also nicht zu brauchen. Es gibt
Schlagworte, die wie Hautläuse festsitzen und
nur mit radikalen Mitteln zu entfernen sind.
Gewiss ist die Methode, mit der die Erkennt-
247
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
nisse gewonnen werden „individualistisch". Be-
trifft aber das, was sie untersucht, nämlich das
Ergebnis der gesellschaftlichen Unterdrückung
des Geschlechtslebens, nicht alle Mitglieder un-
serer Gesellschaft? Ist die Sexualnot nicht kol-
lektiv? Ist die Tuberkulosebekämpfung in der
Sowjet-Union individualistisch, weil die Erfor-
schung der Tuberkulose am einzelnen Kranken
erfolgt? Die revolutionäre Bewegung beging
bisher den schweren Fehler die Sexualität als
eine „Privatangelegenheit" zu betrachten. Sic
ist es nicht für die politische Reaktion, die stets
und immer auf zwei Geleisen gleichzeitig fährt:
auf dem der Wirtschaftspolitik und auf dem der
„sittlichen Erneuerung". Wir fuhren bisher ein-
geleisig. Es kommt also darauf an, die Sexual-
frage zu politisieren, die Kulissen des persön-
lichen Lebens in offene Tribüne zu verwandeln,
die Sexualfrage in die gesamte Kampffront ein-
zureihen, und zwar ganz anders, wie es bisher
mit der einzigen Frage aus diesem Gebiet, der
Frage d er Bevölkerungspolitik, geschah.i) Di ese
*) Die proletarische Bewegung be°inp- hiQi,-, a
schweren Fehler, der unter andefemrncnt wenig zur
Niederlage beitrug, die politischen Parolen Ins dem
Gebiete der Gewerkschaftspolitik und des zTntrflen
politischen Kampfes mechanisch auf alle anderen Ge
biete des Klassenkampfes zu übertragen, statt auf ie
dem Gebiete des menschlichen Lebens und Handelnd
eine diesem Gebiet entsprechende Linie und Taktik zu
entwickeln. So wollten leitende Funktionäre der deut
sehen sexualpolitischen Organisation die Sexualfraee
ausschalten und mit der Parole „gegen Hunger und
tu ?*\ ii! Uf j 1CS o m Geblet » die Massen mobilisieren".
ü£J , lten u d fr Sexualfrage die „soziale Frage" gegen-
len Tr r alS °, b dle , S «ualfrage nicht ein Teil des sozia-
len Fragenkomplexes wären!
248
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
Frage ist keine sexualpolitische im strengen
Sinne des Wortes, sie betrifft nicht die Re-
gelung des Sexualbedürfnisses, sondern nur die
der Volksvermehrung, wozu freilich der Ge-
schlechtsakt gehört. Aber sonst hat sie mit dem
wirklichen Geschlechtsleben in seinem sozialen
und biologischen Sinne nichts zu tun. Die Mas-
sen der Bevölkerung interessieren sich auch
nicht im mindesten für die Fragen der Bevöl-
kerungspolitik, weil sie ihnen völlig egal sind.
Und der Abtreibungsparagraph interessiert nicht
aus bevölkerungspolitischen, sondern einfach
aus Gründen der persönlichen Not, die aus ihm
quillt. Soweit der Abtreibungsparagraph Not,
Tod und Kummer bereitet, ist er eine Frage der
allgemeinen Sozialpolitik. Sexualpolitisch wird
die Frage der Abtreibung erst und nur dann,
wenn ganz klar zum Ausdruck kommt, dass die
Menschen den Paragraphen übertreten, weil sie
geschlechtlich verkehren müssen, auch wenn sie
keine Kinder zeugen. Das fiel bisher völlig unter
den Tisch und ist doch seinem Gefühlsgehalt
nach und vom Standpunkt der Massenpropagan-
da der wichtigste Punkt der Frage. Wenn es
heute einem reaktionären Sozialpolitiker einfal-
len sollte, den Massen zu sagen: „Ihr beklagt
Euch, dass der Abtreibungsparagraph soviel
Opfer an Gesundheit und Menschenleben fordert,
ja, ihr müsst doch nicht geschlechtlich verkeh-
ren", dann wäre man mit seinem bisherigen
Latein, das nur die Bevölkerungspolitik berück-
sichtigte, zu Ende. Die Frage hat nur Sinn,
wenn man klar und offen für die Notwendigkeit
des befriedigenden Geschlechtsverkehrs eintritt.
Den Frauen und Männern aller Schichten, wie
249
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
sie heute sind, ginge die Betonung ihrer Bedürf-
nisse, die sie unausgesetzt beschäftigen, viel
naher als die Aufzählung der Toten, die der
Paragraph fordert. Das erste wendet sich an die
personlichsten Interessen, das zweite erfordert
bereits einen gewissen Grad von sozialem Ge-
wissen und Mitgefühl, das wir beim bürgerli-
chen Menschen nicht immer voraussetzen dür-
fen So wie man auf dem Gebiete der Nahrungs-
beschaffung das persönliche Bedürfnis und nicht
weiter abliegende soziale oder politische Tat-
bestande propagandistisch verwertet, so ist das
auch für das sexualpolitische Gebiet selbstver-
ständlich. Die Frage ist also eine Masscnfrage,
eine erstrangige Frage des gesellschaftlichen
Lebens.
( Ernster ist der Einwand, der von psychoanaly-
tischer Seite kommen könnte. Der Fachanalyti-
ker wird sagen, es sei völlig utopisch, mit dem
sexuellen Unglück der Menschen ebenso Politik
machen zu wollen wie mit der materiellen Aus
beutung, denn es brauche in der Einzelbehand-
lung Monate und Jahre mühseliger Arbeit um
die sexuelle Bedürftigkeit zum lewusstsein Tu
bringen, die moralischen Hemmungen wären
ebenso tief verankert wie das sexuelle Verlan-
gen und hätten meist im Bewusstsein die Ober-
hand. Wie könne man es unternehmen die
Sexualverdrängung der Massen zu überwinden
wenn kein der Einzelanalyse entsprechendes
Mittel zur Verfügung steht. Dieser Einwand ist
ernst zu nehmen und schwer zu erledigen. Hätte
ich mich durch derartige Einwände im Beginne
abhalten lassen die sexualpolitische Arbeit prak-
"scn aufzunehmen und Erfahrungen zu sam-
'
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
mein, dann hätte ich denen zustimmen müssen
die die Sexualpolitik als eine individualistische
Frage beiseiteschieben und auf einen zweiten
Jesus warten, der sie lösen soll. Von sehr
nahestehender Seite wurde mir einmal sogar ein-
fi e ^!?. , *• meine Versuch e würden nur eine ober-
flächliche Aufklärung bedeuten, die die tiefen
sexualverdrängenden Kräfte übersähe. Wenn ein
gut Orientierter einen derartigen Einwand
machen konnte, dann scheint die Schwierigkeit
genauer Erörterung wert. Ich hätte im Beginne
meiner Arbeit auch keine Antwort auf diese
Fragen gewusst. Die Praxis jedoch gab sie.
Zunächst ist festzuhalten, dass wir in der
sexualpolitischen Arbeit eine andere Aufgabe vor
uns haben als in der individuellen analytischen
Behandlung. Hier haben wir Verdrängungen zu
beseitigen und die psychische Gesundheit her-
zustellen. Das ist nicht die Aufgabe der Sexual-
politik, die einzig den Widerspruch und das
Leiden im bürgerlichen Menschen bewusst zu
machen hat. Dass man moralisch ist, weiss man ;
dass man eine Sexualität hat, die befriedigt
werden muss, ist entweder nicht bewusst oder
aoer das Wissen davon ist moralisch derart ge-
bremst, dass es sich nicht weiter auswirkt. Der
Analytiker könnte nun wieder einwenden, dass
ja auch zur Bewusstmachung der sexuellen An-
sprüche psychoanalytische individuelle Auf-
losungsarbeit gehört. Die Praxis antwortet dar-
auf: Wenn ich mit einer kleinbürgerlichen oder
christlichen Frau in meiner Sprechstunde über
ihre sexuellen Bedürfnisse sprechen werde, wird
sie mir ihren ganzen moralischen Apparat ent-
gegenstellen, ich werde nicht durchdringen und
251
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
ihr keine Überzeugung beibringen. Wenn aber
die gleiche Frau einer Afassenatmosphäre aus-
gesetzt ist, etwa einer sexualpolitischen Ver-
sammlung beiwohnt, in der offen und klar über
die sexuellen Bedürfnisse zunächst medizinisch,
dann auch politisch gesprochen wird, so fühlt
sie sich nicht allein, merkt sie, dass alle anderen
ebenso verbotene Dinge anhören; ihrem indivi-
duellen Überich bzw. ihrer moralischen Instanz
wird eine kollektive Atmosphäre der Sexual-
bejahung entgegengesetzt, eine neue Moral, die
deshalb ihre Sexualablehnung paralysieren
(nicht aufheben !) kann, weil sie selbst sicher im
geheimen ähnliche Gedanken und Wünsche hat,
weil sie selbst ihr verlorenes Lebensglück in
geheimen Gedanken betrauert oder sich nach
sexuellem Glück sehnt. Durch die Massensitua-
tion wird der sexuelle Anspruch gestärkt, er
erscheint sozial vollwertig, ja bei richtiger Auf-
rollung der Frage der Forderung der Askese
und Entsagung weit überlegen, menschlicher,
persönlichkeitsnäher, von selbst aufs tiefste
bejaht. Es geht also nicht darum zu helfen, son-
dern Unterdrücktheit bewusst zu machen! den
Kampf zwischen Sexualität und Moral ins Licht
des Bewusstseins zu rücken, ihn unter dem Druc-
ke einer Massenideologie zum Auflodern zu
bringen und in politische Aktion zu überführen.
Man könnte nun wieder sagen, dieser Versuch
sei teuflisch, denn man stürze dadurch die Men-
schen in schwere Nöte, mache sie erst richtig
krank, ohne ihnen helfen zu können. Wir den-
ken dabei an den prächtigen Ausspruch Pallen-
bergs in „Der brave Sünder": „Ein armes Luder
^t der Mensch; er weiss es nur nicht. Wüsste
252
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
er es, was wäre er für ein armes Luder!" Die
Antwort muss lauten: Das Kapital und seine
Kirche sind unendlich teuflischer. Im übrigen
gilt der gleiche Einwand im Grunde auch für
die Not des Hungers. Der indische Kuli, der un-
bewusst, sein Schicksal wie selbstverständlich
gottergeben tragend, dem Kapital dient, leidet
innerlich weniger als derjenige, der um die
grauenhafte Ordnung der Dinge weiss, der also
klassenbewusst sich gegen die Sklavenarbeit
empört. Wer würde fordern, dass man aus Grün-
den der Menschlichkeit dem Kuli die Wahrheit
über sein Leiden vorenthalten soll? Nur der
Kirchenvertreter, sein kapitalistischer Auftrag-
geber und der chinesische Professor für soziale
Hygiene. Diese „Menschlichkeit" ist Verewigung
der Unmenschlichkeit und ihre Verhüllung
gleichzeitig. Unsere „Unmenschlichkeit" ist der
Auftakt zum Kampfe für das, worüber die Guten
und Gerechten soviel schwätzen, um sich im Fal-
le einer faschistischen Reaktion sofort gleich-
schalten zu lassen. Wir geben also zu : Die wirk-
liche, konsequente sexualpolitische Arbeit macht
stummes Leiden laut, schafft neue und ver-
schärft vorhandene Widersprüche, bringt die
Menschen in die Lage, ihre Situation nicht mehr
ertragen zu können. Sie schafft aber gleichzeitig
eine Abfuhr: die Möglichkeit des politischen
Kampfes gegen die gesellschaftlichen Ursachen
des Leidens. Es ist richtig, die sexualpolitische
Arbeit greift an das heikelste, erregendste, per-
sönlichste Gebiet des menschlichen Lebens. Tut
dies nicht die mystische Verseuchung der Mas-
sen auch? Entscheidend ist doch, welchem Zweck
das eine und das andere dient. Wer einmal in
253
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
sexualpolitischen Versammlungen die brennen-
den Augen und Gesichter gesehen, wer die hun-
derte Fragen über allerpersönlichstes gehört hat
^1 >f T°u ten -- mUSSte> der hat auch die un-
erschütterliche Überzeugung gewonnen da««
hxer gesellschaftliches D^amit^egraben Hegt
vtrÄ WClt dGr SChier Unbe ^ reif * aren SclS:
Vernichtung sprengen helfen kann. Allerdings,
wenn diese Arbeit von Revolutionären der Art
geleistet werden sollte, die in der Beteuerung
und Vertretung der Sittlichkeit mit der Kirche
wetteifern, die eine sexuelle Fragebeantwortung
als der Erhabenheit der revolutionären Ideologie
unwürdig erachten, die die kindliche Onanie als
bürgerliche Erfindung abtun, wie manche Pio-
nierleiter es taten, kurz, die selbst in einer wich-
tigen Ecke ihres Seins trotz Leninismus und
Marxismus gut kleinbürgerlich moralisch sind
dann wäre leicht der Nachweis erbracht, dass
meine Erfahrungen nicht stimmen könnten
denn die Masse würde sofort sexualablehnend
reagieren. cna
Wir müssen noch eine Weile bei der Be
sprechung der Rolle des moralischen Widerstan"
des verharren, dem wir in unserer Arbeit begeg-
nen. Ich sagte, dass die individuellen morali-
schen Hemmungen, die sich heute im Gegensatz
zu den sexuellen Ansprüchen auf die gesamte
sexualverneinende Atmosphäre der bürgerlichen
Gesellschaft stützen, durch Schaffung einer ent
gegensetzten sexualbejahenden Ideologie soweit
ausser Wirkung gesetzt werden können, dass die
Menschen zur Aufnahme des sexualpolitischen
n^ g ^ amms des Kom munismus fähig werden
und dadurch dem Einfluss der Kirche und der
254
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
reaktionären Mächte entrückt werden können.
Es ist klar, dass eine derartige Atmosphäre der
Sexualbejahung nur von einer mächtigen inter-
nationalen sexualpolitischen Organisation ge-
schaffen werden kann. Es hatte bisher Schwie-
rigkeiten, die Führung der kommunistischen
Parteien zu überzeugen, dass dies eine ihrer
Hauptaufgaben wäre.
Bisher nannten wir nur die stillen und stum-
men Bedürfnisse der Massenindividuen, auf die
wir uns stützen können. Das würde nicht ge-
nügen. Um die Jahrhundertwende bis zum Krie-
ge waren diese Bedürfnisse und ihre Unter-
drückung ebenfalls vorhanden, trotzdem hätte
damals eine sexualpolitische Bewegung kaum
Aussicht auf Erfolg gehabt. Seither sind einige
objektive, gesellschaftliche Voraussetzungen für
die sexualpolitische Arbeit entstanden, die man
genau kennen muss, wenn man richtig ansetzen
will. Schon dass so viele sexualpolitische Ver-
bände verschiedener Form und Richtung in
Deutschland entstanden, weist darauf hin, dass
sich im gesellschaftlichen Prozess eine neue
Kampfesart vorbereitet. Eine der wichtigsten
objektiven Voraussetzungen der Sexualpolitik
ist, dass durch die Monopolisierung und Ver-
trustung des Kapitals, durch die Schaffung von
ungeheueren Grossbetrieben und mit ihnen von
Millionenarmeen an Angestellten und Beamten
die Gründpfeiler der moralischen antisexuellen
Atmosphäre, der Kleinbetrieb und die Familie,
erschüttert wurden. Die in die Betriebe streben-
den Frauen und Mädchen entwickelten freiere
Auffassungen über das Geschlechtsleben, als
ihnen das Elternhaus zugestand. War das in kol-
255
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
lektiver Weise arbeitende Proletariat von jeher
der Sexualbejahung zugänglicher, so begann der
moraliche Zersetzungsprozess mit der Monopo-
lisierung des Kapitals auch im Kleinbürgertum
um sich zu greifen. Wer die heutige kleinbür-
gerliche Jugend mit der von 1910 vergleicht,
wird ohne weiteres die Feststellung machen
können, dass heute die Kluft zwischen realem
Sexualleben und noch herrschender gesellschaft-
licher Ideologie breit und unüberbrückbar ge-
worden ist. Das Ideal des jungfräulichen Mäd-
chens ist zu einer Schande geworden, gewiss
das des jungfräulichen Mannes. Schon begannen
auch im Kleinbürgertum offenere Stellungnah-
men zur ehelichen Treue Platz zu greifen. Die
grossindustrielle Produktionsweise ermöglichte
den Widersprüchen der bürgerlichen Sexual-
ökonomie, an die Oberfläche zu kommen. An ein
Zurück zu dem alten Gleichklang von realem
Leben und Ideologie, wie er noch vor der Jahr-
hundertwende das Kleinbürgertum im grossen
und ganzen beherrschte, kann keine Rede sein
Als Analytiker gewinnt man tiefen Einblick in
die Geheimnisse des kleinbürgerlichen Daseins
und kann eine restlose Zersetzung der noch im-
mer laut vertretenen moralischen Lebensformen
feststellen. Die Kollektivisierung des jugend-
lichen Lebens hat nicht nur die einschränkende
Macht des Elternhauses untergraben, wenn auch
nicht beseitigt, sondern auch in der heutigen
Jugend eine Situation geschaffen, die nach Auf-
nahme einer Weltanschauung und politischen
Lehre vom Kampf um sexuelle Gesundheit, um
sexuelle Bewusstheit und Freiheit lechzt. Um
die Jahrhundertwende wären christliche Frauen,
256
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
die geburtenreglerischen Verbänden beitreten,
undenkbar gewesen; heute wird es immer mehr
zur Regel. Dieser Prozess wurde durch die
Machtergreifung der Nationalsozialisten in
Deutschland nicht unterbrochen, sondern nur ins
Unterirdische verwiesen. Fraglich bleibt nur,
wie sich der Prozess weiter gestalten wird, wenn
die faschistische Barbarei länger dauert, als wir
ohnedies befürchten.
Ein weiterer objektiver Umstand, der mit dem
früheren eng zusammenhängt, ist die rasche
Zunahme der neurotischen Erkrankungen als
Ausdruck gestörter Sexualökonomie und Stei-
gerung des Widerspruchs zwischen realen sexu-
alen Anforderungen und alter moralischer Hem-
mung und kindlicher Erziehungssituation. Die
Zunahme der Neurosen bedeutet Anwachsen der
Bereitschaft, auch die sexuelle Verursachung
der Neurosen zur Kenntnis zu nehmen.
Den praktisch sexualpolitisch schwerwiegend-
sten Tatbestand ergibt die Ohnmacht der politi-
schen Reaktion gegen die sexualpolitische Ar-
beit. Es ist bekannt, dass in den Volksbüchereien
die sexuelle Schundliteratur die meistgelesene
ist ein Masstab für die Bedeutung der Sexual-
politik, wenn es ihr gelingt, dieses ungeheuere
Interesse revolutionär zu lenken. Die National-
sozialisten können auf wirtschaftspolitischem
Gebiet die ungeschulten Massen lange Zeit täu-
schen, indem sie vorgeben, das Recht der Arbeit
und des Arbeiters zu vertreten. Anders auf
sexualpolitischem Gebiet. Niemals kann es der
politischen Reaktion gelingen, der revolutionä-
ren Sexualpolitik ein eigenes sexualpolitisches
Programm entgegenzusetzen, das anders wäre,
17 257
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
als restlose Unterdrückung und Verneinung des
Geschlechtslebens, was unverschleiert, laut als
Programm vertreten die Massen sofort abstossen
wurde, mit Ausnahme eines politisch bedeu-
tungslosen Kreises alter Frauen und hoffnungs-
loser, schwächlicher Spiesser. Auf die heutige
Jugend kommt es an! Und die, das ist gewiss,
ist einer bewusst sexualablehnenden Ideologie
nicht mehr zugänglich. Das ist unsere Stärke.
Wer zum Beispiel bedenkt, was eine weitere
Erschwerung des Vertriebs von Schutzmitteln,
wie sie kürzlich erfolgte, in einem Deutschland
1933 bedeutet, der erkennt, dass hier die revolu-
tionäre Arbeit zunächst weit leichteres Feld
hätte als auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Der
durchschnittliche, politisch ungeschulte Werk-
tätige ist schwer dazu zu bringen, besonders
wenn er unter reaktionärem Gefahrendruck
steht, eine wirtschaftspolitische Broschüre zu
lesen, während eine Sexualbroschüre sofort sein
Interesse wecken wird. Das gilt ganz besonders
für den kleinbürgerlichen Angestellten und den
verkleinbürgerlichten Arbeiter. In Deutschland
gelang es den roten Verbänden mit der Sexual-
pohtik in Betriebe einzudringen, die für das
Thema der roten Gewerkschaft völlig verschlos
sen waren, und zwar jahrelang. Es ist klar und
wurde auch in der Praxis selbstverständlich
geübt, dass die sexualpolitische Arbeit schliess-
lich in die allgemeinen gesellschaftlichen Fra-
gen des Klassenkampfes einmünden muss. Wir
müssen aber ein ungetrübtes Auge für Tatbe-
stände haben wie etwa den, dass nationalsoziali-
stische Arbeiter und Angestellte, ja auch Stu-
denten, der revolutionären Bejahung des Ge-
258
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
schlechtslebens restlos zustimmen und sich da-
durch in Widerspruch zu ihrer Führung setzen.
Und was könnte diese Führung dagegen tun,
wenn es gelänge, diesen Widerspruch ganz be-
wusst zu machen? Nichts als Terror üben. Sie
wurden in gleichem Masse an Einfluss verlieren.
Wir betonen noch einmal, dass die objektive
Lockerung der moralischen Fesseln der Sexuali-
tät unter keinen Umständen wieder rückgängig
zu machen ist und unsere stärkste Kraft dar-
stellt. Es gibt nur die Möglichkeit, wenn die
revolutionäre Arbeit dieses Gebiet nicht erfasst,
dass die Jugend eingeschränkt im geheimen
weiter so lebt, wie bisher, ohne sich der Ur-
sachen und Folgen dieses Lebens bewusst zu
sein. Die politische Reaktion hätte dagegen bei
konsequenter sexualpolitischer Arbeit keine
Antwort, keine Gegenideologie. Ihre asketische
Lehre ist nur so lange haltbar, als die Sexual-
bejahung in den Massen geheim, zersplittert,
nicht kollektiv erfasst und ihr entgegengesetzt
ist.
Der deutsche Faschismus versucht es derzeit
mit aller Macht, sich in den psychischen Struk-
turen zu verankern und legt daher das grösste
Oewicht auf die Erfassung der Jugend und der
Kinder. Er hat keine anderen Mittel zur Ver-
fugung, als Weckung und Pflege der Hörigkeit
zur Autorität, deren psychologische Grund-
voraussetzung die asketische, sexualverneinende
Erziehung ist. Die natürlichen sexuellen Stre-
bungen zum anderen Geschlecht, die von Kind-
heit an zur Befriedigung drängen, werden im
wesentlichen durch verstellte, abgelenkte homo-
sexuelle und sadistische Gefühle, teils auch
259
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
durch asketische Neigungen ersetzt. Das gilt
etwa für den sogenannten Kameradschaftsgeist
in den Arbeitsdienstlagern wie für die Einpflan-
zung des sogenannten Geistes von Zucht und
Gehorsam. Sie haben die Aufgabe, jede Brutali-
tät und am Ende die Entfesselung aller derart
erzeugten und gebremsten brutalen Regungen in
einem antisowjetistischen Kriege von denen
abzulenken, gegen die sich die durch die strenge
Erziehung in den Arbeitsdienstlagern erzeugten
Hassgefühle ursprünglich richteten. Die Fassade
heisst Kameradschaft, Ehre, freiwillige Diszi-
plin, die Kulisse birgt geheime Auflehnung,
Gedrücktheit bis zur Rebellion wegen der Be-
hinderung jedes persönlichen Lebens, im be-
sonderen des sexuellen. Eine konsequente Sexu-
alpolitik muss die grosse sexuelle Entbehrung
in den Arbeitsdienstlagern ins grellste Licht
rücken und wird dabei auf den lebhaftesten Wi-
derhall bei den jungen Menschen rechnen kön-
nen. Das Resultat beim faschistischen Führer
kann zunächst nichst anderes sein als Verblüf
fung und Ratlosigkeit. Es ist unschwer einzu-
sehen, dass einem durchschnittlichen Jungen die
Bewusstheit seiner sexuellen Entbehrung viel
leichter nahezubringen ist, als die, dass sein Ar-
beitsdienst letzten Endes den Kapitalisten zu-
gute kommt. Und die Praxis der Jugendarbeit
ergibt entgegen den Behauptungen solcher Ju-
gendführer, die es nie praktisch versuchten, dass
der durchschnittliche Jugendliche, inbesondere
der weibliche, seine Klassensituation viel ra-
scher, affektiver, bereitwilliger erfasst, wenn
roan sie ihm auf dem Wege der Bewusstmachung
seiner sexuellen Unterdrückung begreiflich
260
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
macht. Es kommt nur darauf an, die Sexualfrage
politisch zu fassen und zur allgemeinen sozialen
Situation hinzuführen. Für das soeben behaupte-
te lassen sich tausendfach Beweise anführen.
Durch öde Einwände soll man sich nicht ab-
schrecken, sondern einzig von der Praxis leiten
lassen.
Welche Antwort hätte die politische Reaktion
auf eine Anfrage deutscher Jugendlicher etwa
folgenden Inhalts?
„Die Einordnung der deutschen Jugend in den Ar-
beitsdienst hat in ihr privates und geschlechtliches
Leben mächtig eingegriffen. Dringende Fragen harren
der Klärung und Lösung da sich überall schwere, be-
drohliche Misstände ergeben haben. Erschwert wird die
Lage durch die allgemeine Scheu und Ängstlichkeit
der Jugendlichen, ihre persönlichen, brennenden Fra-
gen zur Diskussion zu stellen, wozu hinzukommt, dass
die Leitung der Lager jede Unterredung über solche
Fragen verbietet. Es geht aber um die körperliche und
seeliche Gesundheit der Jugendlichen!!!
Wie ist das Geschlechtsleben der Jugend in den
Arbeitsdienst-Lagern?
D *f A ^ejtsdienstjugend ist durchschnittlich im Al-
ter der blühenden Sexualität, die meisten von ihnen
waren vorher gewohnt, in einem Liebesverhältnis mit
einer Freundin ihr natürliches Liebesbedürfnis zu be-
friedigen. Das Geschlechtsleben dieser Jugend war
zwar schon vorher behindert durch Fehlen geeigneter
Möglichkeiten zu gesundem Liebesleben (Wohnungs-
not der Jugend), durch Mangel an Geldmitteln, sich
die Empfängnisverhütungsmittel zu beschaffen, durch
die Feindschaft der staatlichen Autorität und reak-
tionären Kreise gegen ein gesundes Liebesleben der
Jugend, wie es ihren Bedürfnissen entsprechen würde.
Durch den Arbeitsdienst hat sich diese schlimme Lage
noch verschlechtert!
Keine Möglichkeit mit Mädchen zusammenzukom-
261
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
men, die alten Liebesbeziehungen zu erhalten und zu
pflegen.
Zwang zu Enthaltsamkeit oder zur Selbstbefriedi-
gung.
Dadurch Verrohung und Verlotterung des erotischen
Lebens, Überwuchern der sexuellen Zote und schmut-
ziger sexueller Witze, Züchtung quälender, ungesun-
der zersetzender und den Willen und die Kraft läh-
mender Phantasievorstellungen (Vergewaltigung, lü-
sterne Gier, Schlagephantasien).
Nächtliche unfreiwillige Samenergüsse, die die Ge-
sundheit untergraben und keine Befriedigung geben.
Entwicklung homosexueller Neigungen und Bezie-
hungen zwischen Jungs, die sonst nie an derartiges
dachten; schwere Belästigung durch homosexuelle Ka-
meraden.
Zunahme von Nervosität, Reizbarkeit, körperlichen
Beschwerden und seelichen Störungen verschiedener
Art.
Drohende Folgen für die Zukunft.
Jeder Jugendliche gerade in dem Alter zwischen
etwa 17 und 25 Jahren, der kein befriedigendes Ge-
schlechtsleben führt, ist von einer künftigen Potenz-
störung und schwerer seelischer Verstimmung be-
droht, die auch immer eine Störung der Arbeitsfähig
keit mit sich bringen. Wenn ein Organ oder eine na
turhche Funktion lange Zeit nicht betätigt werden"
dann versagen sie später den Dienst. Nervöse und see-
lische Erkrankungen. Perversionen (Geschlechtsverir-
rungen) sind meist die Folgen.
Wie stellen wir uns zu den Massnahmen und Verord-
nungen unserer Führung in diesen Fragen?
Die Führung hat bisher in ganz allgemeinen Aus-
drücken die „sittliche Erstarkung der Jugend" gefor-
dert. Uns ist nicht klar geworden, was damit gemeint
ist. Die deutsche Jugend hatte sich im Laufe der Jah-
re unter schweren Kämpfen mit dem Elternhaus und
den Systembonzen ihr Recht auf ein gesundes Ge-
schlechtsleben allmählich zu erobern begonnen, ohne
"•eihch unter den gesellschaftlichen Bedingungen zum
=*we zu kommen. Aber ihre Idee war in breiten Krei-
262
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
sen klar: Die Jugend hat gegen sexuelles Muckertum
und sexuelle Schweinerei und Heuchelei, die Folgen
der sexuellen Unterjochung der Jugend, auf das
schärfste zu kämpfen. Ihre Idee war, dass Jungs und
Mädels in guter geistiger und sexueller Kamerad-
schaft zu leben haben; ihre Idee war, dass die Gesell-
schaft verpflichtet ist, ihnen ihr Leben zu ordnen und
zu erleichtern. Wie stellt sich das neue Reich dazu?
Seine bisherigen Verordnungen widersprechen den
Anschauungen der Jugend auf das schärfste. Die Her-
beischaffung von empfängnisverhütenden Mitteln ist
durch Verbot des offenen Vertriebs unmöglich ge-
worden. Die Massnahme der Hamburger Polizei gegen
die Wassersportler in sittlicher Hinsicht, die Drohung
mit Einlieferung ins Konzentrationslager für „Verlet-
zung der Sitte und des Anstands" bedroht unser Recht.
Ist es Verletzung des Anstandes, wenn ein Junge im
Zeltlager mit seiner Freundin schläft?
Wir fragen die Reichsleitung der deutschen Jugend:
Wie soll die Jugend geschlechtlich leben?
Es gibt nur vier Möglichkeiten:
1. Enthaltsamkeit; soll die Jugend enthaltsam leben,
das heisst sich jeder Art geschlechtlicher Betäti-
gung bis zur Ehe enthalten?
2. Selbstbefriedigung ; soll die Jugend sich selbst be-
friedigen?
3. Homosexuelle Befriedigung; soll die deutsche Ju-
gend sich gleichgeschlechtlich betätigen, wenn ja,
in welcher Form? Durch wechselseitige Onanie
oder durch Verkehr im After?
4. Natürliches Liebesleben und Geschlechtsverkehr
zwischen Jungs und Mädels; Soll die deutsche Ju-
gend das natürliche Geschlechtsleben bejahen und
fordern? Wenn ja:
Wo soll sich das Liebesleben abspielen (Woh-
nungsfrage) ?
Wie und womit soll die Empfängnis verhütet wer-
den?
Wann soll sich dieses Liebesleben abspielen?
Darf der Jugendliche das gleiche tun wie der Füh-
rer?"
Ähnliche Fragen betreffen die Kinderarbeit.
Es ist ungewohnt, manchem unbegreifbar, aber
263
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
als Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen:
Die revolutionäre Kinderarbeit kann im wesent-
lichen nur die sexualpolitische sein. Man meiste-
re sein Erstaunen und höre geduldig weiter.
Warum sind Kinder in der Vorpubertät am be-
sten und leichtesten mit Sexualfragen zu er-
fassen?
1. Das Kindesalter ist in allen Schichten, auch
beim Proletariat trotz Hunger und Entbehrung,
mehr als spätere Altersstufen von sexuellen In-
teressen erfüllt. Dazu kommt, dass Hungern bis
zur körperlichen Verwüstung nur einen — heute
sehr grossen — Teil der Kinder im Kapitalismus
trifft, die sexuelle Unterdrückung betrifft aber
ausnahmslos jedes Kind. Dadurch erweitert sich
die politische Angriffsfläche ganz ungeheuer.
2. Die üblichen Methoden der proletarischen
Bewegung, die Kinder zu organisieren, bedienen
sich der gleichen Methoden wie die bürgerliche
Kinderarbeit: Marschieren, Lieder singen, Uni-
formen, Gruppenspiele etc. Das Kind unter-
scheidet, wenn es nicht bereits äusserst klassen-
bewussten Eltern entstammt, was ja nur eine
Minderheit betrifft, nicht zwischen den Inhal-
ten der reaktionären und denen der revolutio-
nären Propagandaformen. Es bedeutet keine
Schmähung des Klassenbewusstseins, sondern
nur Erfüllung des ersten Gebots proletarischer
Politik, nämlich die Wirklichkeit nicht zu ver-
wischen,^ wenn wir behaupten, dass Kinder und
Jugendliche morgen ebenso freudig unter na-
tionalsozialistischen Klängen wie heute unter
proletarischen marschieren, wieder der geringe
Prozentsatz der bereits klassenbewussten Kinder
ausgenommen. Zudem kann heute im Kapitalis-
264
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
mus die politische Reaktion die Formen der
gruppenmässigen Propaganda bei den Kindern
ungleich besser gestalten als die Arbeiterbewe-
gung. Diese ist somit immer im Nachteil, was
sich in Deutschland darin ausdrückte, dass die
Pionierbewegung überall im Vergleich zur bür-
gerlichen Kinderbewegung äusserst schwach
war.
3. Wenn die bürgerliche Kinderbewegung
alles besser kann, eines kann sie nicht, unter
keinen Umständen: Nämlich den Kindern sexu-
elles Wissen, sexuelle Klarheit bringen, ihnen
die sexuelle Unterdrücktheit bewusst machen.
Das kann nur das Proletariat, erstens weil es
kein Interesse an der sexuellen Unterdrückung
der Kinder hat, vielmehr gerade das gegenteili-
ge, zweitens weil das proletarische Lager von
jeher der Anwalt der konsequenten sexuellen
Aufklärung der Kinder war. Diese mächtige
Waffe blieb bisher ungenützt, ja man begegnete
in Kreisen der Pionierführung in Deutschland
erheblichem Widerstand, die übliche individu-
elle Sexualaufklärung in eine Massenmassnahme
umzubauen. Tragikomischerweise beriefen sich
diese Gegner der sexualpolitischen Arbeit un-
ter Kindern bei der Weigerung, eine individu-
elle Aktion in eine Massenaktion umzuwandeln,
auf Marx und Lenin. Freilich von dieser
Sexualpolitik steht weder bei Marx noch bei
Lenin etwas drin. Demgegenüber steht die Tat-
sache, dass die Kinder den Machenschaften der
politischen Reaktion auch im Proletariat mas-
senhaft verfallen müssen, weil die Möglichkeit
einer massenmässigen Kinderorganisation im
Faschismus nicht besteht und weil Kinder in
265
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
der Vorpubertät nur ausnahmsweise wirtschafts-
politischer Propaganda Interesse entgegenbrin-
gen. Dagegen ergeben sich trotz grosser Schwie-
rigkeiten ungeahnte Möglichkeiten, Kinderar-
beit auf sexualpolitischer Basis zu entfalten,
weil wir hier bestimmt mit dem brennenden In-
teresse der Kinder rechnen können. Wenn ein-
mal die Kinder und Jugendlichen massenweise
mit ihren sexuellen Interessen erfasst wären,
dann wäre der reaktionären Verseuchung eine
mächtige Gegenkraft entgegengestellt — und
die politische Reaktion wäre machtlos.
Den Zweiflern, Widerstrebenden und sittlich
um die „Reinheit" der Klassenkämpfe Besorgten
können wir hier nur zwei Beispiele aus prakti-
chem Erleben anstelle von vielen entgegenhalten:
Erstens: Die Kirche ist nicht so wählerisch.
Ein 15-jähriger Junge, der aus einer christlichen
Organisation in den kommunistischen Jugendver-
band übergetreten war, berichtete, dass in seiner
früheren Organisation allwöchentlich der Prie-
ster die Jungen einzeln vorzunehmen und nach
ihrem sexuellen Verhalten auszufragen pflegte ;
regelmässig wurde gefragt, ob sie onaniert hät-
ten, was natürlich immer der Fall war und
schuldbewusst zugegeben wurde. „Das ist eine
grosse Sünde, mein Junge ; aber Du kannst Dich
ihrer entledigen, wenn Du für die Kirche fleis-
sig arbeitest und diese Flugblätter morgen ver-
teilst." So sieht unter anderem die sexualpoliti-
sche Praxis der politischen Reaktion aus. Wir
aber sind verschämt, „rein", wollen „mit solchen
Dingen" nichts zu tun haben. Und dann wun-
dern wir uns, wenn die Kirche über dreissigmal
soviel Jugendliche verfügt, wie wir, die wir von
266
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
„jugendgemässer politischer Arbeit unter der
Jugend" sprechen.
Zweitens: Die sexualpolitische Arbeitsgemein-
schaft in Berlin hatte einen ersten Anlauf unter-
nommen, es mit der sexualpolitischen Kinder-
arbeit zu versuchen, und zu diesem Zwecke eine
Erzählung kollektiv zusamengestellt, „Das Krei-
dedreieck, Verein zur Erforschung der Geheim-
nisse der Erwachsenen*'. Diese Schrift wurde vor
dem Druck zunächst mit Arbeiterfunktionären
durchbesprochen. Es wurde beschlossen, die Bro-
schüre in einer Fichte-Kindergruppe vorzulesen
und die Reaktion der Kinder abzuwarten. Man
hätte gewünscht, dass alle diejenigen, die bei der
Nennung der proletarischen Sexualpolitik ver-
ächtlich die Schulter zucken, wenn sie nicht mit
allen Mitteln diese Arbeit behindern, anwesend
gewesen wären. Zunächst waren, statt wie sonst
etwa zwanzig, ungefähr siebzig Kinder anwe-
send. Während nach den Berichten der Funktio-
näre sonst nur teilweise Aufmerksamkeit
herrschte, Ruhe schwer zu erzielen war, lausch-
te diesmal alles gespannt, die Augen glühten, die
Gesichter bildeten einen einzigen hellen Fleck
im Saale. An manchen Stellen wurde die Vorle-
sung mit heller Begeisterung unterbrochen. Am
Schlüsse wurden die Kinder aufgefordert, ihre
Wünsche und ihre Kritik vorzubringen. Viele
meldeten sich. Und man musste sich vor diesen
Kindern seiner Prüderie schämen. Die pädago-
gischen Bearbeiter der Erzählung hatten be-
schlossen, die Frage der Empfängnisverhütung
nicht einzubeziehen, ebenso die der kindlichen
Onanie wegzulassen. Prompt kamen Fragen:
„Warum sagt Ihr nichts darüber, wie man die
267
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
Erzeugung von Kindern verhütet?" „Das wissen
wir ohnedies", rief ein Junge lachend dazwi-
schen Was ist das, eine Nutte?" fragte ein drit-
ter^ „davon war in der Erzählung nicht die Re-
de. „Morgen gehen wir zu den Christlichen"
Sachet dl g T- Crt ' "*? r ,?, den immer von «**«
Buch? W^ m*** W1 f ' " Wann erscheint das
Buch? Wieviel wird es kosten? Wird es so billig
sein dass wir es kaufen und auch vertreiben kön-
nen? Der erste vorgelesene Teil enthielt vor-
wiegend sexuelle Aufklärung, politisch durch-
setzt, die Arbeitergruppe hatte jedoch die Ab-
sicht dem ersten Band einen zweiten anzufügen,
der den Kindern von diesen Fragen ausgehend
die Fragen der Ausbeutung und des Klassen-
kampfes naher schildern sollte. Das wurde mit-
geteilt. „Wann kommt der zweite Band ; wird er
auch so lustig sein?" Wann hat je eine Kinder-
gruppe derart stürmisch nach politischen Bro-
schüren gefragt? Sollten wir daraus nicht ler-
nen? Gewiss, wir müssen: Die Kinder müssen
durch Bejahung ihrer sexuellen Interessen und
Befriedigung ihrer Wissbegierde zu politischem
Interesse erzogen werden; sie müssen das uner-
schütterliche Gefühl bekommen, dass ihnen das
die politische Reaktion nicht geben kann. Und
man wird sie massenweise gewinnen, in allen
Ländern gegen die kirchlichen Einflüsse immu-
nisieren und — was das wichtigste ist — tief
gefühlsmässig an die revolutionäre Bewegung '
binden. Doch zunächst stehen zwischen dieser
Leistung und den Kindern nicht nur die politi-
sche Reaktion, sondern auch die „Moralischen"
im eigenen Lager.
Ein weiteres wichtiges Gebiet der sexualpoli-
268 r
Einwände und die Praxis der Sexualpolitik
tischen Arbeit ist die Klärung der sexuellen Si-
tuation, die sich aus der Zurückdrängung der
Frauen aus den Betrieben in die Hauswirtschaft
in Deutschland neu ergibt. Man kann diese Ar-
beit nur durch restlose Erfüllung des Begriffes
der Freiheit der Frau mit den Inhalten der se-
xuellen Freiheit leisten. Man muss wissen, dass
vielen Frauen die materielle Abhängigkeit vom
Manne in der Familie nicht an sich, sondern we-
sentlich wegen der sexuellen Einschränkung, die
mit ihr verbunden ist, lästig wird. Beweis dafür
ist, dass solche Frauen, die ihre Sexualität zur
glatten, anspruchslosen Verdrängung gebracht
haben, diese wirtschaftliche Abhängigkeit nicht
nur leicht und widerspruchslos ertragen, sondern
sogar bejahen. Die Weckung der sexuellen
Bewusstheit dieser Frauen, die nachdrücklichste
Warnung vor den Folgen eines eingeschränkten
sexuellen Lebens sind die wichtigsten Voraus-
setzungen für die politische Fruchtbarmachung
der materiellen Abhängigkeit vom Manne. Wenn
die sexualpolitischen Organisationen diese Arbeit
nicht leisten werden, dann wird die neuerliche
Welle der Sexualunterdrückung der Frau im
Faschismus ihr das Bewusstsein ihrer materiel-
len Versklavung vermauern. In Deutschland und
anderen hochindustriellen Ländern sind alle ob-
jektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen für
eine stürmische sexuelle Rebellion der Frauen
und Jugendlichen gegeben. Mit einer unerbitt-
lichen, konsequenten, vor nichts zurückschrec-
kenden Sexualpolitik auf diesem Gebiet würde
eine Frage aus der Welt verschwinden, die unse-
re Freidenker und Politiker immer wieder be-
schäftigt, ohne dass sie die Antwort wissen,
269
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
nämlich die unvergleichlich höhere Bereitschaft
der Frauen und Jugendlichen, sich der noHti
sehen Reaktion zuzuwenden, Kein anderes Ge
biet enthu 1t so deutlich die politische Funktion
berufener^ T* f* ? inwand > der mir von
Abseht u l der Lektüre dieses atzten
Abschn itts gemacht wurde und dessen Widerle-
ffcntÄ le ^ cht v 5 ällt - Er lautet: Es ist zwar
2m3L f e b - reiten Massen von d en Ge-
schlechtsfragen am intensivsten erfüllt sind, dass
ihr Interesse dafür brennend ist; aber W
d£. ^u^ n ? weiteres d er Schluss ziehen,
uass sich dieses Interesse auch politisieren lässt
im binne der sozialen Revolution, die soviel Ent-
sagung und Opfer fordert? Werden nicht die
sexualpohtisch erfassten Massen den Wechsel
auf die sexuelle Freiheit sofort einlösen wollen
nachdem man ihn ausgestellt hat? — Wir mii«'
sen, je schwieriger die Arbeit ist, umso gründli"
eher jeden Einwand anhören, überlegen und be
antworten. Wir müssen uns davor hüten, unseren
revolutionären Wunschphantasien zu verfallen"
und etwas in der Wirklichkeit für durchführ
bar zu halten, was nur „an sich" richtig ist über
den Ausgang des Kampfes gegen den Hunger
entscheidet nicht, dass man ihn brennend besei-
tigen wi 1, sondern ob die objektiven Vorausset
jungen dazu vorhanden sind. Lässt sich also das
se„"Tl C \ nter A eSSe r d die Sexuelle N ot der Mas-
gen Sf Ä f eb6n /° in P olitis£ he Aktion ge-
gen das notbedingende gesellschaftliche Systfm
Z70
Der unpolitische Mensch
überführen wie das grob materielle Interesse?
Wir haben die praktischen Erfahrungen ange-
führt und auch die theoretischen Überlegungen,
die dafür sprechen, dass, was in einzelnen Grup-
pen, in einzelnen Versammlungen gelingt, auch
massenmässig möglich sein muss. Wir unterlies-
sen es bisher nur, noch einige unerlässliche Vor-
aussetzungen zu nennen. Zur fruchtbaren Durch-
führung der Aufgabe, die Sexualpolitik dem
Klassenkampfe einzuordnen, gehört erstens die
rein politische Sammlung der Arbeiterbewegung
überhaupt ; ohne diese Voraussetzung kann die
sexualpolitische Arbeit zunächst nur eine vor-
bereitende sein; ferner gehört unerlässlich dazu
die Schaffung einer straffen internationalen se-
xualpolitischen Organisation, die die reale
Macht der Durchführung herstellt und sichert;
drittens gehört unerlässlich dazu eine Reihe
gründlichst geschulter Leiter der Bewegung. Im
übrigen empfiehlt es sich nicht, im voraus jede
Einzelfrage lösen zu wollen. Das würde verwir-
ren und lähmen. Aus der Praxis ergibt sich die
neue und detaillierte Praxis von selbst. Damit
sollte diese Schrift nicht belastet werden.
6. DER UNPOLITISCHE MENSCH
Wir kommen damit endlich zur Frage des so-
genannten unpolitischen Menschen. Hitler hat
seine Macht nicht nur von vornherein mit bis
dahin wesentlich weniger politisierten Massen
begründet, sondern auch seinen letzten Schritt
zum Siege im März 1933 durch Mobilisierung
von nicht weniger als 5 Millionen bisheriger
271
•»
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
NichtWähler, also Unpolitischer, legal durchge-
führt. Die Linksparteien hatten alle Anstrengun-
gen unternommen, die indifferenten Massen zu
gewinnen, ohne sich die Frage vorzulegen, was
das ist „indifferent- oder unpolitisch sein".
Wenn der Fabriks- und Grossgutsbesitzer poli-
tisch klar, und zwar rechts steht, so ist das aus
seinen unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen
ohne weiteres zu begreifen. Bei ihm würde po-
litische Linksorientiertheit seiner sozialen Situa-
tion widersprechen und wäre daher nur psycho-
logisch zu erklären, d. h. auf irrationale Motive
zurückzuführen. Wenn der Industriearbeiter po-
litisch links orientiert ist, so ist das ebenfalls
rational durchaus konsequent, quillt es aus sei-
ner ökonomischen und sozialen Position im Be-
trieb. Wenn aber Arbeiter oder Angestellte oder
Beamte politisch rechtsorientiert sind, so meist
aus politischer Unklarheit, das heisst aus einem
Unwissen über ihre soziale Position. Je unpoli-
tischer ein Mensch aus der grossen Masse der
Werktätigen ist, desto leichter wird er der Ideo-
logie der politischen Reaktion zugänglich sein.
Dieses Unpolitischsein ist nun nicht etwa, wie
man glaubt, ein passiver psychischer Zustand,
sondern ein höchst aktives Verhalten, eine Ab-
wehr des politischen Bewusstseins. Die analy-
tische Zerlegung dieser Abwehr des Politisch-
seins- und Denkens ergibt eindeutige Ergebnis-
se, die manche dunkle Frage des Verhaltens der
breiten unpolitischen Schichten löst. Beim
Durchschnitt der Intellektuellen, „die mit der
Politik nichts zu tun haben wollen", lassen sich
unmittelbare wirtschaftliche Interessen und
Ängste um ihre von der Meinung der Grossbour-
272
Der unpolitische Mensch
geoisie abhängig Existenz leicht nachweisen, de-
nen sie die groteskesten Opfer an Wissen und
Überzeugung bringen. Unter den Menschen, die
im Produktionsprozess an irgendeiner Stelle ste-
hen und trotzdem unpolitisch sind, lassen sich
analytisch zwei grosse Gruppen unterscheiden.
Bei den Vertretern der einen ist der Begriff der
Politik unbewusst assoziiert mit der Vorstellung
von Gewalt und leiblicher Gefahr, also mit einer
schweren Angst, die sie verhindert, sich der
Wirklichkeit entsprechend zu orientieren. Bei
den anderen, die wohl die Mehrzahl umfassen, be-
ruht das Unpolitischsein auf völligem Eingefan-
gensein in persönlichen Konflikten und Sorgen,
unter denen die sexuellen Sorgen die der Exi-
stenz nicht zu politischer Konsequenz ausreifen
lassen. Wenn eine jugendliche Angestellte, die
wirtschaftlich genügend Grund zu politischem
Bewusstsein hätte, unpolitisch ist, so in 99 von
100 Fällen wegen der sogenannten „Liebesge-
schichten", um ernster zu sprechen, wegen ihrer
restlosen Befangenheit in ihren sexuellen Kon-
flikten. Das gilt ganz in der gleichen Weise für
die unpolitische Kleinbürgerfrau, die alle seeli-
schen Kräfte aufbringen muss, um ihre sexuelle
Situation so weit zu meistern, dass sie nicht rest-
los zusammenklappt. Der Kommunismus mis-
verstand bisher diese Situation und versuchte
den unpolitischen Menschen dadurch zu politi-
sieren, dass er ihm nur seine wirtschaftlichen In-
teressen, die unerfüllt bleiben, zum Bewusstsein
zu bringen suchte. Die Praxis lehrte, dass die
Masse dieser Unpolitischen kaum zum Hinhören
zu bringen ist, sich aber leicht den mystischen
Phrasen eines Nationalsozialisten zuzuwenden
18
273
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
vermag, ohne dass dieser allzu viel über die wirt-
schaftlichen Interessen spricht. Wie erklärt sich
das? Daraus, dass die schweren sexuellen Kon-
flikte (im weitesten Sinne), gleichgültig ob be-
bewusst oder unbewusst, das rationale Denken
in der Richtung des durchaus rationalen Marxis-
mus hemmen, den Betreffenden unfähig und
ängstlich machen, ihn in seine seelischen Ein-
geweide verstricken. Begegnet er nun einem mit
den Mitteln der Gläubigkeit und Mystik, also
mit sexuellen, libidinösen Mitteln arbeitenden
Faschisten, so wendet er ihm seine Interessen
restlos zu, nicht weil ihm das nationalsozialisti-
sche Programm mehr imponiert als das kommu-
nistische, sondern weil er in der Hingabe an den
Führer und seine Ideologie eine momentane Ent-
lastung seiner ständigen inneren Spannung er-
fährt, weil er seinen Koflikt dadurch unbewusst
in eine andere Form bringen und dadurch lösen
kann; ja, das befähigt ihn gelegentlich im Fa-
chisten den Kommunisten, in Hitler den deut-
schen Lenin zu sehen. Man muss nicht Psycholo-
ge sein, um zu begreifen, warum einer sexuell
hoffnungslosen Kleinbürgerfrau, die nie an Poli-
tik dachte, oder einem kleinen Ladenmädel, das
den Weg zur schweren Klassenpolitik wegen in-
tellektueller, sexualkonfliktbedingter Insuffizi-
enz nicht finden konnte, die erotisch aufreizende
Form des Nationalsozialismus eine Art Befriedi-
gung, verstellte freilich, verschafft. Man muss
das Leben solcher 5 Milionen die Entscheidung
fällender, unpolitischer, kleinbürgerlicher Men-
schen kennen, wie es sich in der Kulisse abspielt,
um auch zu begreifen, welche Rolle das Privat-
leben, das heisst im wesentlichen das Ge-
274
Der unpolitische Mensch
schlechtsten, in der grossen lauten Politik lei-
se unterirdisch spielt. Es ist nicht statistisch zu
erfassen, wir sind auch nicht Verehrer der stati-
stischen Scheinexaktheit, die am wirklichen Le-
ben vorbeigeht, während Hitler mit seiner Nega-
Q°M t eT Statistik und durch Ausnützung der
Schlaken der sexuellen Misere die Macht ero-
oerte.
Der unpolitische Mensch ist der in Sexualkon-
fhkten absorbierte Mensch. Ihn durch Ausschal-
tung der Sexualität gewinnen zu wollen, wie das
bisher geschah, ist nicht nur hoffnungslos, son-
dern das sicherste Mittel, ihn der politischen Re-
aktion auszuliefern, die die Folgen seiner sexu-
ell-sozialen Lage glänzend ausnützt. Hier gibt
es nach einfacher Rechnung nur den anderen
Weg, sein Privat- und Geschlechtsleben zu poli-
tisieren. Ich hätte vor einer solchen Konsequenz,
so banal sie ist, selbst zurückgeschreckt, und
kann begreifen, wenn die zünftigen Wirtschafts-
und Staatspolitiker eine derartige Auffassung
tur die Ausgeburt eines trockenen, staatspoli-
2? u 5f rf ahrenen Schreibtischgelehrtenhirns
eine t Di ? n 1 ^ äre abe ' zu empfehlen, einmal
und *5* ual P°l>tische Versammlung zu besuchen
K?ü ! ui ZU uberze ugen, dass die überwiegende
Mehrzahl gewöhnlich solche Leute sind, die bis-
ner nie oder nur selten in eine politische Ver-
sammlung überhaupt, geschweige in eine kom-
munistische, gingen ; oder zur Kenntnis zu neh-
men, dass die sexualpolitischen Organisation
z. B. im Westen Deutschlands überwiegend unor-
ganisierte und unpolitische Menschen umfassten.
Und die Anmassung solcher Urteile lässt sich am
eindrucksvollsten an der Tatsache nachweisen,
275
Einige Fragen der sexualpolitischen Praxis
dass die internationale Organisation des Chri-
stentums seit Jahrtausenden in jedem kleinsten
Nest der Welt allwöchentlich zumindest ein-
mal eine eindrucksvolle sexualpolitische Ver-
sammlung in ihrem Sinne abhält, denn nichts
anderes sind die sonntäglichen Kirchenversamm-
lungen. Die Vernachlässigung oder gar Leugnung
dieser Tatbestände bedeutet heute, wo bereits
bestimmte Erfahrungen über sexualpolitische
Arbeit und Erkenntnisse über die Beziehungen
der Religion zur Sexualunterdrückung vorlie-
gen, eine unentschuldbare, vom Standpunkt der
proletarischen Bewegung gesehen reaktionäre
Stützung der Herrschaft des geistigen Mittelal-
ters und der wirtschaftlichen Ausbeutung. Wir
sind bereit, alles daran zu setzen, die proletari-
schen Wirtschafts- und Staatspolitiker zu über-
zeugen, dass hier notwendige Praxis vorliegt.
Wir sind ebenso entschlossen, wenn sie sich
nicht überzeugen lassen oder gar unsere Arbeit
organisatorisch hemmen wollten, sie mit ganz
den gleichen Mitteln zu bekämpfen wie Kirche
und politische Reaktion. Hoffen wir, dass die
meisten und gewichtigsten unter ihnen sich die
erforderliche Beweglichkeit des Anschauens der
Wirklichkeit bewahrt haben.
276
Fremdwörterverzeichnis
abstrahieren, vom Wirklichen, Einzelnen absehen
abstrakt, vom Wirklichen, Einzelnen entfernt
absurd, unsinnig
Affekt, unmittelbare Äusserung eines Gefühls
affizieren, beeinflussen
aggressiv, angriffslustig
akademisch, nach der Art der Universitätsprofessoren:
gründlich, aber lebensfern
anal, der Gesässgegend zugeordnet
Analyse, Untersuchung durch Auseinanderlegen
Anarchie, Herrschafts-, Planlosigkeit, Durcheinander
Annexion, polit. Aneignung (bes. v. Land)
animistisch, die Natur abergläubisch beseelend
asketisch, enthaltsam (vor allem sexuell)
Bachofen, schweizer Rechthistoriker, der aufgrund der
altgriechischen Geschichtsquellen die Mutter-
rechtstheorie (siehe dort) aufstellte; Hauptwerk:
„Das Mutterrecht" 1867
basieren, fussen, begründet sein
Bastardierung, Kreuzung verschiedener Rassen (oft
mit herabsetz. Sinn)
borniert, beschränkt
biologisch, von Biologie = Lehre vom Leben
Chauvinismus, leidenschaftlicher, engstirniger Natio-
nalismus
chronisch, dauernd, unausgesetzt, gewohnheitmässig
chtonisch, erdhaft (die Erde als Gott gedacht)
Coue, franz. Apotheker, Erfinder einer Heilmethode
(Coueismus); die Kranken müssen so lange sich
einreden, dass sie gesund werden, bis sie es wirk-
lich zu sein glauben; bei ernsthaften Leiden na-
türlich fruchtlos
Demagogie, Volksverführung
destillieren, (ehem. Fachausdruck, hier:) ausscheiden,
rein darstellen
destruktiv, zerstörend
277
/*
Fremdwörterverzeichnis
dialektischer Materialismus, im Gegensatz zum me-
chanischen Materialismus Lehre von der Entwick-
lung in Widersprüchen (Dialektik) aufgrund ma-
t tendier (siehe dort) Gegensätze
Differenzierung, Prozess des sich Unterscheidens
diffus, zerstreut
Dissozialität, Unfähigkeit sich in die Gesellschaft ein-
zuordnen
Dynamik, Kräfteverhältnis. Bewegungsverhältnis
dynamisch, kräftemässig, bewegungsmässig
elementar, ganz einfach, grundlegend
Emanation, Ausströmung
energetisch, kräftemässig
Ethnologie, Völkerkunde
exhibitionistisch, vom Drang beseelt, sich zu entblössen
Expansion, Ausbreitung
Expropriation der Expropriateure, Enteignung der
Ausbeuter
Extase, berauschtes Aussersichsein
feminin, weiblich
fixiert, vgl. Anm. S. 91
genital, die Geschlechtsorgane betreffend
Gens, Summe aller mütterlichen Blutsverwandten =
Clan
Hegemonie, Vorherrschaft
Hellenen, Griechen im Altertum
Hetäre, vornehme, sexuell freilebende Frau im alten
Griechenland
Hypothese, unbewiesene Annahme
idealistisch, die Materie als Abbild und Werk des Gei-
stes auffassend
Identifikation = Identifizierung, vergl. Anm. S. 75
Ideologie, Spiegelung der Wirklichkeit im Kopf des
Menschen; kann der Wirklichkeit entsprechen
oder nicht und ist stets mit einer gefühlsmässigen
Einstellung verbunden
illusinonär, aufgrund falscher Vorstellungen
imperialistisch, mit kriegerischen Anspruch auf frem-
des Gebiet zum Zweck kapitalistischer Ausbeutung
rS??*?*' unfäh ig zu genitaler (s. d.) Sexualität
Individuum, Einzelwesen, Einzelmensch
278
Fremdwörterverzeichnis
infantil, kindlich
Instanz, entscheidende Stelle
inscenieren, ins Werk setzen
irrational, unvernünftig, unbewusst gefühlsmässig
kardinal, hauptsächlich, grundsätzlich
klinisch, die Krankenheilung betreffend
Komintern, Kommunistische (III) Internationale
kollektivistisch, gemeinschaftlich
kondensiert, verdichtet
konservativ, das Bestehende erhaltend
konträr, entgegengesetzt
Konzeption, Aufbau, auch Empfängnis
Korrelation, Wechselverhältnis
Libido, Energie des Geschlechtstriebes
Logik, Lehre vom Denken und von den Begriffen, ab-
gesehen von der Wirklichkeit
Mänaden, wein- und liebesberauschte Frauen im alten
Griechenland
Masochismus, sexuelle Lust an Schmerz und Erniedri-
gung, Gegensatz: Sadismus
Massenindividuum, politisch wichtiger Menschentyp,
z. B. klassenbewusster Arbeiter, kleiner Angestell-
ter, christlicher Jugendlicher
materiell, wirklich, unabhängig vom Denken vorhanden
Matriarchat, vgl. Mutterrechtstheorie
Mechanik, Arbeitsweise (einer Maschine)
mechanisch, wie eine Maschine, starr
mechanistisch, nur das Mechanische berücksichtigend
Methaphysik, angebliche Lehre vom angeblich über-
natürlichen
Miniatur, ganz kleines Abbild
Monogamie, Einehe
Moralphilosophie, Wissenschaft vom sittlich richtigen
Verhalten
Mutterrechtstheorie, Lehre von der Ursprünglichkeit
der Erbfolge von der Mutter her (Matriarchat)
Mystik, angebliche Verbundenheit mit dem angeblich
Übernatürlichen
Mythus, religiöse Volksdichtung von Vergangenem
Narzissmus, Verliebtheit in sich selbst, triebhafte Ein-
stellung auf das eigene Ich
279
.• 1
Fremdwörterverzeichnis
Neurose, seelische Krankheit
Ökonomismus, angeblicher Marxismus, der ausser der
Wirtschaft nichts berücksichtigt
Orgasmus , Höhepunkt des sexuellen Erlebens, volks-
tumlich „Auslösung"
Patriarchat, vaterrechtliche Gesellschaft
Patrizier, Adelsklasse im alten Rom
Paupensierung, Verarmung
Phallus, männliches Glied
Phraseologie, System von Phrasen
Plebejer, Bürger- und Arbeiterklasse im alten Rom
Produktionskapazität, höchstes Mass der wirtschaftli-
chen Leistungsfähigkeit
Produktionsmittel, zur Produktion verwandte Sach-
werte (Maschinen, Gebäude, Boden)
Produktivkräfte, alle an der Produktion beteiligten
Kräfte (Technik, Wissenschaft, Naturkräfte, Ar-
beitskraft)
promiskue, vermischt, durcheinander
Psychologie, Lehre vom Seelenleben
Psychose, Geisteskrankheit
puberil, geschlechtsreif werdend
rational, zweckmässig, vernunftgemäss
Regression, Rückentwicklung
Repräsentanz, Darstellung
Reproduktion, Wiedererzeugung
restaurieren, wiederherstellen
Roosevelt-Plan, Plan des amerik. Präsidenten Roose-
velt im August 1933. durch staatl. Kontrolle der
Grossproduktion, Dollarentwertung, künstl. Lohn-
u. Preissteigerung, Arbeitszeitverkürzung die ame-
rik. Wirtschaft anzukurbeln
Sadismus, sexuelle Grausamkeit
sanktionieren, billigen
scholastisch, spitzfindig, lebensfern
Skepsis, Zweifel, Zweifelsucht
stereotyp, sich einförmig wiederholend, gleichmässig
Sublimation, soziale und geistige Umsetzung sexueller
Energie
Symbol, Sinnbild
280
Fremdwörterverzeichnis
Tellurismus, Erdgebundenheit, Niedrigkeit
Theismus, Gottglaube
Therapie, Heilbehandlung
vulgär, im schlechten Sinne volkstümlich, platt
Zadruga bosnische vaterrechtliche Grossfamilie, Wirt-
schaftseinheit
281
INHALT
Vorrede 5
I. KAPITEL
Die Ideologie als materielle Gewalt 13
1. Die Schere 13
2. Ökonomische und ideologische Struktur der
Gesellschaft 22
3. Die Fragestellung der Massenpsychologie ... 33
4. Die gesellschaftliche Funktion der Sexual-
unterdrückung 44
IL KAPITEL
Die Familienideologie in der Massenpsychologie
des Faschismus 56
1. Führer und Massenstruktur 56
2. Hitlers Herkunft 65
3. Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums 65
4. Familienbindung und nationales Empfinden... 77
5. Das nationalistische Selbstgefühl 97
6. Ideologische Verbürgerlichung des Prole-
tariats 103
III. KAPITEL
Die Rassetheorie 115
1. Ihr Inhalt 115
2. Objektive und subjektive Funktion der Ideo-
logie 121
3. Rassereinheit, Blutsvergiftung und nationali-
stischer Mystizismus 123
IV. KAPITEL
Ol'e Symbolik des Hakenkreuzes 147
282
■
INHALT
V. KAPITEL
Die sexualökonomischen Voraussetzungen der
bürgerlichen Familie 154
VI. KAPITEL
Die Kirche als internationale sexualpolitische Or-
ganisation des Kapitals 169
1. Das Interesse an der Kirche 169
2. Der Kampf gegen den Kulturbolschewismus 177
3. Der Appell an das religiöse Gefühl 188
4. Das Ziel des Kulturbolschewismus im Lichte
der Reaktion 195
VII. KAPITEL
Die Voraussetzungen der sexualpolitischen Praxis
im antireligiösen Kampf 201
1. Die Verankerung der Religion durch sexuelle
Angst 202
a. Verankerung in der Kindheit 203
b. Verankerung im Jugendalter 208
2. Gesundes und neurotisches Selbstgefühl 224
VIII. KAPITEL
Einige Fragen der sexual politischen Praxis 227
1. Theorie und Praxis 227
2. Der bisherige Kampf gegen die Religion 228
3. Sexuelle Bewusstheit contra Mystik 237
4. Die individuelle Entwurzelung des religiösen
Gefühls 240
5. Einwände und die Praxis der Sexualpolitik... 246
6. Der unpolitische Mensch 271
Fremdwörterverzeichnis 277
283
Früher erschien zur Sexual Ökonomie:
WILHELM REICH
DER EINBRUCH DER SEXUALMORAL
Kartoniert D. Kr. 6,35
Leinen „ „ 8,20
Zeitschrift für Sozial forschung:
„Reich ist einer der wenigen Autoren, die bei
der Anwendung der Psychoanalyse auf gesellschaftli-
che Probleme keine Umbiegung der Theorie ins Idea-
listische vornehmen und damit mehrere Schritte zu-
rück hinter die Ausgangsposition von Freud tun,
sondern die im Gegenteil, auf den Ergebnissen der
Freudschen Personalpsychologie und der Marxschen
Soziologie aufbauend zu neuen und fruchtbaren Er-
gebnisen für Soziologie und Psychologie kommen."
*
Völkerkunde, Kultur und Wirtschaftsgeschichte
Soziologie und Psychoanalyse werden sich mit diesem
Buch auseinandersetzen müssen. Es bestätigt an dem
Beispiel einer mutterrechtlichen Gesellschaft die völ-
kerkundlichen Forschungen von Morgan und Engels
und stellt den Zusammenhang zwischen ihnen und
den neuen Problemen der sexuellen Ökonomie her.
Hier wird der Nachweis dafür erbracht, dass die
Unterdrückung des kindlichen und jugendlichen Se-
xuallebens aus den ökonomischen Prozessen des auf-
keimenden Patriarchats abzuleiten ist. Seelische Er-
krankungen als soziologische Erscheinungen zu er-
klären, wird damit erstmalig ermöglicht. Die Frage,
welche Funktion der Sexualmoral im gesellschaftlichen
Prozess zukommt, wird scharf umrissen und im We-
sentlichen entschieden. Das Buch ist zugleich eine
Einführung in die sexualökonomische Forschung.
Verlag für Sexualpolitik
Kopenhagen — Prag — Zürich
Anschrift: Kopenhagen, Postbox 827
284
Früher erschien:
WILHELM REICH
DER SEXUELLE KAMPF DER JUGEND
Kartoniert D. Kr. 2,45
In Leinen „ „ 4,25
Völkischer Beobachter:
„Zerstörung der Sittengesetze durch Verführung der
Jugend. Ein krasses Beispiel für den Kampf auf die-
sem Gebiet stellt das kommunistische Buch von Dr.
Wilhelm Reich „Der Sexuelle Kampf der Jugend"
dar. Es ist der kommunistische Appell an die deut-
sche Jugend, sich gegen alle Sittengesetze aufzuleh-
nen, die nur eine Knechtung durch den Kapitalismus
seien. Es ist eine schamlose Verführung, die an die
niedrigsten Instinkte unreifer Menschenkinder sich
wendet und versucht, im Jugendlichen die Verpflich-
tung zu Sitte, Anstand, Selbstbeherrschung zu zer-
setzen."
Kritik einer Jugendbetriebszelle Charlottenburg :
„Ich habe mit einigen Jugendlichen gelesen. Sie
waren begeistert und sagten, dass solche Broschüre
bis jetzt immer fehlte. Inhaltlich ist alles knorke. Du
bist auf alles klar eingegangen, was uns beschäftigt.
Uns ist beim Lesen schon vieles an uns selber, was
wir nie richtig erklären konnten, klar geworden."
Neue Lehrerzeitung:
Während z. B. Hodann trotz klarer fachlicher Darle-
gungen in seinen Schriften seine Schwäche ganz deut-
lich offenbart, wenn es sich darum handelt, Wege zur
Lösung der sexuellen Frage aufzuzeigen, gibt Reich
eine gründliche Analyse der sozialen Wurzeln der
Sexualnot und zeigt, dass die sexuelle Befreiung nur
von einer Änderung des wirtschaftlichen und politi-
schen Fundaments der Gesellschaft erwartet werden
kann. Die Sprache des Buches ist volkstümlich, sodass
es besonders der proletarischen Jugend, für die : es
geschrieben ist, als Wegweiser dienen wird. Wir
empfehlen es aber darüber hinaus allen Lehrern und
Erziehern, die eine Einführung in die sexuelle^Frage
vom marxistischen Standpunkt aus wünschen.
Verlag für Sexualpolitik
Kopenhagen — Prag — Zürich
Anschrift: Kopenhagen, Postbox 827
285
Sexualpolitische Schriften:
Dr. med. ANNIE REICH
WENN DEIN KIND DICH FRAGT
Beispiele, Gespräche und Ratschläge zur
Sexualerziehung
Geheftet D. Kr. 0,35
Kartoniert „ „ 1,05
Berlin am Morgen:
„Sexualaufklärung als Teil der allgemeinen Aufklä-
rungsbewegung ist heute, wo ein Wolkenmeer finster-
ster Mystik den kulturellen Horizont verdunkelt, be-
deutsamer als je. Unausgesetzt denkt man bei der
Lektüre der Schrift Annie Reichs an die tiefen Worte
des Programms der III. Internationale: „Die neue
Kultur der zum ersten Mal geeinten Menschheit, die
alle Staatsgrenzen zerstört hat, wird — im Gegensatz
zum Kapitalismus — auf klaren und durchsichtigen
Beziehungen der Menschen zueinander beruhen." Die-
ser neuen Kultur im Sexualgebiet einen Weg geebnet
zu haben, ist Annie Reichs kulturpolitische Tat."
DAS KREIDEDREIECK
Verein zur Erforschung der Geheimnisse der
Erwachsenen.
Geh. D. Kr. 1,70
Eine lustige Kindererzählung, in enger Zusammen-
arbeit mit proletarischen berliner Kindern entstanden,
die auf neue Art die alte Frage „Wie sage ichs
meinem Kinde?" löst.
Verlag für Sexualpolitik
Kopenhagen — Prag — Zürich
Anschrift: Kopenhagen, Postbox 827
286
V
Sexualpolitische Schriften:
WILHELM REICH
SEXUALERREGUNG
UND SEXUALBEFRIEDIGUNG
IV. Aufl. Geheftet RM —,80
Aus dem Inhalt:
Sexualnot und bürgerliche Sexualmoral — Die ge-
schlechtliche Erregung — Empfängnisverhütung —
Der Geschlechtsakt — Fünfzig Fragen und Antwor-
ten über Onanie, Geschlechtsverkehr der Jugend, Im-
potenz und Frigidität, Geschlechtsverkehr und Askese,
Homosexualität.
Kulturv/ille Leipzig:
„Die Schrift von Reich ist ganz ausgezeichnet. Auf
knappstem Raum werden Probleme aufgerissen und,
soweit das möglich, gelöst. Zahlreiche Fragen und
Antworten aus der Wiener Beratungsstelle sind an-
gefügt."
Der sozialistische Arzt:
„Dieses Heft zeichnet sich vor anderen seiner Art
dadurch aus, dass es die Fragen der Sexualität in
enge und richtig gesehene Verbindung mit der herr-
schenden Gesellschaftsordnung bringt."
WILHELM REICH
GESCHLECHTSREIFE f ENTHALTSAMKEIT,
EHEMORAL
Eine Kritik der bürgerlichen Sexualreform
Leipziger Volkszeitung:
„Auf seinen etwa 180 Seiten steht mehr als sonst
in ganzen Wörterbüchern der Sexualwissenschaft und
der Soziologie. Auf knappere und treffendere Formeln
lässt sich beim gegenwärtigen Stande unserer sozio-
logischen und psychoanalytischen Einsichten kaum
eine Kritik bringen. Noch nie wurden die Zusammen-
hänge zwischen bürgerlicher Ideologie und kapitali-
stischer Klassengesellschaft in ihrer Verflochtenheit
mit der Sexualverfassung so treffend enthüllt."
Münster — Verlag
(Dr. Arnold Deutsch)
Wien II
287
: ]
Von Wilhelm Reich erschienen ferner an theoretischen
Arbeiten zur Psychoanalyse und Sexualökonomie:
CHARAKTERANALYSE
Technik und Grundlagen
Für studierende und praktizierende Analytiker
1933
-
*
DIE FUNKTION DES ORGASMUS
1927
*
DER TRIEBHAFTE CHARAKTER
1925
*
Zu beziehen durch den
Internationalen Psychoanalytischen Verlag Wien I
DIALEKTISCHER MATERIALISMUS
UND PSYCHOANALYSE
In: „Unter dem Banner des Marxismus", Moskau 1929
288
i
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